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Mama ruft!
Es sieht mich an, als wär’ ich ihm fremd. Flaschengrüne Augen. Viel zu grosse Nase. Und Lippen wie zwei aufeinandergelegte Minisalamis – irgendwie ekelhaft.
Vorsichtig hebe ich meine Hand. Mein Arm fühlt sich schwer an, meine Finger zittern. Wie fleischige Raupen kriechen sie auf mein Gegenüber zu und werden dabei immer langsamer, als würde der Widerstand mit jedem Zentimeter stärker werden.
Es hat ebenfalls seine Hand gehoben. Im selben Tempo wie ich versucht es die Lücke zu schliessen. Nur noch wenige Millimeter trennen unsere Fingerkuppen voneinander.
Ich stoppe. Es tut es mir gleich. Die Flaschenaugen glänzen. Der Mund scheint zu lächeln, aber die Salamilippen beben.
Stiller Schmerz, der nicht mehr still sein möchte. Man sieht es ihm an. Es möchte weinen, schreien, fluchen. Ballast abwerfen und den Körper am besten gleich noch dazu.
Ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr, lasse meine Hand wieder sinken und reisse den Blick von meinem Spiegelbild los.
Mama ruft, dass es Zeit sei. Sie nennt mich Mimmi. Ich rufe nicht zurück.
Mit schlurfenden Schritten verlasse ich das Bad und gehe in mein Zimmer. Mama ruft nochmal. Ihre Stimme ist schrill und schmerzt in meinen Ohren.
«Ja, ich komme gleich», ich klinge gewohnt gleichgültig.
Mein Schrank ist vollgestopft mit Kleidung, die Mama schön fand – fühlt sich an wie Kostümparty.
Mir ist heiß und gleichzeitig kalt, meine Augen brennen, aber es kommt nichts raus.
Stattdessen stelle ich mir vor, wie ich meine Brust aufreiße und mein Herz an die Wand werfe. Einfach so.
Auf dem Schreibtisch liegt eine Schere. Das lässt mich lächeln. Mama mag keine Scheren, sie meint, Klingen seien gefährlich, ich könne mich verletzen.
Mama vertraut mir nicht. Immer noch nicht. Dabei sind andere Jugendliche in meinem Alter schon von Zuhause ausgezogen.
Der Weg ins Bad fühlt sich länger an. Die Schere fällt mir aus der Hand. Ich hebe sie auf und gehe weiter. Mama ruft. Aber ich möchte nicht kommen. Trotzdem sage ich, dass ich gleich da sei.
Und dann sieht es mich wieder an. In meiner Magengegend breitet sich ein Kribbeln aus. Widerstand fühlt sich wunderbar an.
Ich hebe mein Handgelenk und schau’ es mir ausführlich an. Blau-violett sind die Venen und golden schimmern die Hautschuppen.
Die Schere kratzt über meine Haut . Aber es fühlt sich nicht gut an. Deswegen lasse ich sie sinken – meine Hand – und sehe wieder in die flaschengrünen Augen meines Gegenübers. Das Gefühl von vorhin wird stärker, wir sind uns fremd geworden.
Mama ruft. Ich ignoriere sie und wickle stattdessen eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger. Meine Haare gefallen mir, aber sie sind viel zu lang.
Schnipp. Die erste Strähne landet im Wachbecken. Schnapp. Die zweite kringelt sich dazu. Glück durchflutet meinen Körper. Es fühlt sich gut an, federleicht und heroisch.
Mama ruft. Die Strähnen fallen weiter. Mama ruft lauter. Die Strähnen fallen weiter. Mama steigt die Treppe hoch. Die Strähnen fallen weiter. Mama ist schon bald da. Die Strähnen fallen weiter. Mama schreit. Die letzte Strähne fällt ins Becken.
Mama fragt, was in mich gefahren sei, und wuschelt mir durch die kurzen kupfernen Haarfransen. Immer wieder stammelt sie «Noemie».
Aber ich schüttle meinen Kopf und schaue gelassen in Mamas Flaschenaugen: «Nein, Mama, nicht Noemie. Ich bin Noah. Nenn mich bitte Noah.» Und da ist Mama still.