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Magier
In meiner Erinnerung an hier ist es immer Sommer. Ich erinnere mich in einer zusammenhanglosen Sammlung von Standbildern. An blaue Himmel, an den Geruch des heißen Asphalts, an flirrende Luft am Ende des Blicks. Daran, wie ich morgens aufwache, alles schläft noch, und mich aus dem Haus schleiche. An lange Ritte auf meinem alten Fahrrad, ein altrosa Ackergaul, der draußen auf mich wartete, und an meine ausgestreckten Arme im Wind. Und an den einen Sommer, in dem ich jeden Tag rannte, über die Felder, bis in den Wald hinein, und dann noch ein Stück weiter, wenn ich konnte. Ich rannte, bis meine Lungen sich wund anfühlten. Bis meine Spucke nach Blut schmeckte. Bis ich meinen Herzschlag nicht mehr spüren konnte, weil mein ganzer Körper pochte und summte. Manchmal rannte ich, bis mir schwarz vor Augen wurde. Dann habe ich mich auf dem Boden ausgestreckt, und es hat sich angefühlt, als würde ich langsam einsinken, den Geruch von sterbendem Holz und Pilzen in der Nase, oder von Gras und Kräutern und Sonne.
Jetzt ist es Winter und das passt besser zum Anlass. Kein heimlicher, nebliger Tag, sondern einer mit blauem Himmel, ein kaltes Blau, und erbarmungslos hellem Licht. Es schickt Blitze durch die Frontscheibe und ich kneife die Augen zusammen. Mir gefällt der Gedanke, dass ich den Weg auch blind finden würde, auch wenn das schon lange nicht mehr stimmt. Das wäre irgendwie hübsch, wenn mich immer noch etwas zu dir ziehen würde, eine unsichtbare Macht, diese Macht, die nur du über mich hast.
Alles hat sich verändert. Wo früher Felder waren, ist seit ein paar Jahren ein Neubaugebiet. Ich wusste das, aber es zu sehen ist unangenehm. Die Bilder krachen mit denen aus meiner Erinnerung zusammen; das Ergebnis sind Scherben. Ist es das, was Altwerden ausmacht?
Ich parke das Auto direkt vorm Haus. Es sieht ganz anders aus, aber sein Gerippe ist das Gleiche. Vertraut genug. Diesen Moment habe ich mir so oft vorgestellt. Ich würde eine Weile sitzen bleiben, dachte ich, und aus dem Fenster sehen. Ich würde mich sammeln, würde sicher gehen müssen, dass ich nicht wie in Trance aussteige und an der Tür klingele. Dass ich es nicht nur irgendwie hinter mich bringe, sondern klar bin, klar, solide, hart. Ich gehöre nicht mehr hierher und meine Rückkehr würde erschütternd sein.
Sie ist antiklimatisch.
Ich steige einfach aus. Gehe die paar Schritte zur Haustür. Warte darauf, dass irgendetwas aus dem ungepflegten Gestrüpp im Vorgarten mich anspringt. Angst oder Traurigkeit. Oder das Gefühl, in der Zeit zurück gereist zu sein. Warte auf Magie, an die ich nicht mehr glaube. Aber der Vorgarten ist nur ein Vorgarten. Ich bin eine andere als die, die davon träumte, zurückzukommen. Eine andere als die, die es nie getan hat.
Erst vor der Haustür meldet sich eine kleine Unsicherheit. Ich hatte mir immer vorgestellt, dich wiederzusehen, wenn du grau geworden bist. Du würdest mir die Tür öffnen. Du wärst überrascht. Ich hätte Tränen in den Augen und du würdest die Oberhand gewinnen und mich umarmen und -
Und auch dieses Bild wird falsch sein.
Grau bist du schon seit vielen Jahren, und ich weiß, dass du mir die Tür nicht öffnen wirst. Ob ich dich wiedererkennen kann? Oder bist du jetzt ein Fremder in einem fremden Körper? Vielleicht sind deine blauen Augen keine Fenster mehr. Ich habe mir immer eingebildet, dich dahinter zu entdecken, deine Essenz, einen tanzenden, quirligen Funken in einem schwerfälligen Körper mit viel zu dicker Haut. Ich habe Herzklopfen und das Lied im Ohr, das du mir immer vorgespielt hast. Drive, von den Cars - damals dachte ich noch, du willst mir sagen, dass du immer für mich da sein wirst. Inzwischen verstehe ich es besser.
Ich klingele. Es dauert einen langen Moment, dann öffnet Martin mir die Tür. Mein Bruder.
“Hi. Komm rein.”
Er sieht müder aus als sonst. Wahrscheinlich die Psychopharmaka, von denen er jetzt noch mehr schluckt. Ich bin mir des Augenblicks bewusst, als er die Tür hinter mir schließt.
“Was machen die Stimmen?”, frage ich ohne echten Humor.
Er zuckt die Schultern, schaut weg. Fragt sich, was ich hier will. Fragt sich, ob es eine gute Idee ist, mich reinzulassen. Fragt sich, ob ich ihn mit einem Blick durchschaue. Natürlich tue ich das. Auch ohne seine Gedanken lesen zu können, oder was auch immer er sich einbildet.
“Er ist im Wohnzimmer, nehme ich an?”
“Woher weißt du das?”
Hast du ihm erzählt, ich wäre eine Hexe? Vielleicht musste ich eine werden. Und vielleicht müsst ihr mich fürchten, ihr Sünder.
“Du hast sicher keinen Bock, ihn die Treppe rauf und runter zu tragen, und in der Küche wirst du ihn kaum geparkt haben.”
“Geparkt.”
Jetzt zucke ich die Schultern. Aber ich weiche seinem Blick nicht aus. Das Wohnzimmer liegt direkt hinter der Tür, neben der wir stehen. Es überrascht mich, dass er sie nicht ausgehängt hat, aber wahrscheinlich braucht ihr beide wenigstens die Illusion von Privatsphäre.
“Ich will allein mit ihm sein. Geh hoch. Geh in dein Zimmer. Setz dich an die Playstation oder bekiff dich. Lunger nicht hier unten herum.”
“Du willst ihn doch nicht -” Er lacht unsicher.
“Umbringen?”, schlage ich vor.
“Willst du doch nicht?”
“Schmeiß mich doch raus.”
Er weicht wieder meinem Blick aus. Dann geht er nach oben.
Ich warte, bis er verschwunden ist, dann betrete ich das Wohnzimmer ohne anzuklopfen. Es riecht nach Nikotin und Desinfektionsspray. Das Bett steht hinten, vor der doppelflügligen Balkontür und der obere Teil ist schräg aufgerichtet, damit du hinaussehen kannst.
Du. Die bleiche Masse mit den vergilbten Haaren.
Meine Absätze knallen auf den Holzdielen und das ist gut so. Du drehst nicht den Kopf, also gehe ich um das Bett herum. Mit der kleinen Fernbedienung fahre ich es weit genug herunter, damit ich mich auf die Kante setzen kann.
“Hallo, Magier.”
Ich habe keine Ahnung, wie das für dich klingt. Oder was du glaubst, was jetzt als nächstes passieren wird. Die eine Hälfte deines Gesichts hängt schlaff herunter. Aus deinem Mundwinkel läuft Speichel in deinen Bart. Ich betrachte mir das einen Moment, deine Augen anzusehen schaffe ich noch nicht. Dann ziehe ich ein Tempo aus der Manteltasche und rutsche näher an dich heran. Lächele.
“Du sabberst.”
Ich tupfe, obwohl ich weiß, dass in wenigen Minuten alles wieder nass sein wird. Ich tupfe langsam. Sanft.
“Bin ich die erste, die das tut?”
Wahrscheinlich nicht. Ich bedauere, dass ich es mir nicht einreden kann.
Ich streiche mit dem feuchten Tempo über deine Unterlippe.
“‘Und das?”
Jetzt sehe ich dir in die Augen. Sie sind genauso hellblau, wie ich sie in Erinnerung habe, die gleichen Augen in einem verfremdeten Gesicht, aber der Funke hat Angst. Angst vor der Begrenzung seines hilflosen Körpers.
“Kannst dich nicht bewegen, hm?”
Mein Plauderton ist unangemessen, ich weiß das. Ich weiß das. Ich will das. Ich hoffe, du hörst mir die Aufregung nicht an. Das wäre mir peinlich.
“Sieht nicht gut für dich aus. Dein Sohn wird das nicht hinkriegen. Er hat zu wenig Rückgrat.”
Für einen Moment denke ich, du willst etwas sagen. Nuscheln, vielmehr. Ich habe gehört, du hättest dir vor Jahren schon alle Zähne ziehen lassen, statt dich weiter mit den endlosen Sanierungen herumzuärgern. Als sie mir das erzählt haben, fragte ich mich, ob du dich damit bestrafen willst, mit dieser Selbstaufgabe, oder ob das nur eine weitere Lüge ist, eine weitere Illusion. Du trägst kein Gebiss, Martin ekelt sich bestimmt davor, es dir in deinen faltigen, nackten Mund zu schieben. Ich weiß, dass du die Fähigkeit, Laute zu formen, nicht verloren hast. Schade, dass ich nicht herausfinden kann, ob du aus Scham schweigst oder aus einer verdrehten Form von Respekt. Vielleicht keins von beidem, selbst die gesunde Hälfte deines Körpers liegt da wie tot.
“Trägt er dich eigentlich auf’s Klo? Oder hast du Windeln?”
Eine Wange zuckt.
“Ehrlich? Darf ich mal anfassen?”
Ich greife unter die Bettdecke und lege meine Hand auf dein Bein. Ich lege sie auf die Stelle direkt oberhalb des Knies, dann schiebe ich sie langsam höher, auf der Innenseite deines Oberschenkels entlang. Ich beuge mich zu dir vor und senke meine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern.
“Ist ja nichts dabei.”
Deine Schlafanzughose schlägt Falten, sie stauen sich unter meinen Fingern, bis ich an deine Leiste stoße. Unter dem Stoff spüre ich Plastik knistern.
“Ich hoffe, du kriegst keinen Ständer.”
Abrupt ziehe ich meine Hand zurück und lege dir einen Finger auf die Lippen.
“Sag jetzt nichts Falsches. Sag lieber meinen Namen.”
Du hattest keinen Spitznamen für mich. Kein Kosewort, nicht einmal eine Abkürzung. Und meinen Namen hast du mit einer Vertraulichkeit ausgesprochen, die ihn aus dem Mund jedes anderen klingen lässt wie irgendein Wort von tausenden.
“Ein Mal nur. Für mich?”
Ich habe dir nie Gelegenheit gegeben, dir deine Schuld von der Seele zu reden. Ich komme erst jetzt, wo du es nicht mehr kannst.
Ich drücke dein Kinn nach unten, um deinen Mund zu öffnen, als würde mein Name schon irgendwo da drin warten und könnte nur den Weg nicht finden. Meine Fingerspitzen liegen noch auf deiner Unterlippe, und ich bin versucht, in deinen Mund hinein zu greifen. Vielleicht finde ich die richtigen Laute, wenn ich nur lange genug wühle.
Dann sehe ich auf, und du hast Tränen in den Augen. Der Moment ist vorbei.
“Ich bin nicht hier, um dir weh zu tun. Das weißt du doch, oder? Dass ich dir nicht weh tun will?”
Ich sage es mechanisch und wir wissen beide, warum.
Du versuchst, hektisch zu schlucken, aber es misslingt dir, und ein Schwall Speichel ergießt sich über deinen Bart und versickert irgendwo an deinem Hals.
“Ja. Kann schon sein, dass du es verdient hättest.”
Jetzt machst du Laute. Ungeschliffen, abgehackt. Mit etwas Phantasie könnte ich darin bestimmt meinen Namen erkennen.
“Weißt du, du hast Magie in meine Welt gebracht. Deinetwegen sehe ich hinter die Schleier.”
Ich suche in deinen Augen nach Anzeichen dafür, dass du mich verstehst, das ist mir wichtig, aber ich glaube, du hältst mich nur für irre.
“Deinetwegen sehe ich die Monster”, versuche ich zu erklären.
Meine Stimme klingt bedauernd, und das bedeutet, es wird Zeit, zu gehen.
Ich wische dir noch einmal den Speichel weg, mit einem frischen Taschentuch.
“Du kannst jetzt nicht mehr vor dir davonlaufen.”
Ich lasse mich vom Bett rutschen.
“Bye.”