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- 21.12.2015
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Dies ist eine Bearbeitung eines früheren Textes unter demselben Titel.
Magie
Magie
Wenn Doris gefragt wird, wie es ihr geht, sagt sie: “Gut. Sehr gut!“ Sie wird oft gefragt, zu allem Möglichen. Ihre Meinung hat Gewicht. Obwohl sie nur eins sechsundfünfzig groß ist, kehrt sofort Stille ein, sobald sie das Lehrerzimmer betritt. Besonders jüngere Frauen lauschen ihr aufmerksam, wenn sie fortfährt:
„Was wollt ihr, ich hab' ja alles, was ich brauche. Meinen Elfenbeinturm, mein Gehalt, mein Hobby.“
Meistens nimmt sie dann einen Schluck Kaffee, der neuerdings in einem höchst komfortablen Automat aufgebrüht wird.
„Und einen prima Sohn, der sich mindestens zweimal im Jahr nach seiner Mami erkundigt.“
Sie lächelt, wenn die eine oder andere protestiert.
„Ihr könnt mir glauben, erst nach den Wechseljahren beginnt die große Freiheit für uns, nicht vorher!“
Ihre beste Freundin runzelt manchmal die Stirn, zieht sie zur Seite und ermahnt sie:
„Mensch Doris, du übertreibst. Was soll der Sarkasmus? Es ist doch keine Schande zuzugeben, dass man verletzt worden ist. Wir haben schließlich alle unsere Narben.“
„Ja, die haben wir, aber die muss ja nicht jeder sehen. Das Ironische ist nun mal mein Rettungsseil, ich möchte nicht nochmal abstürzen.“ In Gedanken setzte sie ein Basta! dazu.
Doris ist zweiundfünfzig, seit fünf Jahren geschieden. Sie hält sich für eine moderne Frau, selbstbewusst, sachlich, zielstrebig; sie hat alles unter Kontrolle. Gefühle? Da lächelt sie nur.
Doris saß am runden Esszimmertisch. Er stand auf einer Galerie mit freier Sicht auf das tiefer gelegene Wohnzimmer. Dieser Blick gefiel ihr noch immer. Alles schien in schönster Ordnung.
Als vor zehn Jahren die beiden Gehälter endlich den Bau eines Eigenheims erlaubten, investierte sie mit Rolfs sporadischen Beiträgen viel an Kraft und Fantasie in das Projekt. Nächtelang brütere sie darüber, wie sich die vorhandenen Möbel farblich und stilistisch mit den Neuanschaffungen kombinieren ließen. Gemütlich sollte das Haus werden, aber nicht spießig; funktional, mit sparsam gesetzten künstlerischen Akzenten.
Doris brauchte keinen Innenarchitekten. Rolf ließ sie gewähren. Er war mehr oder weniger mit allem einverstanden, Hauptsache, er durfte seine aus der Studentenzeit gerettete Sammlung von Maßkrügen irgendwo aufstellen.
„Mach du nur, du hast den besseren Geschmack als ich. Ach, und dass ich's nicht vergesse, heute Abend ist Volleyball und danach eine Runde Doko. Es kann spät werden.“
Und dann schnappte er wie immer seine Sportklamotten und tauchte fröhlich pfeifend ab.
Doris blickte hinab auf den Kachelofen, ihrem Lieblingsstück. Modernes Design, beileibe keine Attrappe. Dazu gehörte eine Kunscht, eine beheizte Kachelofenbank, ihr Zugeständnis an örtliche Traditionen. Vor allem aber eine Zuflucht für Vater, Mutter, Kind nach eisigen Nachmittagen am Skihang. Sie hatte ein Haus gewollt, das den Namen Heim verdiente.
Doris erinnerte sich daran, wie Rolf überall in den höchsten Tönen davon geschwärmt hatte. Alle wären nur zu gerne einmal ihre Gäste gewesen.
„Lass uns wenigstens deinen Fünfundvierzigsten bei uns feiern. Ich krieg das schon hin. Mara und Elisabeth helfen bestimmt. Du musst dich nur um die Getränke kümmern.“
„Ich weiß aber überhaupt nicht, wen ich einladen soll und wen nicht. Da ist immer einer beleidigt.“
„Mein Gott, das Problem hat jeder! Da muss man halt was riskieren.“
„Keine Lust! Eigentlich will ich überhaupt nicht feiern. Fünfundvierzig! Glaubst du vielleicht, das wäre ein Grund zum Jubeln?“
„Warum nicht, nächstes Jahr bin ich dran. Und du gehst ja auch zu jedem Geburtstag.“
In den ersten Ehejahren waren sie bei solchen Events als gern gesehenes Paar aufgetreten. Später blieb Doris zuhause bei Florian. Es ging durchaus gerecht zu, denn umgekehrt passte Rolf auf sein Söhnchen auf, wenn Doris etwas vorhatte. Als wichtiges Mitglied des schuleigenen Kabaretts durfte sie natürlich bei keiner Probe fehlen. Die Auftritte galten als Highlights des Schuljahres. Rolf lobte ihre Texte überschwänglich. Beinahe wäre er auch einmal mitgekommen.
Doris lehnte sich zurück und zog Bilanz. Zwei Ziele von dreien, die sie sich so um die fünfundzwanzig gesetzt hatte, waren erreicht: Sie hatte ein Kind geboren und ein Haus gebaut. Einen Baum zu pflanzen, hatte sie Rolf überlassen. Das dritte Ziel, nämlich ein Buch zu schreiben, schob sie einstweilen noch vor sich her.
Im Augenblick jedoch stand sie vor einer ganz anderen Herausforderung: Sie musste ihr Leben neu sortieren. Die Scheidung lief bereits. In wenigen Tagen würden alle drei das Haus verlassen und jeder woanders einziehen. Der Vater bei seiner neuen Liebe, der Sohn in ein Studentenapartment, die Mutter in eine kleine Single-Wohnung hoch über den Dächern der Stadt. Hausrat und Möbel waren restlos aufgeteilt, dabei ging es großzügig zu: du die Ledersessel, ich das Sofa. Kein Streit um die silbernen Kaffeelöffel und die Familienkutsche. Seit ihrem Unfall — Florian im Kindersitz auf der Rückbank — fuhr sie sowieso nicht mehr gern.
Die Freunde — unsicher und ängstlich darauf bedacht, ja nicht Partei zu ergreifen — bewunderten das geräuschlose Tempo, mit dem diese Trennung abgewickelt wurde. Verstehen konnten sie rein gar nichts. Sie verbuchten Rolfs Verhalten unter dem bequemen Schlagwort Midlife-Crisis. Rolf sah das aber völlig anders.
„Weißt du“, sagte er zu Doris, „die sind ja bloß neidisch. Die würden doch alle gern mit mir tauschen.“
Zu seiner künftigen Ex hatte er nach wie vor unbegrenztes Vertrauen. Regelmäßig informierte er sie über den aktuellen Stand der Beziehung zu seiner Freundin. Sie hielt ihn anscheinend schwer auf Trab.
„Wenn sie auftritt, dreht sich alles um sie. Sie könnte jeden haben. Gestern hat sie mich zum ersten Mal als ihren neuen Lebenspartner vorgestellt!“
„Du meinst wohl neuen Lebensabschnittspartner.“
„Nee, Edelgard ist was Besonderes, du wirst sehen.“
Rolfs Schwärmerei war nicht zu bremsen. Gegenüber Florian rettete sich Doris in Ironie.
„Ich glaube, dein Vater ist nahtlos von der Pubertät in die Midlife-Crisis übergewechselt.“
„Mama!“ Florian war ehrlich entrüstet. „Du kannst ihn doch unmöglich in Schutz nehmen!“
„Ich möchte nicht, dass du so wütend bist auf ihn. Er ist und bleibt dein Vater.“
„Aber was wird mit dir? Wie kannst du das nur aushalten?“
„Mach dir um mich keine Sorgen. Versprich mir, dass du dich um ihn kümmerst. Weißt du, er kommt einfach nicht damit zurecht, dass die Jahre im Klosterinternat ihm die Jugend verdorben haben.“
Bei diesem Thema ergriff Florian gewöhnlich die Flucht. Doris verstand ganz gut, dass es ihm peinlich war.
Nun also saß Doris an diesem Januarabend am Tisch, vor sich einen Berg Fotoalben. Sie hatte es übernommen, diese Beweisstücke des gemeinsamen Lebens zu sichten und gerecht aufzuteilen. Das Hochzeitsalbum würde sie behalten. Ein einziges Bild, und zwar jenes, auf dem sie böse ist in die Kamera schaute, weil die Eltern auf einem offiziellen Brautfoto bestanden hatten, sollte Rolf bekommen, sozusagen als Morgengabe. Ein kleiner Hieb gegen die Neue, die wahrscheinlich nicht wusste, wie oft Rolf und Doris in schönstem Einvernehmen über die Hintergründe dieses Fotos herumgealbert hatten. Doris amüsierte sich immer noch darüber. Unsere Spießereltern! Wollten die Braut unbedingt in Weiß sehen! Was für Illusionen!
Doris stand auf und ging zum Fenster. Unruhig starrte sie in den wirbelnden Schneeregen. Die Aufgabe war doch schwieriger, als sie sich vorgestellt hatte. Sie fröstelte. Ein Glas Wein wäre jetzt nicht schlecht. Sie legte einen dicken Klotz im Kachelofen nach. Ihr fielen die zwei Flaschen Barolo im Weinkeller ein, Trophäen des letzten gemeinsamen Italienurlaubs. Sie hatten den teuren Tropfen für einen besonderen Moment aufgespart. Wann, wenn nicht jetzt? Sie holte beide Flaschen, entkorkte die eine sorgfältig und stellte die andere in Reichweite. Dann nahm sie einen kräftigen Schluck aus einem geschliffenen Muranoglas und ließ ihn auf der Zunge verweilen. Auch das Weinglas war ein Erinnerungsstück aus Italien.
Sie griff nach dem ersten Kinderalbum. Flori im Kreißsaal, gerade geboren. Flori bei der Taufe, die Fingerchen gespreizt, das Mäulchen verzogen. Flori mit der Stoffpuppe Fratzi. Die hatte Rolf dem Kleinen mitgebracht, um ihn über die schlimmen Tage des Pfeifferschen Drüsenfiebers hinwegzutrösten. Ohne Fratzi durfte viele Jahre keine Reise angetreten werden.
Zum Glück gab es dank Opa die meisten Kinderbilder doppelt, so dass es nicht schwierig war, Florians Vater ein ganzes Album zu überlassen.
Doris goss sich das zweite Glas ein. Nun die Fotos aus dem jährlichen Urlaub in Ligurien. Der Wein weckte schmerzende Erinnerungen an den Geschmack und Geruch jener Sommerabende. Damals konnten sie nicht genug davon kriegen, deutsch-italienische Limericks zu dichten, die sie dann als Urlaubsgrüße an alle möglichen Leute verschickten. Zum Schreien komisch war auch das Foto mit Rolf, wie er vergeblich mit der bombola kämpfte, jener vertrackten Gasflasche, die durchaus nicht zünden wollte.
Allmählich geriet Doris in eine grimmig-heitere Stimmung. Die erste Flasche war schon fast leer, aber sie hatte ja noch die zweite. Jetzt sortierte sie schwungvoll nach dem Strickmuster eins rechts, eins links. Ah ja, das erste Silvester im eigenen Heim! Flori durfte bei seinem Freund übernachten. Rolf und ich sind auf der Kindermatratze durchs ganze Treppenhaus gerutscht, bis vor den Kachelofen. Da brauchten wir gar nicht mehr aufzustehen ... Halt! Vermintes Gelände! Nur nicht daran rühren! Es war so schön gewesen.
Der Stapel hatte sich gelichtet. Doris räumte die schon bearbeiteten Haufen in zwei eigens dafür bereit gestellte Kartons. Die beiden letzten Alben gingen sie eigentlich gar nichts mehr an. Es war spät. Draußen nahm der Schneefall zu, bald würde es wieder mit Skifahren losgehen. Doris schenkte sich nochmals ein und schlug dann das erste auf. Es enthielt Rolfs Fotos von seinen Bergtouren und Skiferien mit den lieben Kollegen und vor allem Kolleginnen. Rolf hatte ihr die Bilder schon früher einmal flüchtig gezeigt. Da hatte sie noch nicht geahnt, dass es sich bei dieser herausfordernd lächelnden, zweifellos attraktiven Person mit dem modischen Afrolook um Rolfs Seitensprung handelte. Er hatte den Arm um Edelgard gelegt. Die Geste sagte der Welt: „Seht her, sie gehört mir!“
Schlagartig packt Doris ungezügelter Zorn auf diese Person, die anderen Frauen ungestraft den Mann wegnehmen darf. Es ist ja nicht das erste Mal, Doris kennt inzwischen noch zwei weitere Opfer. Eine Diebin ist sie, eine Verräterin am für Doris so wichtigen Ideal von weiblicher Solidarität! Erbittert starrt sie auf das triumphierende Gesicht und stellt sich die ebenso alte wie törichte Frage: “Was hat sie, was ich nicht habe?“ Darauf gibt es keine Antwort. Oder doch? In Doris wächst das Gefühl, sie müsse sich wehren. Sie müsse endlich ihren Zorn und Frust und ihre Schuldgefühle herauslassen mit irgendeinen Befreiungsschlag. Gibt es da nicht weibliche Magie, ein Ritual, einen Voodoo-Zauber? Aus einem tief in ihrem Unterbewusstsein verborgenen Ort taucht ein Bild auf.
Sie holt eine Stricknadel und sticht der Frau mit dem lächerlichen Namen Edelgard die Augen aus. Nun sieht die Dame schon nicht mehr so siegessicher aus. Jetzt Stiche in die linke und die rechte Brust. Rolf daneben grinst auf einmal ziemlich dumm. Der merkt ja gar nicht, dass er eine Leiche im Arm hält. Nun fehlt nur noch der rituelle Feuertod. Sie öffnet die Kachelofentür, schaut auf den rot glühenden Scheiterhaufen und wirft Stück für Stück die quälenden Bilder ins Feuer, zuletzt das zerstochene mit Rolf und Edelgard. „Ich verfluche dich“, murmelt sie, zuerst ganz leise, zuletzt schreit sie. Dreimal. Das Foto windet und krümmt sich in den Flammen, Doris lacht, dann schreit sie immer wieder: „Ich hasse dich“ und verfolgt die Aschefetzen, die es hinauf in den Kamin jagt. Als sie schließlich die Ofentür zuklappt, kann sie endlich, endlich weinen.
Einige Wochen später, alle haben sich mit der neuen Situation leidlich arrangiert, hängt ein schluchzender Rolf am Telefon.
„Sie hat Brustkrebs! Und sie dreht fast durch! Was soll ich bloß machen?“
Doris stutzt und fragt, seit wann Edelgard diese Diagnose kennt.
„Erst seit ein paar Tagen, aber die Knoten hat sie schon länger entdeckt. Ich glaube, an dem Tag, wo ich bei ihr eingezogen bin.“
„Nun, da wirst du eine verantwortungsvolle Aufgabe bekommen“, antwortet Doris kühl und wie aus weiter Ferne, „ich wünsche euch beiden Glück.“ Und legt auf.
Später stellt sich zu Doris' Erleichterung heraus, dass Edelgard erstklassige Heilungschancen hat. Die Arme ist jetzt in guten Händen, allerdings nicht in denen Rolfs. Auf der Jagd nach der scheinbar versäumten Jugend ist er weitergezogen. Er lebt derzeit mit einem sehr netten Mädchen zusammen, das etwas jünger ist als sein Sohn Florian.
Doris hat neuerdings einen aufmerksamen, sensiblen Freund. Seit sie ihm in einem Anfall von Vertrauen die Geschichte ihres magischen Racheaktes erzählt hat, verzichtete sie beim Kniffelspielen darauf, auf die Würfel zu spucken. Sie hat nämlich beobachtet, dass Benno immer ganz blass um die Nase wird, wenn ihr nach diesem bisschen Magie die Würfel ganz nach Wunsch fallen. Doris hat ein neues Hobby. Statt selbst zu schreiben, studiert sie wissenschaftliche Literatur über weiße und schwarze Magie. Sie weiß jetzt sehr viel darüber.