Mafiant - oder der Elefant im Raum
Das Haus steht neben der riesigen Holzschnitzerei, die einen Baum darstellt, nicht weit entfernt vom Zoo, der über dem Rathaus an keiner Straße steht. Auf dem Boden sitzen Frösche, die keinen Mucks sagen und sich bald als einfache Blätter entpuppen, die ständig quaken. Der Wind rauscht in den Fröschen.
Ich steige langsam die Treppe, die zur Terrasse hinunterführt, hinauf, und schaue auf die Uhr. Es ist zehn Uhr eins. Noch eine Minute. Ich schaue zurück, doch unter der Erde sieht man ja nicht viel und ich denk an einen Besenstiel, aber auch nur, weil sich das reimt.
Ich schaue wieder auf die Uhr. Jetzt ist es zehn. Vor der Zeitrechnung läuft die Zeit rückwärts. Ich muss innerlich kichern. Woher will man so etwas wissen?
Ich klingele. Das Haus stöhnt, hat wohl geschlafen, und ich höre Schritte aus der Ferne. Ein Blick auf die Uhr. Es ist neun Uhr neunundfünfzig. Die Schritte kommen näher, aber nicht schnell, eher so, als würde der Gehende auf einem Laufband herkommen, das in die entgegengesetzte Richtung läuft.
Ich schaue wieder auf die Uhr, neun Uhr achtundfünfzig, und denke, dass hier grad nicht viel läuft. Und jetzt denke ich, dass ich weniger denken sollte. Aber das ist ja ein Widerspruch in sich.
Neun Uhr siebenundfünfzig. Otto macht die Tür auf und murmelt irgendetwas, das ich nicht verstehen kann.
„Was?“, sage ich, und Otto hält sich gequält die Ohren zu.
„Du sollst nicht so laut reden“, brummt er, und ich verstehe nicht, weil ich vorher ja gar nichts gesagt habe.
„Sind alle da?“, frage ich möglichst leise.
Otto nickt und schüttelt den Kopf. Ich glotze verständnislos.
Otto seufzt, als wäre ich ein Idiot. „Manche ja, manche nein.“
„Ach so“, sage ich. „Wo ist der Elefant?“
Otto geht ins Haus zurück und ich folge ihm. „Im Keller angekettet.“ Er dreht sich nach rechts und führt mich durch den Flur, der mir irgendwie sehr lang vorkommt.
„Kommt er auch nicht raus?“, frage ich besorgt.
Otto stößt ein Geräusch aus, das wahrscheinlich ein Lachen sein soll. „Der kam nicht mal rein!“ Er grinst, und sein Gesicht hat mehr Falten als je zuvor.
„Dann ist ja gut“, sage ich, aber ich bin mir da nicht so sicher.
Der Flur geht noch weiter, doch wir halten bei einer Tür, die Oper singt. Sehr schön singt, wie ich sagen muss, aber das Ganze kommt mir doch ein wenig seltsam vor. Ich meine, die Tür hält sich nicht wirklich so gerade, wie die Kunst es von ihr verlangen würde.
Otto schließt sie auf und schlägt sie gegen die Wand, sodass sie verstummt. Brutal, brutal, denke ich, aber das hat sie für ihre schlechte Haltung auch verdient. Wir treten in den Raum dahinter, der ein kleines, aber großes Wohnzimmer ist. Zwei Männer sitzen auf Stühlen, drei Frauen auf einem prächtigen Canapé, einer kniet, ein Butler steht versteinert in der Ecke, und der Elefant im Raum sitzt auf einem großen Sessel, raucht eine Zigarre und sagt immer wieder: „Hö, hö, hö.“
Otto kündigt mich an und alle drehen sich zu mir um. Nur der Butler rührt sich nicht. Der Elefant senkt seine berechnenden Augen auf mich, stößt Rauch aus dem Rüssel und sagt: „Hö, hö, hö.“ Ansonsten äußert niemand irgendetwas.
Bis ich es tue. „Das ist schlecht für sie“, sage ich und zeige auf die Zigarre.
Der Elefant lehnt sich nach vorne. „Ich habe ein gutes Gedächtnis. Er tippt sich mit der Zigarre an die Stirn.
Ich schüttle den Kopf. „Es geht aber um die Lunge.“
Der Elefant versucht, mit dem Vorderbein seinen Zylinder zu richten, merkt aber, dass sie zu kurz ist, und lässt es sein. „Hö, hö, hö. Was ist die Lunge schon ohne ein Gedächtnis? Ein nutzloses Organ.“
„Es hält einen am Leben“, sage ich und merke, wie die Anwesenden mein ständiger Widerspruch nervt. Nur noch einmal, denk ich mir.
Doch der Elefant lacht sein Lachen nur ein wenig lauter. „Hö, hö, hö! Wozu leben ohne Gedächtnis? Dann hat das Leben keinen Inhalt. Dann sind wir eine leere Hülle!“
„Ja, eine leere Hülle mit einer Lunge.“ Ich muss husten, weil der Rauch der Zigarre in meinen Atem dringt.
Der Butler räuspert sich, bevor der Elefant etwas erwidern kann, und deshalb lässt er nur noch ein leises „hö, hö, hö“, erklingen, während der Butler auf einen freien Stuhl zeigt.
„Da ist ein Stuhl.“
„Danke“, sage ich und setze mich.
Der Butler räuspert sich. „Sir“, sagt er zum Elefanten, der sich mit dem unvermeidbaren „hö, hö, hö“, zu ihm dreht, „alle anwesenden sind anwesend.“ Er wirft einen Seitenblick auf Otto. „Und alle anderen auch.“ Otto grinst nur.
Der Elefant lässt ein geräuspertes „hö, hö, hö“ erklingen und wirft einen aufmerksamen Blick in die Runde. „Die Fracht“, sagt er unheilverkündend, „ist nicht angekommen.“
Schweigen. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, weil das Holz doch sehr hart ist, und höre dann auf, weil der Butler mir einen tadelnden Blick zuwirft. Ich fühle mich wie ein zurechtgewiesenes Kind. Ich schaue auf die Uhr. Neun Uhr fünfundvierzig.
Eine der Frauen bringt genug Mut auf, um etwas zu sagen. „Sie wurde aber abgeschickt.“ Ihre Stimme zittert, sie hat Angst. Ich frage mich, ob ich auch Angst habe, aber ich bin mir nicht wirklich sicher. Alle anderen scheinen jedoch, Angst zu haben, und vielleicht sollte ich deshalb ebenfalls Angst haben. Muss ich mich zur Angst zwingen? Nein. Ich entscheide mich dazu, die Angst von allein kommen zu lassen, wenn sie denn kommen muss.
Der Elefant lächelt, aber es ist kein nettes Lächeln, eher ein Lächeln von der Sorte, die einen Menschen in tausend blutige Stücke zerreißen würde, wenn es nur könnte. Es sieht so aus, als wäre es kurz davor, zu einer riesigen, verzerrten Grimasse zu werden. Der Elefant wirkt in etwa so ruhig wie ein Hund, der an einen schönen, großen Knochen nicht herankommt, weil er angekettet ist, und stößt jedes Wort nur mühsam beherrscht aus.
„Die Fracht – hö hö hö – ist aber – hö hö hö – nicht angekommen! Hö hö hö!“ Das letzte Hö hö hö ist laut und klingt fast schon auf komische Weise empört, wobei es ganz bestimmt nicht so vom Elefanten beabsichtigt war.
Die Frau, die gesprochen hat, scheint um einen ganzen Meter kleiner geworden zu sein. „Aber… aber sie wurde doch losgeschickt, dann muss sie doch auch…“
Der Elefant verliert nun endgültig die Beherrschung. „Es ist vollkommen egal, dass die Fracht losgeschickt wurde, wenn sie nicht angekommen ist!“, trötet er. „Was bringt es mir denn, dass sie losgeschickt wurde, kannst du mir das sagen?! Hö hö hö! Sie ist nicht da, und damit zu rein gar nichts nutze! Ich habe ein Vermögen verloren, weißt du das eigentlich?“
„Ich… ich…“
„Ich, ich“, äfft der Elefant sie nach. „Wen mach ich jetzt dafür verantwortlich, hm? Dich? Hö hö hö!“ Die Frau zuckt zusammen und schüttelt verzweifelt den Kopf. Der Elefant zeigt auf den Butler. „Dich?“ Der Butler scheint als einziger völlig unberührt von der Situation zu sein. Niemand sagt etwas. Der Elefant, der sich, während er gesprochen, langsam von seinem Stuhl erhoben hat, wirft wütend die Zigarre fort, sodass sie rauchend quer durch den Raum fliegt, umschlingt mit dem Rüssel den Hals des Mannes, der am Boden kniet und bisher mit geschlossenen Augen bewegungslos und still geblieben ist, und hebt ihn hoch. Der Mann stößt ein leicht panisches, gurgelndes Geräusch aus, bis der Elefant ihn mit dem Kopf gegen die Wand donnert, sodass dieser aufplatzt wie eine reife Frucht und die Wand sowie die Anwesenden, wobei vor allem mich, mit Blut und kleinen Gehirnstücken bespritzt. Ich blinzele verwirrt und wische mir Blut aus den Augen, während der Elefant einen Moment den halb-kopflosen Leichnam betrachtet und danach resigniert fallen lässt, um sich dann wieder hinzusetzen.
„Hö, hö, hö“ Sagt er sanft. „Wer weiß, wo die Fracht hin ist?“
Niemand antwortet. Nur ich hebe zögernd die Hand, weil ich eine Frage stellen will, die mir schon lange auf der Zunge brennt. „Um welche Fracht geht es denn überhaupt?“
Der Butler räuspert sich. „Die Fracht in Frage ist die vom Donnerstag, die immer um zwei Uhr dreizehneinhalb losgeschickt wird, sodass sie um zwölf Uhr einunddreißig ankommt.“
„Ach, die!“, sage ich verstehend, und mir geht ein Licht auf.
Der Elefant schaut mich drohend an und lehnt sich auf seinem Sessel nach vorne, sodass das alte Holz knackt und eine Termite aus einem Bein kriecht, sich piepsend wütend beschwert und dann wieder verschwindet. „Was weißt du? Hö, hö, hö“, fragt der Elefant, und seine Augen blitzen bedrohlich.
Ich lächle. „Die hab ich verkauft.“
Der Rüssel zuckt. „Hö, hö, hö. Du hast was?“
„Ich habe die Fracht verkauft. Grad heute Morgen.“
Der Elefant lehnt sich zurück. „Verkauft. Hö, hö, hö. An wen?
„An die Leute vom Ghettowal in der Weststadt.“
Der Elefant sprüht den guten Bordeaux, den er gerade in seinen Rüssel gezogen hat, über die ganze Gesellschaft und sieht überhaupt nicht begeistert aus. „Du hast die scheiß-Fracht an den scheiß-Ghettowal in der Weststadt verkauft?!“
„Ja, natürlich.“ Ich schaue mich um. Ich hatte eigentlich Zufriedenheit erwartet, schließlich habe ich ja Geld draus gekriegt, aber den Elefanten scheint das nicht zu interessieren, und alle anderen sehen auch eher entgeistert in die Runde.
Der Elefant versucht, aufzustehen, doch er ist wohl zu geschockt, um sich richtig zu bewegen und sieht dem Ghettowal aus der Weststadt deshalb ironischerweise ziemlich ähnlich. „HÖ, HÖ, HÖ!“ Es klingt nun eher wie ein Husten. „Du Idiot! Die Fracht war voller Dynamit! Hier fliegt gleich alles…“
In diesem Moment fliegt alles in die Luft. Plötzlich grollt ein Donnern durch die Räume und unter dem Elefanten explodiert der Stuhl, sodass Elefantenteile durch die Gegend fliegen und die meisten Anwesenden erschlagen. Die Wände biegen sich nach Innen und sehen aus, als würden sie gleich bersten, und von der Decke fallen Steine und Putzstücke, die sich gelöst haben. Diejenigen, die das Vergehen des Elefanten überlebt haben, stehen und sitzen wie gelähmt in der Gegend herum, als wären sie zu Stein erstarrt. Ich entscheide mich dazu, es ihnen nicht nachzumachen, springe auf und renne zur Tür, die vom Butler, der von einem der Stoßzähne des Elefanten aufgespießt an der Wand hängt, aufgehalten wird. Ich bedanke mich überflüssigerweise und finde mich auf dem Flur wieder. Ich habe keine Ahnung, wo ich jetzt hinmuss, aber hier bricht gleich alles zusammen, und darum laufe ich einfach mal los. Die Tür, die vorhin Oper gesungen hat, schreit mir hinterher, ich solle sie mitnehmen, aber ich bin ja nicht so blöd und schleppe eine Tür mit, die sich beim Singen nicht richtig halten kann. Einen Moment lang denke ich, ich bin betrunken, weil der Flur sich so zur Seite neigt, aber dann merke ich, dass es nicht an mir liegt, sondern tatsächlich am Flur, und darum reiße ich die nächste Tür auf, hinter der eine Treppe nach unten führt. Auf dem Hinweg gab es zwar keine Treppe, aber vielleicht habe ich ja Glück, und darum nehme ich immer zwei Stufen auf einmal. Die Wände stöhnen und ächzen, stellen ihre sehr ästhetischen Steine ein letztes Mal zur Schau, während ich mich kaum darum kümmere.
Am Ende der Treppe liegt der Keller. Das ist für mich nicht gut, aber das hätte ich mir auch denken können. Ich öffne die nächstbeste Tür und starre einem angeketteten und geknebelten Elefanten in die Augen, der, wie es aussieht, im Begriff ist, von einem Wildschwein ausgepeitscht zu werden, das jetzt jedoch innehält.
Ich räuspere mich verlegen. „Ähm… hier… hier bricht gerade alles zusammen.“
In der Ferne donnert es wieder.
Das Wildschwein nickt langsam. „Das wissen wir. Alles gut.“
Ich schließe langsam wieder die Tür. „Gut, dann… viel Spaß noch.“
Das Wildschwein lächelt, entblößt seine riesigen Hauer und sieht dabei wie ein Anime-Charakter aus, dem gerade jemand etwas zu essen gegeben hat. „Merci.“
Ich verlasse die beiden und renne durch den Keller, der ziemlich groß ist. Ich biege um eine Ecke und renne plötzlich neben Otto, der mehr rollt, als das er rennt.
„Wehe, du lachst“, sagt er, stolpert, fällt und rollt weiter, bis er von einer Wand gestoppt wird. Ich lache.
Vor mir öffnet sich plötzlich eine Treppe nach oben und ich springe hoch, wobei ich drei Stufen auf einmal nehme. Oben komme ich an einen Durchgang, der von Hängepflanzen verhangen wird. Ich hechte durch sie hindurch, höre noch, wie sie sich beschweren, dass ich ihren Schlaf ja nicht so stören könne, und liege dann zwischen hunderten von Fröschen, die mich missbilligend anglotzen. Ich stehe auf und sehe, dass ich auf der anderen Straßenseite vom Elefantenhaus stehe, das just in diesem Moment gleichzeitig explodiert und in sich zusammenfällt.
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, stecke die Hände in die Taschen und wende mich pfeifend um, nur um zu sehen, dass ein riesiger Fleischberg mir den Weg versperrt. Ich höre auf, zu pfeifen.
Der Ghettowal von der Weststadt beugt sich zu mir hinunter. „Gut gemacht“, keucht er heiser, hebt die Flosse, woraus ein großer, mit Münzen gefüllter Lederbeutel in meine, zugegebenermaßen zu weite, Hose fällt, und watschelt davon.