Mitglied
- Beitritt
- 22.06.2003
- Beiträge
- 355
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Mail aus der falschen Welt
Habt ihr jemals versucht zu schreiben, als ihr so müde wart, dass euch die Augenlider immer wieder zufielen und ihr jede Mühe hattet, sie wieder aufzubringen?
Das tue ich jetzt.
Die Welt ist eine Schande geworden, für jeden, der noch in ihr leben muss. Sie ist nicht einmal mehr ein schlechtes Abbild einer vor allem aus der heutigen Sicht beneidenswerten Vergangenheit.
Die Menschheit kann froh sein, wenn unser längst vergifteter Planet nie in einem Geschichtsbuch erscheinen wird und das wird unsere Erde meiner Meinung nach auch wirklich nie.
Erstens gibt es kein natürliches Papier mehr, da zu wenige Bäume. Das hochsynthetische Material wurde verboten, weil nach den Einführungsmonaten 50% der Leute, die mit dem Zeug in Kontakt gekommen waren, Geschwüre an den Händen aufwiesen.
Ausserdem wird auch nie was auf Computer erscheinen, da kein Mensch unserer Zeit auch nur im Geringsten stolz darauf wäre, sich als solchen zu bezeichnen. Niemand würde unsere Gegenwart zu Papier bringen wollen.
Ausserdem sind wir faul geworden und leiden zu 90% an Schlaflosigkeit, obwohl wir immer extrem müde sind und regelmässig in Sekunden- oder Minutenschlaf verfallen.
Von der halben Million Menschen, die registriert wurde, sind nur etwa ein Dutzend völlig gesund. Alle anderen haben entweder psychische oder physische Störungen, womöglich beides, schleppen alte Seuchen oder unzählige Viren mit sich und sind bisweilen regelrecht am Verfaulen.
Arress war einer der wenigen völlig Gesunden. Der einzige in unserer Stadt, doch vor drei Wochen wurde er ermordet. Der Täter hat Arress verschiedene Innereien entnommen, die er vermutlich selbst aus gesundheitlichen Gründen brauchen konnte.
Zur Abschreckung hat die Stadtdirektion drei mögliche Täter hingerichtet und deren Leichen nach drei Tagen Schauhängen an der Vorderfront der Kathedrale - die, wie alle Gebäude, wie ein Bunker aussieht - als Dünger dem botanischen Garten der Stadt zur Verfügung gestellt.
Nun, das Morden und der Organdiebstahl hat dennoch nicht aufgehört und es lässt sich auch gut durch die allgemeine Verzweiflung dieser Welt begründen. Warum nicht als Dünger enden, wenn man in wenigen Tagen anhand irgendwelcher Krankheiten verkommen würde, zwar ein schönes Grab bekäme, jedoch ohnehin in absehbarer Zukunft dem sich von Osten her in die Stadt fressenden Säurentümpel in eben diesem Grab zum Opfer fiele?
Hinter mir sind einige Leute her, weil ich erstaunlich gut sehen kann. Die meisten Menschen bekommen nur noch trüb das Bild ihrer scheusslichen Gegenwart mit, doch meine Augen erkennen hundertprozentig die Umwelt. Das hat natürlich im Leben und Überleben beachtliche Vorteile und ich werde keinem verruchten Organdieb widerstandslos mein Auge überreichen, obwohl ich manchmal froh wäre, wenn ich gewisse Dinge nicht sehen müsste.
Ich habe gestern Drohungen erhalten. Jetzt schreibe ich dieses Mail in meinem Keller und es wird schwer für sie sein, bis zu mir zu dringen, denn Fallen wie Stromschläge oder Ätzung bei Berührung von Türklinken, der Giftgasgang oder das Vollautomatische Gewehr neben mir, das sich auf die Kellertüre richtet, müssen überwunden werden. Zudem ist
Scheisse! Ich bin mit dem Kopf auf der Tastatur eingeschlafen! Das Kauen dieser wertvollen Kaffeebohnen nützt überhaupt nichts. Da pflanz ich diese Bohnen lieber ein, was allerdings angesichts dieses Gemisches aus verschiedenen Chemikalien, Rost und sonstiger Verdorbenheit namens Boden ebensowenig Sinn hätte.
Na ja, immerhin gehöre ich zu den Leuten, die überhaupt im stolzen Besitz einer eigenen Pflanze sein dürfen.
Es wird verdammt schwer sein, dieses Mail fertig zu schreiben. Wenigstens helfen mir die tiefen Temperaturen von etwa vierzig Grad einen kühlen Kopf zu bewahren.
Um wach zu bleiben muss ich wohl die Stöpsel aus meinen Ohren rausnehmen und diese unerträglichen Geräusche über mich ergehen lassen.
Und trotzdem! Es hat überhaupt keinen Sinn, was ich da mache. Dieses Mail wird das Ziel nie erreichen! Ich sollte lieber die ganze Scheisse ertragen und wie alle anderen dahinsiechen. Ausserdem kann ich froh sein, dass ich nur sehr geringe Schwächen zu beklagen habe.
Aber eben deshalb, weil ohnehin alles verloren ist, versuche ich trotzdem, etwas zu retten.
Ich habe einiges zu erzählen!
Aaarh! Diese verfluchten Geräusche; das Sirren in meinen Ohren, das Pfeifen des Windes aus teils giftigen Gasen, die verbrauchte Erde, die aus allen Löchern pfeift.
Dieses unerträgliche Aneinanderreiben verschiedener Geräusche, die nicht im geringsten zueinander passen.
Das sind die Gründe, weshalb die 'Bevölkerung' (welch schönes Wort) nicht schlafen kann, unter Stress leidet und bisweilen verrückt wird!
Dazu kommt aus dem Süden der Stadt dieses ferne Dröhnen der Maschinen, die der Mensch nie abgeschaltet hat. Nun schwingen metallene Arme im Schatten der Industrie umher, ohne etwas zu verrichten und niemand wird sie abschalten, weil auch niemand mehr in den Süden der Stadt geht. Keiner ist scharf darauf, den Ursprung der Verdorbenheit zu besuchen.
Und die Stadtdirektion hat allerhand anderes zu tun.
Trotzdem machen diese Geräusche jeden verrückt, vor allem mich, auch mich, mich! Dieses Pfeifen der Verdorbenheit. Ich...asjgiewagmvoeqihncqmw
Pffft, jetzt geht's wieder ein bisschen besser. Ich war nahe daran, das Glas mit dem Getränk, das neben mir steht, schon jetzt zu leeren, aber was ich angefangen habe, bringe ich noch zu Ende.
Mal sehen, was mir der Periskop anzeigt...
Hoffentlich lassen mir meine Diebe noch ein wenig Zeit.
Draussen ist der gelbe Nebel. Ziemlich dicht heute, vielleicht hat der Säurentümpel einige Gase freigegeben. Unsere Entgiftungsanlagen werden arbeiten müssen. Der botanische Garten ist eine Art Sauerstoffflasche. Ein geschlossenes System in sich; relativ sauberer Boden, riesige Glaskuppel, jede Menge Pflanzen. Das ganze liefert gesunde Luft an den noch kleinen, belebten Teil der Stadt im Zentrum.
Ich sehe eine streunende Katze. Neben einem Haufen Abfall einen Haufen Kröten, hässliche Tiere. Zwei, drei schwarze Vögel durchgleiten auf der in diesem Nebel schwierigen Suche nach Nahrung die Luft.
Es sind jedoch nicht mehr viele Tiere. Vögel gehören zu den wenigen Arten, die in den letzten Jahrhunderten nicht als Schädlinge bezeichnet worden sind, im Gegensatz zu Katzen zum Beispiel.
Übrigens kann ich von meinem Haus aus die Kathedrale sehen; das heisst heute nur so vage, aber... doch! Da hängt wieder jemand an der Frontwand! Haben die bis jetzt noch nicht gemerkt, dass es nichts bringt?
Und da, auf halbem Weg zur Kathedrale, drei hagere Gestalten. Ich befürchte das sind sie. Das Gesicht kann ich nicht erkennen, so weit kann ich nicht heranzoomen, jedoch haben diese Leute heute wahrscheinlich ohnehin Gasmaken an.
Ich sehe nur, dass sie dünn sind und keine beneidenswerten Proportionen haben.
Ich muss mich beeilen mit der Botschaft...
Vielleicht ist noch wichtig zu sagen, wie viel wir Menschen wiegen: Ich gehöre zu den schwereren Kalibern mit meinen vierzig Kilos! Manche lebenden, ausgewachsenen Menschen wiegen lediglich fünfundzwanzig. Wenn ich da lese, wie schwer normale Menschen früher waren...!
Aber es ist klar. Einerseits die Seuchen, das Gift, die Krankheiten; sie machen uns nicht nur schwach, sondern auch extrem mager. Anderseits kennen wir das Essen in Form von Genuss nicht mehr. Wir nehmen die Nährwerte chemisch und ohne unnötigen Zusatz auf. Nur noch das Notwendigste wird gegessen, ausschliesslich um zu überleben.
Ich sage es ja: Diese Welt hat keinen Sinn mehr!
Aber ich werde an dieser wahrscheinlich sinnlosen Mail schreiben, solange sie noch nicht vor meiner Türe stehen und dann vergifte ich meine Innereien, auf die sie so scharf sind.
So, werfen wir nochmals einen Blick auf meinen Periskop-Bildschirm...
Scheisse...
Sind nicht dumm, meine Besucher.
Diese hässlichen Tiere... machen mich verrückt. Und dieses Pfeifen! Es hat so keinen Sinn. Die Verdorbenheit siegt. Überall. Warum besitzen die Menschen keinen Verstand mehr?! Alles so abscheulich! Mein Auge werden sie nicht bekommen, mein Auge nicht. Sie sind nah.
Auf dem Bildschirm sehe ich lediglich drei blutige, zerquetschte, schwarze Kröten!
Sie haben das Rohr verstopft.
Ein rotes Aufleuchten auf meinem Kontrolltisch meldet mir, dass jemand sich am ersten Eingang zu schaffen macht.
Verruchter Organdieb, nimm 2000 Volt!
Irgendwie bin ich verrückt. Es gibt überhaupt keinen Grund zu hoffen, diese Mail würde tatsächlich, wie durch ein Wunder irgendwann das Ziel erreichen. Wahrscheinlich habe ich zuviel gelbe Luft geschluckt und...
Verdammt, diese Müdigkeit!
Gesegnete Erde, die du pfeifst aus allen Löchern, lass mich Organspender wenigstens in den letzten Minuten meines farblosen Lebens noch wach sein!
Muss wohl doch noch die restlichen Kaffeebohnen kauen...
Sie haben das Tor aufgebracht. Sie sind zu fünft, nicht zu dritt. Ich kann sie schon hören. Ich hoffe, dass sie wenigstens von der Schwefelsäuredusche profitieren werden.
Ein Schrei bestätigt, dass ja.
Das gefüllte Glas lugt mich verführerisch an, doch ich habe es für nach der Mail vorbereitet. In Gedanken fliege ich durch eine Landschaft mit Bäumen, die noch Blätter haben. Ein Ort, an dem Vögel noch singen.
Die Phantasie ist das einzige, was dem Menschen an guten Dingen geblieben ist. Ich stelle mir eure Welt vor. Bunte Wiesen. Menschen, die miteinander kommunizieren. Und die Luft, so süsslich rein. Der Himmel ist blau und der Nebel kühl und angenehm. Fünfundzwanzig Grad. Ziemlich kalt, aber ich weiss, dass dies früher normal war. Und die Tiere. In Gedanken streichle ich ein unschuldiges Schaf, Schafe gibt es seit mehr als tausend Jahren nicht mehr...
Ein rotes Aufleuchten auf meinem Kontrolltisch zeigt mir in welchem Gang sich meine Besucher im Moment befinden. Jetzt wird sich zeigen, wie stark ihre Gasmasken sind.
Ich befürchte stark genug.
Zu dritt noch erreichen sie die vorletzte Türe.
Wie die Welt schön sein könnte. Was haben wir nicht alles falsch gemacht...
Mail in die Vergangenheit. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Zu zweit stehen sie vor der Kellertüre.
Ich hoffe ihr bekommt meine Postkarte mit der wunderbaren Landschaftsbeschreibung.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Gewehr schussbereit. Glas trinkbereit.
Mit besten Grüssen aus eurer Zukunft (wenn ihr mehr davon wollt, macht ruhig weiter so)