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Mai im Supermarkt
Mai im Supermarkt.
Innerlich erfrischt vom Schlummer nach Schwimmbad und Sauna will mein Äußeres noch nicht so recht voran. 74 Jahre gehen eben nicht spurlos vorüber. Am Liebsten würde ich jetzt nach Hause fahren und im Sessel Hermann Hesse lesen, der so einfühlsam und tröstlich über das Alter schreibt. Jedoch die Sonne vor dem Badeparadies Arobella wärmt mir den Rücken und vermindert den Muskelkater.
Ach ja, wir haben keine Brötchen mehr. Jane wollte sie heute holen. Das kann ich ihr doch abnehmen. Ich zücke mein Handy und drücke „Home“. Nach zweimaligem Rufton höre ich durchs Gepiepse meines Hörgerätes ihre bezaubernd fröhliche Jungmädchenstimme, die ich so sehr liebe:
„ Ja, bring eine Zehnerpackung gefrorene aus dem Rewe mit.“
Ich finde einen guten Parkplatz nahe am Stand der Einkaufswagen. In der Markthalle ist wenig Betrieb. Beim Anblick der appetitlich dekorierten Salate meldet sich mein Magen. Ach ja, der Frühstücksapfel wurde überschlagen. Ein alter Körper haßt die Unregelmäßigkeit. Ich beschließe mir zusätzlich ein Eis zu kaufen. Maple-Walnut schmeckt so köstlich. Die Truhe mit den Brötchen finde ich an gewohnter Stelle, das ist angenehm, denn dieser Markt ändert ständig sein Arrangement. Die Truhe mit den Eiswaffeln ist vor der Kasse, an der eine kurze Schlange steht.
Neben mir schiebt jemand einen Einkaufswagen nach vorn. Eine große schlanke Frau in einem weißen Pullover, der ihre wohlgeformten kleinen Brüste hervortreten läßt, geht an mir vorbei in Richtung Kasse. Bisher hatte ich die Menschen um mich herum kaum wahrgenommen, doch nun schaue ich dieser Frau nach, die mit ihren langen Beinen in Wildlederhosen auf hochhackigen Schuhen elegant schwingend vor mir hergeht. Ob ich wohl Ihr Gesicht auch noch zu sehen kriege?
Sie hat meinen Blick gefühlt, dessen bin ich sicher, denn sie bleibt stehen, wendet sich zur Seite und schaut ohne wirkliches Interesse über die aufgereihten Zeitschriften. Sie hat ein langes, bleiches und ungeschminktes Gesicht. Der kleine Mund wirkt abweisend und unfreundlich. Ihre Augen sind müde.
Die will sowieso nichts von dir wissen, denke ich und gehe zur Eistruhe, die quer vor den Kassen steht. Als ich mich zum Aussuchen hinunterbeugen will bemerke ich, dass die Frau mir nachgekommen ist und näher neben mir steht, als ich es von Fremden gewohnt bin. Mein Körper genießt ihre Nähe. Ich nehme keinen Parfüm- oder Körpergeruch wahr, aber sie sendet eine Botschaft an mich aus während sie mit unbewegtem Gesichtsausdruck vorgibt ein Eis zu suchen. Ich habe ein Nußeis gefunden, entnehme es der Truhe und wir gehen nebeneinander her zur Kasse. Ich will ihr in der Schlange den Vortritt lassen, aber sie bleibt zurück und winkt mich vor. Noch immer ist ihr Gesichtsausdruck unbewegt-unfreundlich, aber als ich „Danke“ sage verwandelt er sich in ein anziehendes Lächeln.
Ich zahle, verlasse den Supermarkt und entblättere meine Eiswaffel. Es dauert eine Weile, bis ich endlich einen Papierkorb für die Hülle gefunden habe. Während ich im Wagen mein Eis futtere, sehe ich meinen Flirt aus der Automatiktür kommen und ihren Einkaufswagen abstellen. Sie ist wirklich eine attraktive Frau mit ihrer guten Figur und den eleganten Beinen. Was für ein Auto wird sie besteigen? Sie besteigt kein Auto, sondern hängt sich die Einkaufstasche um und wandert gemächlich zur Hauptverkehrsstraße.
Ich starte den Wagen und fahre ihr ohne Hast nach, um mich noch ein Weilchen an ihrem Anblick zu erfreuen. Du solltest sie ansprechen und nach Hause fahren! Ja, wenn ich 30 wäre und nicht so eine wundervolle Frau zu Hause hätte, dann vielleicht.
Ich fahre langsam an ihr vorüber und als sie mich erkennt, winke ich ihr zu. Sie winkt zurück und schenkt mir noch einmal ihr Lächeln, das ich im ganzen Körper spüre.