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Mallory Dreams
Mallory Dreams stand an der Haltestelle in der Bayswater Road und wartete wie jeden Abend seit nun über vierzig Jahren auf den Sieben-Uhr-Bus. Es war kurz vor Weihnachten und die Straßen und Häuser waren schon seit ein paar Wochen festlich geschmückt. Ein paar verirrte Schneeflocken geisterten über die Straße, sanken schließlich zu Boden und wurden vom vorbeifahrenden Feierabendverkehr in einen unappetitlichen Haufen Matsch verwandelt.
Sie stieß einen langen resignierten Seufzer aus, kniff die Augen zusammen und sah angestrengt zu der alten Uhr am großen Backsteingebäude auf der anderen Straßenseite hinüber. Kurz vor Sieben. Dieser – vor diesem Fluch schickte sie ein kurzes Stoßgebet Richtung Himmel - gottverdammte Bus würde wieder Verspätung haben. Schon seit dem zweiten Weltkrieg hatte er nicht eine einzige seiner Haltestellen pünktlich bedient! Dieses hatte Mallory von anderen Fahrgästen gehört, von denen viele jetzt schon lange, lange tot waren. Oh, natürlich kam er nie vor sieben Uhr, aber das war auch neben der Tatsache, dass er niemals nicht fuhr, schon beinahe die einzige Verlässlichkeit. Selten kam er nur zwei, gerne mal fünf und häufig auch schon mal siebzehn Minuten zu spät. Schon oft hatte sich Mallory vorgestellt, wie ein in Pension gehender Fahrer der Linie 105, hierzu gehörte nämlich auch der Sieben-Uhr-Bus, seinem Nachfolger den einzigen und entscheidenden Tip für die nächsten Jahre des Berufslebens mit auf den Weg gab: Niemals, hörst du, niemals pünktlich sein!
Gemeinsam mit Alfred Wiggins, einem anderen langjährigen Fahrgast, hatte Mallory Dreams über mehrere Jahrzehnte Dutzende von Schreiben an die Verkehrsgesellschaft, an das Unterhaus und schließlich sogar an die Premierministerin gerichtet. Antwort hatten die beiden nie erhalten. Jedenfalls keine in ihrem Sinne. Die Verkehrsgesellschaft antwortete mit verständnisvollen Formbriefen („...zum Wohle unserer Fahrgäste unternehmen wir große Anstrengungen...“), das Unterhaus ebenfalls („Haben Sie herzlichen Dank...“) und das Büro der Premierministerin schickte ihnen aus unerfindlichen Gründen immer nur Autogrammkarten („Gerne komme ich Ihrem Wunsch nach...“). Jedenfalls änderte sich in den all den Jahren nichts daran, dass der Sieben-Uhr-Bus eben niemals genau um sieben Uhr fuhr.
Wiggins ärgerte diese Tatsache außerordentlich. Bereits seit März 1965 führte er daher genauestens Buch über die Verspätungen. Er hatte akribisch nachgerechnet, Tabellen aufgestellt, Wahrscheinlichkeitsrechnungen angestellt und dafür sogar eigens einen berühmten Mathematikprofessor aufgesucht und um Hilfe gebeten. Aber die Verspätungen des Sieben-Uhr-Busses blieben einfach ein Rätsel. Auch als Wiggins vor zwei Jahren den Bus über mehrere Wochen gar per Taxi verfolgte, konnte er das Rätsel der Verspätungen einfach nicht lösen. „Wissen Sie, Mallory, ich glaube die Verkehrsgesellschaft mag uns beide einfach nicht“, mutmaßte er schließlich, aber was immer sie auch anstellten: Nie, nie, nie hatten Wiggins und Mallory in all den Jahren das Rätsel um den Sieben-Uhr-Bus aufdecken können.
Im letzten Frühjahr war Alfred Wiggins dann schließlich gestorben. Wie Mallory später hörte, hatte er sich zu Hause in seinen alten Ohrensessel gesetzt und war einfach friedlich eingeschlafen. Um die Mundwinkel sein feines Lächeln, auf den Knien eine wollene Decke gegen die Kälte, die er so sehr hasste und in der Hand den Fahrplan der Verkehrsgesellschaft.
Ein schöner Tod, fand Mallory.
Sie dachte oft an ihn. Zum Beispiel gestern, als sie die Autogrammkarte von Tony Blair („Gerne komme ich Ihrem Wunsch nach...“ - nicht einmal das hatten sie geändert!) aus dem Briefkasten fischte. Oder jetzt gerade in diesem Augenblick, kurz bevor der Sieben-Uhr-Bus wieder seine übliche Verspätung einfahren würde.
Das Schneetreiben hatte inzwischen etwas zugenommen, was die festliche Stimmung dieses Abends noch verstärkte. Gleich um die Ecke sang ein Kinderchor Weihnachtslieder- leider eine Idee zu schnell, aber Mallory fand es trotzdem schön und summte leise mit. Sie spähte wieder zur Uhr. Der große, schwere Zeiger der alten Uhr sprang eben gerade auf die Zwölf, als... Mallory wollte ihren Augen nicht trauen. Vor ihr war gerade der Sieben-Uhr-Bus zum Stehen gekommen! Pünktlich. Auf die Minute genau! Unglaublich! Die automatischen Türen gingen auf und sie stieg gleich ganz vorne ein.
Mallory sprach den Fahrer an, der in diesem Augenblick angestrengt nach links in den Außenspiegel sah: Wissen Sie, ich fahre jetzt seit über vierzig Jahren mit diesem Bus, aber noch niemals...“ Der Fahrer drehte langsam den Kopf in ihre Richtung und sah sie an. Ein feines Lächeln lag in seinem faltigen Gesicht, zum Schutz vor der einströmenden Kälte hatte er sich eine Decke auf die Knie gelegt und in der rechten Hand hielt er das Kursbuch der Verkehrsgesellschaft. „Ja, Ma'am?“ Mallorys Knie gaben nach.
„Ma'am! Ma'am?“. Die Stimme schien von weit her zu kommen. Jemand rüttelte vorsichtig an ihrer Schulter. „Ma'am?“ Mallory Dreams öffnete ganz langsam die Augen und versuchte, etwas zu erkennen. Sie erkannte den Bus, ihren Sieben-Uhr-Bus, sie erkannte die Haltestelle draußen, die alte Uhr, sie erkannte...eigentlich niemanden.
Benommen nahm sie neben einem älteren Herrn gleich ganz vorne im Bus Platz. „Unglaublich“, sagte sie als der Bus anfuhr, "dieser Bus war in vierzig Jahren noch nicht einmal pünktlich und jetzt so etwas!“ Ihr Nachbar sah sie verwundert an: „Sie müssen sich irren, Ma'am. Der 105er fährt seit Jahrzehnten auf die Minute genau. Ich fahre seit über dreißig Jahren jeden Abend mit ihm nach Hause und er kam noch nie zu spät!“
Mallory sah ihn erstaunt an. „Das kann nicht sein. Warum habe ich Sie dann noch nie hier im Bus gesehen?“ Sie erzählte ihm die ganze Geschichte. Von Alfred Wiggins, den Verspätungen, den Briefen, sogar von dem Mathematikprofessor und den Autogrammkarten erzählte sie. Der Mann sah sie ungläubig an. „Glauben Sie mir. Ich habe Sie oder den Herrn, den Sie beschrieben haben – wie hieß er gleich - noch nie gesehen und außerdem...“, er zögerte einen Moment,“...außerdem hält der Bus gar nicht in der Bayswater Road. Er hat noch nie da gehalten, verstehen Sie? Noch nie!“
Mallory Dreams ging nachdenklich die letzten paar Meter bis nach Hause. Bevor sie im friedlichen Dunkel dieses Vorweihnachtsabends verschwand, dachte sie an Wiggins. „Alfred!“, sagte sie halblaut vor sich hin, „Alfred, wir werden wieder einmal dem Premierminister schreiben müssen...“