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Mais
„Du scheiß Hurensohn, egal wer du bist und egal wo du bist, ich werde dich finden…“, sagt Martin Brühl mehr zu sich selbst, als zu allem anderen. Martin Brühl ist siebenundfünfzig Jahre jung, und schon seit Ewigkeiten geschieden. Doch jetzt gerade ist er vor allem wütend, oder zumindest ziemlich genervt. Er steht auf einer schmalen Landstraße, immerhin ist sie asphaltiert, und blickt auf einen Trampelpfad, der quer durch fast zwei Meter hohe Maispflanzen führt, durch seine Maispflanzen. Stolz standen sie einst da, regten sich der Sonne entgegen, doch heute taumeln ihre schwachen Köpfe mit dem Wind hin und her. Sie wehren sich nicht, denn ihre Freunde sind gefallen, niedergetrampelt und geschändet wurden sie. Doch sie konnten nichts ausrichten gegen den übermächtigen Feind. Mit verzerrter Miene, und noch mehr Schlaglöcher als ohne hin schon da sind in den Teer starrend, steht er da in kotzgrünen Gummistiefeln und ebenso schöner Latzhose, gefangen in verstörten Gedanken von kämpfendem Mais. Als er wieder in der Realität angekommen ist tupft er sich bloß die Schweißperlen von seiner halbkahlen Stirn und steigt zurück auf den kleinen Traktor um seine Visite zu beenden.
Morgens liegt Martin Brühl entschlossen in seinem Bett, entschlossen den Mörder zu finden. Er steht auf und geht hinunter in die Küche, auf dem Weg zieht er die Latzhose über das verwaschene Shirt und die Unterhose, zwei Scheiben Weißbrot landen im Toaster und löslicher Kaffee wird vorbereitet. Beiläufig schaltet er den kleinen Röhrenfernseher ein und steckt sich sein Rasiermesser in die Hosentasche, nur für alle Fälle. Hastig wird die unabdingbare Koffeinladung aufgeschlürft, der Fernseher doch wieder in den Stand-by-Modus versetzt und das Schuhwerk halb angezogen. Die Tür fällt zu. Die Toasts schmoren weiter.
Mit dem dritten Anlauf springt der alte Traktor endgültig an und setzt sich in Bewegung. Rechts aus der Ausfahrt hinaus, nach ungefähr zweihundert Metern wieder rechts und dann ein ganzes Stück einfach der Straße folgen, fünfzehn Minuten dauert es bis Brühl die Schneise sieht. Wut kommt wieder in ihm auf, Wut wie er sie zuletzt vor seiner Scheidung verspürte, es schien als würde ein rostiger Motor noch ein letztes Mal anlaufen wollen. Er spürte seinen Puls jetzt sogar am Hals, die Adern pochten, brachten den Motor ins rasen und Martin Brühl endlich mal wieder dazu sich selbst wahrzunehmen. „Ich weiß genau wo du hin willst“, er meint damit die einzige Raststätte in der Nähe, seine quasi Nachbarn, fast einhundert Kilometer von seiner Residenz entfernt, „Ich weiß wo du hin willst und ich werd´ dich finden.“ Er fährt bis zum Ende des Felds, biegt dann links und kommt nach zehn Minuten auf eine sozusagen Hauptstraße, das einzige was besonders an ihr ist, ist die zweite Spur in die Richtung in die er nicht will. Ohne zu blinken oder nach anderen Autos auszuschauen biegt er ab und gibt Gas, einen, zwei dann drei Kilometer, er übersteigt das Tempolimit der Straße und dann das seines Wagens, einhundertzehn, einhundertzwanzig, einhundertfünfundzwanzig km/h fährt er. Nach einer halben Stunde erkennt Brühl die mickrige Raststätte, deren Besitzer wahrscheinlich Arbeitslosengeld kassiert, bis er von einer großen Kette aufgesogen wird. Um den Berg hinaufzukommen gibt er nochmals Gas, einhundertdreißig Stundenkilometer, mehr als der Aufkleber über dem Auspuff erlaubt, zu Recht. Denn Rauch steigt auf, viel Rauch, erst missachtet er dieses Detail, doch kurz darauf beginnen Flammen aus dem Kühler zu schießen und Brühl packt die Angst er zieht den Fuß vom Gaspedal und springt. Der Traktor, sein einziger Freund, seit der Trennung von seiner, mehr oder weniger geliebten Gattin Hilde, rollt noch ein, zwei Meter, bleibt dann stehen und rollt jetzt immer schneller werdend den Hügel wieder herunter. Martin Brühl blickt hinterher, wie sein gebrechlicher Kumpan in den Graben nebst der Straße plumpst, das war´s. Erst Brunhilde und jetzt noch er. „Scheiße. Scheiße … scheiße. Verdammte, dreckige Scheiße. So ´ne Kacke. Wieso? Wieso ich? Wa-rum?“, Die Flüche kommen einfach aus ihm raus, er kann- und vor allem will er- nichts tun. Sein Leben ist ihm sowieso egal. Die letzten Jahre waren eh umsonst gewesen. Bloße Verschwendung. Hätte man sie einem Krebskranken geschenkt, oder wenigstens irgendnem Geschäftstypen… Aber nicht ihm, einem Ende fünfzig Jahre alten, für die Menschheit komplett irrelevanten, Bauern. Das größte was er je vollbracht hatte war eine gelbe Plakette für seinen, jetzt kaputten Traktor zu verdienen. Nun lag Martin da, mit aufgeschlagenen Knien, aufgeschürften Händen und einem Rasiermesser in der Hosentasche…
Das Rasiermesser!! Deswegen war er hier, um den Menschen zu finden der für den ganzen Mist, für seine jetzige Situation verantwortlich war. Er spuckt aus. Rafft sich auf. Stapft davon. Solange bis er angekommen ist versucht er sich zu sammeln, und auf sein Ziel zu fokussieren. „Den schnapp ich mir…“ Oben angelangt setzt er sich auf den Wegrand und atmet durch. Schweiß läuft ihm den ganzen Körper hinunter und durchnässt die Kleidung. Er schiebt seine Hände in die Taschen und verharrt einige Sekunden bis ihm auffällt das seine linkes Hosenbein ganz nass wird, hat er endgültig die Kontrolle über seinen Körper verloren?! Nein es ist nur seine Hand. Seine Hand? „Wiesoooooo, wieso?“ Blut rinnt die Falten in seiner Hand hinab. Tränen sammeln sich in seinen Augenhöhlen. Er dreht sich um, der Parkplatz ist leer. Auf halbem Weg zur verdreckten Kundentoilette fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Wo ist er… Wo? Nein, nein das darf nicht wahr sein. Wo zur Hölle ist der Penner? Seinem Augenlied entweicht eine Träne, sie kriecht seine unrasierte Wange runter und tropft auf sein Shirt… dort verblasst sie langsam im Anblick der Sonne. Genauso wie Martin auch langsam aus dem Leben seiner Freunde, seiner Frau, ja sogar seiner engsten Verwandten verschwand. Warum bin ich eigentlich hier? Aus Rache… Nein, eher aus Stolz auf das einzige was mir geblieben ist, Mais… Seine Augen schließen sich und drücken das restliche Salzwasser auf seine Wange. Wegen Mais… ich bin echt nutzlos.