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Madagaskar
Als ich zum zweiten Mal an diesem Tag zu Petra und ihren Kindern komme, sitzt sie vor Nudeln mit Soße, die kalt sind. Das erste Mal stand der Kombi des Bestattungsunternehmens im Hof und ich zog mich nach einem leisen Gruß Richtung Chauffeur zurück, ohne ins Haus zu gehen.
Sie holten Peter, ihren Mann.
Am Küchentisch sitzen wir uns schräg gegenüber, Petra und ich. Die anderen um den Tisch herum nehme ich erst einmal nicht wahr.
„Sie rannten dem Wagen hinterher, als er aus dem Hof gefahren wurde. Alle Kinder rannten hinter ihm her. Sie schrieen sich fast die Lungen aus dem Leib, besonders Martina und Barbara“, erzählt sie mir leise, “das war der schlimmste Moment bisher.“
Thomas, der Jüngste und wie sein Bruder Jojo noch Grundschüler, legt fünf Päckchen Tempo auf den Küchentisch und sagt: „Mama, die nehm ich mit zu Papas Beerdigung. Alle mit Madagaskar-Tieren. Guck: Das Zebra, der Löwe...“
„Du meinst, wir brauchen so viele Tempos?“, fragt ihn Petra.
„Mama, die reichen doch nicht für alle... für mich, für Jojo und du kannst auch noch welche haben. Die anderen müssen selber mitnehmen.“
Meine Nachbarn Sonja und Rolf sitzen hinten auf der Eckbank. Man besucht sich nach einem Todesfall, hier in diesem kleinen Ort. Man spricht miteinander, bietet Hilfe an und gibt sie gleich durch ein Gespräch oder Zuhören. Rolfs rechter Zeigefinger ist vom Nagel bis zum Mittelknötchen genäht, das Fleisch noch rosarot.
„Mensch Rolf“, frage ich, „was hast du mit deinem Finger angestellt?“
„Mein Sommerunfall, blöd gesägt, Glück gehabt.“
Kurz waren meine Gedanken mit einem blutüberströmten Finger beschäftigt. Ich wundere mich.
Peter ist tot, zehn Kinder haben keinen Vater und Petra keinen Mann mehr und ich interessiere mich für so einen läppischen Kreissägenschnitt, der Rolf höchstens den Zeigefinger hätte kosten können.
„An so viel ist zu denken“, spricht mich Petra an, „und die Kleinen haben nur noch ausgelatschte Schuhe, wann ich die bis zur Beerdigung noch neu ausstaffieren soll, weiß ich auch nicht.“
Martina kommt mit einer Freundin in die Küche. Die älteren Kinder sind alle in Trauerschwarz, das ist auch kein Problem bei der heutigen Mode, denke ich. Die drittälteste Tochter setzt sich auf den Schoß ihrer Freundin und nippt an einer heißen Tasse Kaffee, an der sie sich zitternd festhält.
„Ich nehm die Kleinen mit und gehe Schuhe kaufen“, sage ich bestimmt, „dann kann ich dir wenigstens damit etwas helfen und die Jungs haben vielleicht mal für ein paar Momente was anderes im Kopf.“
Im Schuhladen entpuppt sich mein Angebot als teilweise schwierige Aufgabe, obwohl beide mit Feuereifer bei der Sache sind. Für Thomas ist gleich ausgesucht.
„Mir tun alle Schuhe da in der Mitte weh“, jammert Jojo. Überbreite Füße lassen uns lange suchen. Frau Kern, die von der Kfz-Werkstatt mit ihren grell leuchtend roten Haaren, steht plötzlich vor uns.
„Ah, Frau Meyer, auch am Einkaufen“, begrüßt sich mich einfallslos und deutet auf Thomas und Jojo, “sind das nicht Lapperts Buben?“
„Genau.“
„Ja, wie geht es denn eurer Mama?“, fragt sie und beugt sich leicht nach unten, in Richtung Kinder.
Thomas schaut sie mit offenem Blick an: “Der Mama, der geht es gut, aber der Papa, der ist gestern gestorben.“
Sie schluckt. Einmal. Zweimal. Dann ist sie weg. Kein Wort mehr, kein Blick. Als wäre Feueralarm ausgebrochen, der einem von allem, was mit Höflichkeit zu tun hat, entbindet.
Ich kaufe Jojo Schuhe, die wunderbar passen und entsprechend teuer sind. Das lässt mich entspannen, wenn ich auch sechs Stunden von meinem Nebenjob draufgehen, denn diesen Luxus kann ich Petra nicht antun.
„Zum Abschluss gehen wir noch an die Eisdiele beim Münster.“
„Eine Kugel oder zwei?“, fragt mich Thomas spitzbübisch.
„Wenn du willst, drei.“ Ausnahmesituationen lassen großzügig werden.
Wir sitzen auf der Treppe unterhalb eines wichtigen Menschen, der in Stein gehauen ist.
Links und rechts neben uns Taubenkot; fast akrobatisch suche ich für mein Hinterteil einen freien Platz.
„Dem Papa geht’s jetzt gut, jetzt tut ihm nichts mehr weh“, nuschelt Jojo zwischen zwei Schleckern seines Schokoeis, „aber ich würd’ ihn gerne jetzt schlecken lassen, Schoko ist doch auch seine Lieblingssorte.“
„Der kriegt doch da oben im Himmel soviel Eis, wie er will“, ruft Thomas.
„Meinst du?“, schaut ihn sein Bruder skeptisch an.
Ihr weiterer Lebensweg ohne Papa wird Spuren hinterlassen, denke ich, und stelle mir vor, dass sie vielleicht als Pubertierende oder selbst in der Situation, Vater zu sein, viel zum Nachdenken und Verarbeiten haben werden. Ich wünsche ihnen, dass sie immer Menschen an ihrer Seite haben, die damit umgehen können.
Ich betrachte die beiden, wie sie froh an ihrem Eis schlecken, mit Tränen in den Augen und bin mir nicht sicher, ob es welche der Trauer oder schon der Hoffnung sind.