Man kennt sich
Er hat sich verändert, fällt Berger sofort auf, er hat sich zum Schlechten hin verändert. „Verdammt, was hast du mit deinem Gesicht gemacht?“ Sein Gegenüber blickt zu Boden. Berger sieht in das eingefallene, zerschnittene Gesicht des jungen Mannes, sieht das Lächeln – ein Lächeln wie bei einem allerersten Date.
Sie kennen sich vom Schulhof. Es sind die Bilder eines bestimmten Morgens, die ihm, wie er so vor diesem jungen Mann auf der Brücke steht, unweigerlich ins Gedächtnis kommen: Der junge Mann schlägt sich immer und immer wieder mit einer Erfrischungsgetränkeflasche auf den Kopf.
„Scheiße, was hast du nur mit deinem Gesicht gemacht?“
Niemand schritt ein, aber auch wirklich niemand hielt den jungen Mann davon ab, sich auf dem Schulhof selbst zu geißeln. Als er, bereits blutig geschlagen, zu Boden sank, kamen endlich Lehrer auf ihn zu, halfen ihm auf die Beine, trugen ihn ins Foyer – begleitet von einem lärmenden Schülertross.
„Lass mal sehen.“ Der junge Mann fährt zurück. „Nein, ich möchte das nicht, bitte.“ Und Berger lässt von ihm ab. Der junge Mann stand vor dem Spiegel, denkt er, der junge Mann stand vor dem Spiegel und dachte sich: Wie sehr ich mich doch verabscheue.
„Lass uns was trinken gehen“, der junge Mann hebt die Schultern, „komm schon, lass uns irgendwo was trinken gehen.“ Er nimmt seine Hand und zieht ihn an den Marionettenfiguren vorbei in die Altstadt.
Immer wieder hörte man die absonderlichsten Geschichten über ihn. Man erzählte sich, dass dieser nun junge Mann einmal Zitronenlutschbonbons auf seinem flachen Kassettenrekorder liegen ließ. Sie klebten fest. Er dachte nicht an die einfallenden Sonnenstrahlen. Man erzählte sich auch, dass er ein Problemkind gewesen sei. Er stand oft weinend an seinem Fenster, trauerte einem abreisenden Besuch nach. Abschied nehmen im Allgemeinen, so sagte man sich, sei für den nun jungen Mann seit jeher eine Qual gewesen. So soll er einmal versucht haben, die lieb gewonnene Lucky-Luke-Tapete in seinem Kinderzimmer vor dem Auswechseln zu bewahren. Er hatte wenig Erfolg, wie so oft, und irgendwann war es dann doch soweit: Luke became finally unlucky.
Der junge Mann lächelt den Kellner, als dieser ihm den Kaffee vorsetzt. Dann fügt er dem Gebräu Milch und Zucker bei, versucht, einen Mittelfinger aus Zucker auf das Tischtuch zu zeichnen, rührt schließlich die Zutaten unter und nippt. Dabei neigt er den Kopf zur Seite und eine Strähne fällt ihm ins Gesicht, und Berger weiß jetzt wieder, warum der junge Mann auch als schöner junger Mann galt.
„Eigentlich bin ich ein durch und durch unglücklicher Mensch.“ Berger nickt. „Was macht dich so unglücklich?“ Der junge Mann schweigt, blickt in das hellbräunliche Nass, so als ob dort der Weisheit letzter Schluss zu finden sei. Dann sagt er: „Kann ich deinen Keks haben?“ Er nimmt ihn sich einfach. Er versucht, die Keksverpackung aufzureißen. „Gib doch her.“ Berger nimmt die Verpackung und öffnet sie an der Stelle, wo geschrieben steht: Hier bitte öffnen, schiebt den Keks heraus und hält ihn dem schönen jungen Mann hin, der aus seiner Hand ein Stück davon abbeißt. Den Rest legt er ihm auf die Untertasse.
Man erzählte sich auch, dass der junge Mann nach und nach ein widerspenstiger junger Mann geworden sei. Das habe ihn so absonderlich gemacht, das habe ihn wohl an den „Rand der Gesellschaft katapultiert“. Habe man den jungen Mann gefragt, was er von einer Sache halte, so habe er immer geantwortet: Ich weiß es nicht. Habe man den nun jungen und nach wie vor schönen Mann überzeugen wollen, bei einer Gruppe dabeizustehen, so habe er sich einfach nicht mit den „Anderen“ abgeben wollen.
Der junge Mann kaut noch immer an seinem Keks. Wenn der junge Mann könnte, dann würde er bestimmt allen Schmerz auf sich laden, um die Sterbenskranken dieser Welt vor dem Tode zu bewahren.
„Eigentlich bin ich ja unglücklich, eigentlich bin ich ja unglücklich, trotz allem.“ Der junge Mann grinst. Der junge Mann lacht plötzlich laut auf. Der junge Mann verstummt schließlich.
Berger erinnert sich auch an die vielen blöden Geschichten, die man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Die Sache mit der Glasmurmel beispielsweise. Die er damals in der Schule neben Simones Bank hat kullern lassen. Wahrscheinlich um Simone auf sich aufmerksam zu machen. Dumm nur, dass Simone ausrutschte und sie sich den Mittelhandknochen und das Nasenbein brach. Oder die Sache mit dem anfänglichen Dabeiseinwollen. Als er den Mädchen beim Gummihüpfen zusah, sie ihn aber nicht dulden wollten dabei. Der junge Mann, nun, schnitt das Gummiband einfach durch und lief schnell davon. In den darauf folgenden Tagen versteckte er sich, aus Angst vor Ärger, die ganzen Vormittage über in einem Gebüsch, das zwischen Zuhause und Schule lag.
Berger lächelt.
„Möchtest du noch etwas trinken?“ der junge Mann schüttelt den Kopf, lächelt selbstgefällig, so als wisse er immer noch mehr als die anderen. „Nein?“
Einmal besuchte er den jungen Mann zuhause. Er weiß jetzt gar nicht mehr, warum. Er interessierte ihn einfach. Seine Mutter empfing ihn. Er sei nicht da, sagte sie, aber er könne solange in seinem Kinderzimmer auf ihn warten. So stand er also in diesem Kinderzimmer. Ein Kinderzimmer wie jedes andere, dachte er. Die hastig zurückgeworfene Bettdecke, die Lucky-Luke-Tapete, unzählige Hörspielkassetten, Bücher mit vollgeschrieben Notizzetteln auf dem Boden...Wieso kam er in sein Haus? Er wusste gar nicht, warum. Es gab für sein Kommen keine Erklärung. Der junge Mann interessierte ihn? Er hatte ihn nicht zu interessieren. Er wartete nicht länger und schlich aus dem Haus.
Er ist froh, dass der junge Mann mit ihm hier in diesem Café sitzt. Sie reden kaum miteinander, so glaubt er doch, der junge Mann würde diese Zweisamkeit irgendwie genießen. Es scheint ihm, als sei er sehr viel alleine gewesen die letzte Zeit, so abgekämpft und kaputt wie er aussieht. Er nimmt den halben Keks von der Untertasse. Der junge Mann möchte aber gerade nicht so recht.
Nach der Sache mit dem Gebüsch wurde der junge Mann kaum noch auffällig, und er schien niemanden mehr zu interessieren. Bis er sich an jenem Morgen mit der Glasflasche auf den Kopf schlug. Wenige Wochen später, kurz vor dem Abitur, verschwand er.
Sie sitzen eine ganze Weile so in diesem Café in der Altstadt, schweigend, hin und wieder sich anlächelnd, und Berger denkt: All diese unscheinbaren Dinge – die festgeklebten Zitronenlutschbonbons, die Lucky-Luke-Tapete, die Glasmurmelgeschichte, die Sache mit dem Gebüsch zwischen Zuhause und Schule – sind ja so wahnsinnig, sind doch tatsächlich ungeheure Vorboten gewesen. Dieser Mensch hier ihm gegenüber braucht doch augenscheinlich Hilfe.
Schaut er dem jungen Mann ins Gesicht, dann schaut dieser schnell weg. Blickt er auf das Tischtuch, dann mustert der junge Mann ihn. Jetzt fährt der junge Mann sich durch das Haar. „Ich muss jetzt.“
Er wird erst einmal nicht mehr von ihm ablassen. Er kann sich nicht abermals seiner Verantwortung entziehen. Das wäre ja fatal, murmelt er. Doch soweit darf man es nicht kommen lassen. „Ich gehe dann mal.“ – „Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen, ja?“
Der junge Mann steht auf, greift die Jacke, sagt noch: „Ich habe mir immer gewünscht, wir könnten gut Freund miteinander sein“, und geht.
Er muss ihm folgen, er muss dem jungen Mann folgen.
Berger sieht nach unten auf den Alten Markt und kann dort den schönen jungen Mann im Getümmel ausmachen. Ein Kind und eine Frau stehen beim jungen Mann. Sie haken sich beim Mann mit ein. Dann verschwinden die drei und schon bald kann er dieser Familie nicht mehr folgen.