Magus: Wandel
Er blieb stehen und versuchte, irgendeinen Hinweis zu erlauschen, aber es war still. Etwas zu still, wenn man ihn fragte. Obwohl er sich anstrengte, konnte er nichts weiter hören, als das Rascheln der Blätter und das Knarren einiger alter Bäume. In einigen Kilometern Entfernung fuhren Autos über die Landstraße.
Wo war er nur hin? Wie konnte er ihm entkommen? Ihm, dem großen Rutherford? Noch viel dringlicher pochte in ihm jedoch die Frage, warum er sich überhaupt auf diese Geschichte eingelassen hatte? Er war immerhin nicht irgendein verdammter Novize, der sich noch Lorbeeren verdienen musste. Als Magus seines Rangs sollte man auch nicht mehr auf Almosen angewiesen sein.
Ein Hase sprang ins Unterholz. Irgendwo knabberte ein Reh an der Rinde eines jungen Baumes und zupfte gerade einen größeren Fetzen ab. Der erdige Boden knirschte unter seinen Schuhen, während er langsam weiterging. Irgendwo hier musste er doch sein.
Sie hatten ihn bei seinem Stolz gepackt.
„Wir brauchen den Besten“, hatten sie gesagt.
„Der bin ich, zweifelsohne.“, hatte er nach einer würdevollen Pause bedeutungsschwanger geantwortet und deswegen war er jetzt hier und jagte irgendeinen Rotzlöffel, der noch grün hinter den Ohren war. Tarnung ist das A und O. Sicherlich hatte der Lümmel das in Rutherfords Büchern gelesen. Seine Trilogie über die Anwendungsformen der Magie war das Standardwerk der letzten Jahrzehnte.
Doch Erfahrung war weit mehr wert, als alles andere, das wusste Rutherford. Mit seinen Stolzen 160 Jahren hatte er einige, angeblich wahnsinnig begabte Magier kommen und gehen sehen. Einige von ihnen hatte er schließlich sogar selbst in den Äther befördert. Dennoch musste er aufmerksam bleiben. Einer der größten Fehler wäre es, sich überraschen zu lassen. Im richtigen Moment und mit ordentlicher Vorbereitung könnte sogar ein Kind einen Riesen erschlagen.
Er versenkte sich für einen Augenblick in sich selbst und schärfte seinen Blick. Die Sachlage war klar. Dort hinten hatte die Spur geendet. Wenn er die relative Tiefe des Fußabdruckes und die Umgebung in Betracht zog, konnte der Bursche nur hinauf in die Baumkronen gesprungen sein. Er tastete die Baumwipfel mit seinem Blick ab. Der Bursche hatte keinerlei Spuren hinterlassen.
Plötzlich begann der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren, zunächst ganz leicht, dann immer heftiger. Die Steinchen auf dem Boden begannen wegen der Vibration zu hüpfen und klackerten gegeneinander. In der Mitte des Bebens stak ein kleiner Kristall.
Gar nicht schlecht Jungchen, dachte Rutherford anerkennend. Das magische Item war ordentlich gearbeitet und der Effekt war ziemlich beeindruckend. Doch gegen ihn musste man sich schon etwas Originelleres einfallen lassen. Ein Lächeln huschte ihm über die Lippen.
Die Energie bahnte sich den Weg von seinem Nacken, durch den Arm und in die Handflächen, als er die Feuerbälle formte. Jedes Mal tat es höllisch weh. Mit einem lockeren Schlenker seiner Handgelenke schickte er sie auf gut Glück los. Sie trafen auf Stämme und in die Baumkronen, wo sie zerplatzten und in hunderte kleine Flammen und Funken zerstoben. Die kleinen Flammen und Funken setzten einen fürchterlichen Flächenbrand in Gang. Durch die aufsteigende, heiße Luft wurden die herumliegenden, trockenen Blätter zum Brandherd gesogen und nährten das Feuer noch weiter.
Und da im Flammenmeer war auch schon sein Widersacher zu entdecken, jener dumme Junge, der dachte, er könnte mit seiner kleinen Gruppe die Grundregeln der magischen Welt aushebeln.
Er war in einen dunklen Kapuzenumhang gehüllt und umgeben von einer Windsphäre, um sich gegen die Feuerbrunst abzuschirmen. Und er schoss Luft auf Rutherford. Wie süß, dachte sich dieser.
Unter Hochdruck und mit der richtigen Rotation versehen konnten Kugeln aus Luft erheblichen Schaden ausrichten. Obwohl sie aus Luft geformt wurden, sahen sie eher aus als bestünden sie aus Wasser. Sie erreichten ihn jedoch nicht einmal, weil Rutherford seinerseits einen kleinen Schild aus Luft um sich verdichtete.
Wie unerfahren dieser Bengel war, er feuerte einfach immer weiter und ließ ihm alle Zeit der Welt. Er bereitete den Blitz vor. Damit würde er diesen Kampf schnell und einfach beenden. Als er bereit war, klatschten immer noch Luftblasen gegen seinen Schild. Dem Blitz auszuweichen war unmöglich. Tatsächlich war es nicht der Gegner, den der Blitz traf, sondern der Magier selbst, der das Ziel des Blitzes war. Die hohe Kunst bestand darin, den Blitz so zu kanalisieren, dass er durch den Gegner hindurch auf die Handfläche des Magus traf.
Mit einem großen Knall entlud sich die Macht der Natur, die er kanalisiert hatte. Der grelle Streifen ging direkt durch den Torso seines Gegners. Mit Genugtuung beobachtete Rutherford, wie sein Gegenüber kokelte und… zerbröckelte?
Das war unmöglich.
Einen derart kunstvoll gefertigten Golem konnte es überhaupt nicht…
er hatte doch Luftblasen geschossen...
Als er es Verstand und herumwirbelte, war es schon zu spät. In seiner Flanke steckte bereits eine Klinge aus Obsidian, bevor er die Drehung vollendet hatte. Der Schmerz zwang ihn zu taumeln. Er sah gerade noch das Flattern des Kapuzenumhangs im linken Augenwinkel, bevor er einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf spürte und mit dem Gesicht auf den Waldboden zuraste.
„Der große Rutherford“, kicherte eine helle und weiche Stimme.
Er war verwirrt. Das war nicht die Stimme des Jungen, das war eine weibliche Stimme.
„Wer…?“ mehr brachte er nicht hervor.
„Ich bin nur eine von vielen“ gab sie zurück.
Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, seine Wunde richtig heilen zu lassen. Das Blut sickerte noch immer in einem stetigen Rinnsal auf den Waldboden. Er schaffte es, sich auf den Rücken zu wälzen und ihr Gesicht zu sehen. Es war nicht sonderlich beeindruckend. Grüne Augen in einem rundlichen Gesicht, das von zotteligem braunen Haar gerahmt wurde. Dieses unscheinbare Gör war es also, die den großen Rutherford zur Strecke bringen würde.
„Bring es zu Ende.“, presste er hervor.
Er selbst hatte oft an ihrer Stelle gesessen und vielen Magi die letzte Gnade erwiesen.
Sie betrachtete ihn mitleidig, beugte sich zu ihm herunter und nahm sein Gesicht zwischen die Hände.
„Die Zeiten ändern sich“, hauchte sie ihm entgegen, „das wird jetzt ein wenig unangenehm“.
Als er wieder erwachte fühlte es sich so an, als hätte jemand sein Gehirn mit Watte ausgekleidet. Dennoch fühlte er sich ungewöhnlich frisch. Seine Wunden waren versorgt worden und ein Exemplar seines Buches "Kampfmagie im Alltag" lag zwischen seinen Füßen.
Er schaute sich um, sah die verkohlten Bäume und den Schaden, den sie sonst noch so angerichtet hatten. Er hob das Buch und bemerkte auf der Rückseite eine krakelige Schrift.
‚Wir sind alle Seiten der gleichen Münze. C U‘ stand darauf.
Ein Lächeln zauberte sich auf sein Gesicht.
Er verlor nie ein Wort darüber, was an diesem Tag genau vorgefallen war. Er blieb in den Augen der Gesellschaft der große Rutherford, der ungeschlagene Magier. Aber insgeheim dachte er jeden Tag daran, was sie ihm gesagt hatte.
Die Zeiten ändern sich.
Er konnte es kaum erwarten.