- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Mama und Marie
Aus dem Radio dringt irgendein widerlicher Popsong. Mir ist kotzübel. Sie dreht die Lautstärke auf. Lässt das Lenkrad los und wippt hin und her zur Musik, während sie den eingängigen, nichtssagenden Refrain mitsingt. Wie kann sie nur? Ich balle meine Fäuste. Am liebsten würde ich sie beschimpfen und anschreien.
Dann ein Gitarrensolo. Sie reißt die Hände hoch wie ein pubertäres Mädchen bei seinem ersten Diskobesuch.
„Schau bitte auf die Straße, Mama“, sage ich so ruhig ich kann.
Sie lacht und legt die Hände wieder auf das Lenkrad, wippt aber weiterhin im Takt der Musik nach links und rechts. Ich stelle mir vor, wie meine Faust auf ihre Nase kracht.
„Hab ich dich zu so einer Spießerin erzogen, Elisa?“, kichert sie. „Du bist gerade zwanzig und führst dich auf wie eine alte Omi.“
„Wie kannst du nur so sein?“, bricht es aus mir hervor.
Sie sieht mich unverwandt an und stellt das Radio leiser. Dann strahlt sie. Ich weiß ganz genau, was sie jetzt sagen wird.
„Es hilft doch nichts, sich zu grämen“, sagt sie. „Man macht das Unglück nur größer, wenn man es in sein Herz hineinlässt.“
Unglück. So nennt sie das also. Mein Bauch fühlt sich an, als liege eine glühende Bowlingkugel darin. Wie gerne würde ich auf sie einschlagen. Ich zwinge mich, nicht zu schreien. Das hat bei ihr noch nie geholfen.
„Sie ist deine Tochter“, versuche ich möglichst sachlich festzustellen, doch in meinem Unterton liegt ein verzweifeltes Flehen.
„Weiß ich doch, meine Liebe. Aber sie ist doch wohlauf, haben die Ärzte gesagt. Der Unfall wäre sowieso nicht tödlich gewesen, meinten die. Alles ist gut. Marie packt das schon. Jetzt holen wir sie ab und heut Abend können wir ja alle drei ein Eis essen gehen! Was sagst du?“
Ich sage nichts.
Da war das Wort schon wieder. Unfall. Sie hat es vorher schon benutzt, zu Hause nach dem Anruf. Ich habe gehofft, mich verhört zu haben. Aber nein, sie nennt es tatsächlich einen Unfall. Ich will ihr an den Hals springen, so lange zudrücken, bis sie blau anläuft, so lange, bis sie keuchend nach Luft japst, so lange, bis sie nicht mehr die Augen verschließt, vor dem was passiert.
Um mich zu beruhigen, rufe ich mir wie immer den letzten Augenblick ins Gedächtnis, bevor sie so wurde, wie sie ist: Vor zwei Jahren, als sie hinunter zum Frühstück kam. Marie und ich saßen am Küchentisch. Sie zitterte unkontrolliert am ganzen Körper, Tränen liefen über ihre Wangen, sie schluchzte. Papa ist nicht aufgewacht. Erst Minuten später sollte ich verstanden haben, was das bedeutete.
Am nächsten Tag schien alles wie fortgewischt. Nie sprachen wir darüber. Nie wieder sah ich sie weinen. Nie wieder sah ich sie traurig. Nie wieder konnte ich sie leiden.
Marie und ich versuchten alles, doch je ernster wir wurden, desto alberner und lustiger wurde sie. Wir versuchten es mit Gesprächen, Psychiatern, Therapeuten, doch sie ließ sich nicht darauf ein. Irgendwann gaben wir es auf und ich dachte, vielleicht brauchte sie nur Zeit. Doch ich übersah, dass nicht nur sie sich verändert hatte.
Marie liegt bereits nicht mehr auf der Intensivstation, aber die Ärzte behalten sie dennoch im Blick. Wir sollen sie nicht aufregen, meint ein Pfleger. Er kann ja nicht wissen, dass das unmöglich ist.
Als wir eintreten, herrscht bedrücktes Schweigen. Das andere Bett in ihrem Zimmer ist leer, die Luft stickig und verbraucht.
Marie blickt kurz zu uns hinüber, dann wendet sie sich ab und starrt teilnahmslos zum Fenster hinaus. Sie sieht noch schlimmer aus als sonst. In meinem Hals schwillt ein Kloß an, ich bekomme kaum Luft.
Eigentlich ist sie nur eineinhalb Jahre älter als ich, doch sie wirkt wie um Jahrzehnte gealtert. Ihre Augenringe sind noch tiefer und dunkler, als sie es in letzter Zeit eh schon waren. Ihr Blick leer und müde. Sie kommt mir sogar noch dürrer als gestern vor. Ihre dunklen Haare sind strohig und zerzaust. Beide Unterarme sind in dicken Verband gewickelt, vom Handgelenk bis zur Armbeuge. Wie es darunter wohl aussieht?
Ich muss irgendwas sagen. Schnell. Sonst wird Mama anfangen zu reden.
Mein Blick fällt auf das Tablett auf dem Nachtkästchen. Auf dem Teller sind noch Reste. Reis und irgendein Fleisch, das sie kaum angerührt hat.
„Scheinbar gibt es doch schlechtere Köche als mich auf dieser Welt“, versuche ich scherzhaft.
Marie dreht sich zu uns, nur meinetwegen, bin ich mir sicher. Für einen winzigen Moment hoffe ich ein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. Ein Lächeln, wie ich es seit zwei Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie antwortet nicht.
Was habe ich mir auch erhofft? Sie spricht nur noch sehr selten, seit es passiert ist. Warum soll sie jetzt plötzlich wie ein Wasserfall reden? Ich bin sauer auf mich, mir Hoffnungen gemacht zu haben. Dass das vielleicht ein Weckruf ist. Dass es jetzt wieder gut werde.
„So!“, ruft Mama vergnügt und klatscht in die Hände.
Oh nein, bitte nicht! Bitte, bitte, sag nichts!
„Genug Trübsal geblasen! Der Arzt sagt, wir können dich mitnehmen, wenn ich irgendwas unterschreibe. Elisa und ich wollten mit dir ein Eis essen gehen! Was sagst du?“
Maries Augen wandern zu Mama, starren sie ausdruckslos an.
Komm schon, denke ich, raste nicht aus. Vielleicht kann es nochmal funktionieren mit euch beiden, mit uns dreien. Bitte.
„Verpiss dich“, flüstert Marie.
Meine Hoffnungen zerfallen zu Staub.
Mama lacht. „Das ist aber nicht die feine englische Art, Liebes! Möchtest du lieber zum Italiener? Oder, oh! Wir könnten auch ins Kino gehen!“
„Man verpiss dich einfach!“, schreit Marie.
„Ach, jetzt komm“, sagt Mama und setzt ein schiefes Grinsen auf.
„Ich hab kein Bock auf deine Scheiße! Jetzt stecken die mich wahrscheinlich in die Klapse, aber da gehörst du hin! Nur du!“
„Jetzt sei doch nicht so. Warum denn so grummelig? Nach zwei Kugeln Eis schaut die Welt doch ganz anders aus.“
„Hau ab, du scheiß Schlampe!“, schreit Marie, so laut, dass fast ihre Stimme versagt. „Ich will dich nicht sehen! Nie wieder!“
Mama erstarrt. Ihre Hände ballen sich zu Fäusten, ihre Gesichtszüge verfinstern sich. Oh man, jetzt rastet sie aus. Sie öffnet den Mund und atmet ein, als würde sie losbrüllen.
Plötzlich entspannen sich ihre Züge wieder. „Na schön“, sagt sie fröhlich. „Dann essen wir das Eis eben ohne dich! Sicher, dass du nicht mitkommen willst?“
„Geh einfach“, sagt Marie, die letzte Silbe klingt wie ein Schluchzen.
„Es bringt doch nichts, sich zu grämen, Marie.“
Marie dreht sich wieder zum Fenster. Das Gespräch ist vorbei.
„Hm, du kannst dich ja melden, wenn sich deine Laune wieder gebessert hat. Komm, Elisa!“
Mama lächelt breit und stolziert zur Tür hinaus.
„Warte, Mama! Bitte! Ihr könnt doch nicht –“, rufe ich ihr hinterher, doch die Tür ist bereits ins Schloss gefallen. Ich reiße die Türe auf, will ihr hinterherlaufen, doch bleibe dann stehen.
Das war’s.
Ich schaue Mama hinterher. Dann sehe ich die Türe von Maries Krankenzimmer an. Mama erreicht den Fahrstuhl. Ich blicke auf die Türklinke. Mama winkt mich zu sich, die Fahrstuhltüren gehen auf. Wieder betrachte ich die Türklinke. Mein Blick senkt sich zu Boden.