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Mama
Dampfend fließt das heiße Wasser in meine Tasse, umspült den Teebeutel, den ich schon hineingehängt habe. Gedankenverloren setze ich mich an den Küchentisch. Schließe die Hände um das heiße Gefäß.
Ich denke, ich müsste mich verbrennen. Doch ich spüre nur eine dumpfe Wärme. Überhaupt ist alles stumpf. Stumpf und dunkel und… Ich weiß nicht, traurig? Ja, ich denke traurig. Will ich weinen? Oder will ich stark sein?
Ich öffne meinen Laptop. Schon so lange möchte ich wieder schreiben. Ich hatte mal Talent. Mir fiel immer etwas ein. Ich wollte die jüngste Autorin Deutschlands werden, wollte Liebesromane schreiben. Jetzt bin ich siebzehn. Ich denke, ich bin noch sehr jung. Aber ich fühle mich nicht jung. Ich habe das Gefühl so viel Last auf meinen Schultern zu tragen, dass ich früher oder später falle. Der Bildschirm strahlt mich hell an. Das künstliche Licht schmerzt in meinen Augen.
Ich will seufzen, doch selbst dazu fehlt mir die Kraft.
Nein, so sehr ich auch will, ich kann nicht. Ich kann nicht schreiben, ich kann nicht denken. Ich kann überhaupt nichts. Nicht jetzt. Den ganzen Tag musste ich stark sein. Die ganze Woche musste ich stark sein. Ich bin so müde, habe so wenig geschlafen, wache nachts ständig auf und lausche mit angehaltenem Atem.
Auch jetzt lausche ich. Ein leises und schwaches Stöhnen dringt in die Küche. Es ist eher ein etwas lautes Ausatmen.
Aufhorchend starre ich ins Wohnzimmer, dass an die Küche angeschlossen ist, und mit dieser einen Raum bildet. Der Umriss auf der Couch bewegt sich jedoch nicht. Sie schläft also. Gut. Elf Jahre. Elf Jahre kämpft Mama nun schon. Sie ist so stark, so tapfer. Sie war so stark. Jetzt ist sie nur noch eine Hülle, bestehend aus Schmerz.
Ich bin nicht wütend, nur traurig. Traurig über unsere gestohlene Zeit. Sie wird nie meine Kinder kennenlernen, oder sich mit mir über meinen achtzehnten Geburtstag freuen. Und wie soll ich traurig einen Liebesroman schreiben?
Vor drei Jahren wurde es schlechter. Ich dachte immer, dass die ganze Scheiße bei meiner Mutter anders läuft. Wieso auf einmal? Acht Jahre lang war doch alles gut! Sie war wie jede andere Frau. Sie hat viel gearbeitet, war aber dennoch immer für mich da. Auch wenn wir viel gestritten haben. Jetzt streiten wir nicht mehr.
Ein ersticktes Lachen dringt aus meiner Kehle. Kurz bin ich überrascht, dann ist es mir egal. Was würde ich für einen Streit geben… Einen, bei dem sie mich laut anschreit. Einen, bei dem wir uns wie immer danach in den Arm nehmen und eingestehen, wie blöd wir sind.
Und was würde ich für ihr Lachen geben. So laut… und kraftvoll, wie die rote Farbe, die ihre Haare sogar jetzt noch haben.
Energisch klappe ich den Laptop zu. Das hat keinen Sinn. Ich sollte meinen Tee trinken und ins Bett gehen. Die ganze Woche habe ich kaum Schlaf bekommen. Mamas Pflege bedarf viel, aber es ist gut. Es gibt meinem Tun wenigsten einen Sinn. Außerdem sollte ich mich nicht beschweren. Was macht Papa wohl durch? Ein Geschäft zu führen, bei dem man zwölf Stunden am Tag anwesend ist, gleichzeitig für zwei Kinder da sein und irgendwie Schlaf zu bekommen, während man sich um seine krebskranke Frau sorgt und kümmert, stelle ich mir hart vor. Ich helfe ihm so gut ich kann. Ich unterdrücke am Tag die Tränen.
Überhaupt unterdrücke ich diese oft. Irgendjemand muss doch positive Energie verbreiten, oder? Anfangs wollte ich Allen Hoffnung machen. Ich habe fest daran geglaubt, dass Mama sich wieder hoch rafft. Wie so oft. Mittlerweile weiß auch ich, dass keine Hoffnung mehr besteht.
Ich trinke den letzten Schluck Tee und stelle die Tasse in die Spüle. Leise nähere ich mich dem Sofa. Wecken kann ich Mama nicht; das Morphium hat sie weggehauen, aber Papa ist eingeschlafen. Ich setzte mich zwischen die beiden. Zitternd ziehe ich die Beine an; umschlinge sie mit meinen Armen. Ich sollte positiv denken. Immerhin hat Mama heute auf mich reagiert. Ich habe ihr gesagt sie soll meine Hand zweimal für „Ich liebe Dich“, drücken. Schwach, aber dennoch wahrnehmbar hat sie dies getan. Lächelnd lege ich meinen Kopf auf meinem Arm ab. Ich habe vielleicht keine Kraft mehr, um zu schreiben. Und ja, das Loch, das mich zu verschlingen droht, ist groß… Aber ich liebe meine Mutter einfach so unendlich, dass ich es ihr schulde weiterzumachen.