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Mai
Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen auf die hellgrünen Blätter der Pappeln und malte tanzende Lichtflecke auf den sauber geharkten Kiesweg. Primeln, Narzissen und Maiglöckchen blühten ringsum und machten mit ihrem zarten Duft auch dem letzten Winterschläfer klar, daß der Frühling den Winter für dieses Mal wieder zurückgeschlagen hatte.
Klara saß auf der niedrigen grüngestrichenen Bank, hatte die Augen geschlossen und genoß den vollkommenen Frühlingstag.
"Weißt du noch", begann sie lächelnd, "wie wir in den Seerosenteich gesprungen sind? Es muß auch Anfang Mai gewesen sein. Die Sonne hat so warm geschienen, doch das Wasser war noch fürchterlich kalt." Sie kicherte. "Du hast so einen Schreck bekommen, daß ich dachte, du würdest ohnmächtig werden."
Paul lachte heiser, dieses Lachen, das sie immer so geliebt hatte und nun so sehr vermisste. "Ja, und du hast so laut geschrien und gequietscht, daß mir die Ohren wehtaten."
"Ach du," seufzte Klara lächelnd. Sie lehnte sich zurück und Paul legte seinen Arm um ihre Schultern. Klara griff nach seiner Hand, verschränkte ihre Finger mit seinen. Sie fühlte die rauhe, schwielige Handfläche und den sanften Druck seiner Finger und überlegte, wie oft diese Hand wohl in all den Jahren ihren Körper berührt haben mochte, wie oft die kleinen Wehwehchen der Kinder weggestreichelt und ihre Tränen weggewischt.
"Du konntest besser schwimmen und schneller laufen als alle anderen," sagte er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. "Und du warst das hübscheste Mädchen weit und breit. Ich bin niemals einer schöneren Frau begegnet als dir."
"Alter Schmeichler!" lachte Klara. "Erzähl mehr davon!"
Paul lachte und drückte seine Frau liebevoll an sich. "Du bist das Beste, was mir je passieren konnte, weißt du das? Was würde ich nur ohne dich machen?"
"Du würdest wohl in deiner Junggesellenwohnung sitzen, rauchen und Bier trinken und hättest eine hübsche junge Freundin nach der anderen", sagte Klara schmunzelnd. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie beliebt Paul früher bei den Mädchen gewesen war. Einige waren ihm nachgestiegen und Rebekka aus der Parallelklasse hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie mit allen Mitteln versuchte, ihn Klara auszuspannen.
"Du hast mir immer vertraut, warst nie eifersüchtig", sagte Paul.
"Du hast mir nie einen Grund gegeben", entgegnete Klara.
Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann fragte Paul:
"Bist du mir böse, weil ich dich alleingelassen habe?"
Erfolglos kämpfte Klara gegen die Tränen an, die ihr den Hals zuschnürten und glitzernd ihren Weg von den Augenwinkeln über die faltigen Wangen suchten.
"Nein, Paul", erwiderte sie sanft. "Wie könnte ich dir böse sein? Aber... ich vermisse dich, Liebster."
Paul sah zu den Blättern, die über ihren Köpfen tanzten. "Ich muß gehen", sagte er wehmütig.
"Ich weiß", antwortete Klara, erhob sich mühsam von der niedrigen dunkelgrünen Bank und atmete tief die klare Frühlingsluft ein. "Du fehlst mir so", flüsterte sie, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie den Friedhofsweg hinabging.
Ein sanfter Wind kam auf und spielte mit dem jungen Laub der alten Pappeln. Mit sich trug er zarten Blütenduft und die Hoffnung auf Ewigkeit und Wiedersehen.