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Mama hat Heimweh
Meine kleine Schwester Esma und ich knien auf dem Rücksitz und winken, bis unsere Arme lahm werden. „Auf Wiedersehen! Bis zum nächsten Jahr! Besucht uns mal in Deutschland!" Anneanne und Büyükbaba, meine Oma und mein Opa, werden immer kleiner. Auch Cousin Yusuf und Cousine Aylin, die hinter unserem Auto her rennen, werden immer kleiner, bis wir sie nicht mehr sehen können. Mama schluchzt leise auf dem Vordersitz und Papa tritt aufs Gaspedal.
„Kinder, ich kann's kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen!", ruft er gutgelaunt, obwohl noch ungefähr vierundzwanzig Stunden Fahrt vor uns liegen.
„Mein Zuhause ist hier", sagt Mama mit tränenerstickter Stimme. Es ist jeden Sommer dasselbe. Meistens dauert es ganze zwei Wochen, bis Mama wieder einigermaßen normal ist und nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit anfängt zu weinen. Papa wird dann immer sehr wütend.
„Du bist undankbar", sagt er zu ihr, „biete ich dir nicht jeden Luxus, den du dir vorstellen kannst? Du musst nicht arbeiten, sogar türkisches Fernsehen kannst du schauen! Wärst du vielleicht lieber mit einem Ziegenhirten in Isaköy verheiratet?" Mama geht dann ins Schlafzimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Papa ist in Stuttgart geboren, aber Mama ist erst nach Deutschland gekommen, um Papa zu heiraten. Sie wurden einander schon als Kinder versprochen. Papa erzählt oft, wie stolz er ist, dass er das schönste Mädchen aus Anatolien geheiratet hat. Aber manchmal ist er auch ziemlich sauer auf Mama, weil es ihr in Deutschland einfach nicht gefallen will. Er sagt, sie strengt sich nicht genug an. Und ihm gefällt nicht, dass sie seit Kurzem darauf besteht, ein Kopftuch zu tragen. Esma schämt sich, wenn Mama sie mit Kopftuch von der Schule abholt. Mir ist es eigentlich egal, wenn sie sich besser damit fühlt, soll sie es ruhig tragen.
Diesmal dauert es schon länger als zwei Wochen. Sie streiten jeden Tag. Ich erwische Esma, als sie an der Schlafzimmertür lauscht. „Komm da weg, das geht uns nichts an", zische ich und ziehe sie am Arm.
„Lass mich, du blöde Kuh!" Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie mich an. „Mama will, dass sich Papa in der Türkei eine Arbeit sucht. Ich will aber nicht in der Türkei wohnen!"
„Das musst du auch nicht. Papa findet dort sowieso keine Arbeit. Und er wird nie aus Deutschland weggehen."
„Aber Mama hat gesagt", ihre Stimme wird weinerlich, „dass es ihr egal ist, wenn er hier bleibt. Und sie will uns mitnehmen."
„Quatsch!", sage ich bestimmt, doch im Innern bin ich mir nicht so sicher. Mama spricht schon länger davon, dass sie wieder zurück will in ihre Heimatstadt Isaköy. Sie könnte wieder als Lehrerin arbeiten. Hier in Stuttgart sagt sie, findet sie höchstens Arbeit als Putzfrau. Papa meint, dass das doch gar nicht schlecht wäre. Dann geht Mama ins Schlafzimmer. So weit käme es noch, dass sie den Dreck anderer Leute wegputze. Manchmal tut Mama mir leid. Ich kann mir nicht vorstellen, in einem anderen Land als Deutschland zu wohnen. Die Urlaube bei Oma und Opa in der Türkei sind schön, aber ich bin jedesmal froh, wieder nach Stuttgart zurückzukehren.
„Komm", sage ich zu Esma, „lass uns zum Spielplatz runter gehen."
Als wir nach Hause kommen, steht Mama in der Küche und knallt mit den Töpfen. Ich kann sehen, dass sie geweint hat. „Wo ist Papa?", fragt Esma kleinlaut. Mama gibt nur ein wütendes Schnauben von sich. Wahrscheinlich ist er wieder in Connys Kneipe. Und wenn er nach Hause kommt, riecht er nach Bier. Dann wird Mama noch wütender. „Es gehört sich nicht für einen anständigen türkischen Mann, Bier in der Öffentlichkeit zu trinken", sagt sie immer zu ihm.
„Wir leben in Deutschland", antwortet Papa dann, „alle Männer trinken Bier."
„Hazal, hilf mir bitte, die Paprika zu schneiden." Es ist ungerecht, Esma muss nie helfen. Zum Abendessen ist Papa immer noch nicht nach Hause gekommen. Wir stochern schweigend in unserem Essen herum, keiner hat wirklich Hunger. Plötzlich bricht es aus Esma heraus: „Ich will nicht in der Türkei wohnen! Dort ist alles so dreckig. Und es gibt kein Mädchenfußball!" Ich gebe ihr unter dem Tisch einen Tritt. Typisch, dass sie immer nur an sich denkt. Mama wirft ihr einen scharfen Blick zu.
„Wenn wir uns entschließen, in die Türkei zu gehen, dann wirst du wohl oder übel mitkommen müssen."
„Nie im Leben!", behauptet Esma, „dann bleibe ich lieber bei Babaanne." Mama lacht höhnisch. Babaanne ist unsere andere Oma, die Mutter von Papa. Sie wohnt auch in Stuttgart. Babaanne ist ziemlich streng. Ich glaube nicht, dass Esma wirklich bei ihr leben will.
Der Tisch ist abgeräumt und Mama hat das Geschirr gespült. Papa ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Mama wirft alle paar Minuten einen finsteren Blick auf die große VfB Stuttgart-Wanduhr, die über dem Küchentisch hängt. Sie hasst die Uhr und findet, wenn wir die Küche schon so verschandeln, dann wenigstens mit einer Uhr von Galatasaray oder Besiktas.
Um halb neun schickt Mama mich schließlich los, um Papa zu holen. Connys Kneipe ist gleich um die Ecke. Ich mag es nicht gern, wenn sie mich dorthin schickt. In der Kneipe ist es so rauchig, dass ich kaum etwas erkennen kann. Ein paar alte Männer sitzen am Tresen und werfen mir neugierige Blicke zu. Papa ist nirgends zu sehen.
„Akif? Der war heute noch nicht hier", sagt Conny. Schnell verlasse ich die stickige Bar und stehe etwas ratlos auf dem Bürgersteig herum. Mir fällt ein, dass Papa vielleicht in dem neuen Café unten am Schreiberplatz ist. Er kauft uns manchmal eine Cola dort. Es ist ein schönes Café, mit großen Schaufenstern und bunten Tischen und Stühlen. Einen Augenblick bleibe ich vor dem erleuchteten Fenster stehen und sehe hinein. Eine Gruppe Jugendlicher trinkt Milchshakes. Ich erkenne die große Schwester von meiner Freundin Nicoletta. Sie hat seit kurzem einen Freund, der aussieht wie Harry Styles. Und dann sehe ich Papa. Er hat den Arm um eine blonde Frau gelegt und küsst sie mitten auf den Mund. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Im nächsten Moment hebt Papa den Kopf und schaut mir direkt in die Augen. Ich registriere noch, wie er aufspringt, dann renne ich blindlings los. Quer über den Schreiberplatz, am Rewe vorbei über die Straßenbahngleise. Ich laufe einfach geradeaus, ohne zu wissen wohin. „Hazal! Bleib stehen, Hazal!" Papa ist direkt hinter mir.
„Hau ab!"
„Hazal, bitte, lass mich erklären!" Ich halte meine Ohren zu und renne weiter. Plötzlich taucht das Fahrrad vor mir auf. Ich höre den gellenden Schrei der Radlerin, meine Füße werden weggerissen und dann ist alles dunkel.
„Und ich habe wirklich am Freitag ein Probetraining bei Besiktas?" Mama presst sich lachend die Hände auf die Ohren. Esma hüpft seit zehn Minuten wie ein Jojo auf und ab und kreischt lauter, als eine Horde wilder Affen. Zum ersten Mal ist sie wieder fröhlich, seit wir vor sechs Wochen mit Mama nach Istanbul gezogen sind. Wir wohnen bei Mamas Tante Hatice, die ein riesiges Haus hat und ganz alleine ist, seit Onkel Mezut letztes Jahr an Krebs gestorben ist. Mama hat eine Stelle als Grundschullehrerin gefunden. Ihre schicke neue Frisur will sie nicht mehr unter einem Kopftuch verstecken.
Esma und ich gehen in die deutsche Schule und ich habe auch schon eine neue Freundin. Sie heißt Lilly und kommt aus Deutschland, wie ich. Ihr Vater arbeitet bei einer deutschen Firma in Istanbul. Ich finde es gar nicht so übel hier. Es ist beinahe wie Stuttgart, nur ein bisschen größer. Und an Ostern kommt Papa uns besuchen.