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Maatje und der Schwan (Erweiterte Version)
Der Gedanke, dass die Neue das Büro mit ihr teilen wird, stört Annika schon Wochen voraus. Dann kommt sie und heißt Maja. Ihre Kraushaare flattern wild und ungekämmt in alle Richtungen. Munter erzählt sie von ihrem Studium und ihrem Freund, der irgendwo in einer Wüste an Ausgrabungen teilnimmt. Dann wieder schwärmt sie von ihren Weltreisen mit billigen Never-comeback-Bussen. Einmal hätten sie in Griechenland am hellerlichten Mittag nackt in einer Bucht gebadet und wären fast ertrunken vor Lachen. Ein Pope, der am Strand entlang ging, habe sich bekreuzigt, als er sie so sah.
„Das war echt komisch. Dann drehte er sich nochmal um, stand da und glotzte, ohne sich zu bekreuzigen.“ Darüber kann sie immer noch lachen.
Maja trägt tief ausgeschnittene Tops und man kann die Plastikbändel ihres BHs sehen. Annika findet das im Büro unpassend und überhaupt alles, was Maja erzählt, zu leichtfertig, kindisch und unbedacht. Es ist nicht ihre Welt. Auch stört sie, dass Maja mit Stöpseln im Ohr vor sich hin summt, tanzend durch das Büro hüpft, ständig die Bürotür offen lässt, ihre Jacke über den Papierkorb wirft, barfuß herumläuft, sogar barfuß aufs Klo geht.
„Die Heels gehn nicht für den ganzen Tag. Zu hoch. Aber ich liebe sie.“
Als sie einen Schwan aus rosa Pappmaché über ihren Schreibtisch nagelt, holt Annika dreimal tief Luft, sie verabscheut Kitsch.
Sonst macht Maja ihre Arbeit gut. Sie stellt die Akten neu zusammen und bringt System in die Ablage. Sauber beschriftet reihen sich mehr und mehr bunte Ordner in den Regalen. Also schluckt Annika den großen Ärger. Den kleinen aber kann sie sich nicht verbeißen und rügt Maja bei geringsten Versäumnissen. Sie muss sich schwer beherrschen, einen angemessenen Ton zu behalten. Heute, am Vormittag, gelingt ihr das nicht.
Heftig sagt sie:
„Du musst nicht meinen, dass du die Chefin spielen kannst. Du bist hier nur geduldet und hast keine Rechte.“
Maja blickt entsetzt zu ihr auf. Was aber noch schlimmer ist, sie dreht sich schweigend weg, schaut kurz aus dem Fenster einer Möwe nach, senkt den Kopf und arbeitet weiter. Annika spürt, wie sich heiße Wellen der Scham in ihr ausbreiten.
Musste die Bosheit, die schon seit Wochen in ihr rumorte, ausgesprochen werden? Musste sie laut werden, damit Annika sie hören und gleich wieder bereuen konnte?
Mit einem Mal fühlt sie sich alt, einsam, verletzlich und müde. Alles, was sie sich mit viel Selbstdisziplin und Verzicht erarbeitet hat, ist jäh an dieser jungen Frau zerbrochen.
Am Nachmittag nimmt sich Annika frei. Sie will zum alten Hafen gehen. Der Blick über das Meer, der weite Himmel, der Wind geben ihr immer Kraft und helfen, wenn sie in Not ist.
„Wegen einer kleinen Aushilfe! Wegen Nichts, nur weil sie mich nervt“, denkt sie. „So jung ist sie und ich … Zum Heulen! Wie soll ich da wieder rauskommen?“
Annika kennt den Weg durch die Dünen und wundert sich, dass hier jetzt eine lichte Nebelwolke wabert. Auch den alten Fischer hat sie noch nie gesehen. Er sitzt vor einer Hütte auf einem Stapel aus angeschwemmtem Holz und lauscht an einer Muschel. Annika grüßt ihn. Er blickt kurz zu ihr auf, schiebt seine Pfeife in die Zahnlücke und nuschelt:
„Im Augenwald sieh dich nicht um, sonst erfrierst du!“
Sie bleibt stehen, um den Fischer nach dem Warum und Wieso zu fragen, aber der sieht an ihr vorbei zum Hafen hinunter. Sie folgt seinem Blick: Im Schatten dümpelnder Fischerboote putzt ein Schwan sein Gefieder. Neben ihm erkennt sie schemenhaft eine Frau. Maatje?
Maatje. Lebensfroh soll sie gewesen sein. Sanft ihre Stimme und geschmeidig fließend ihre Bewegungen. Nopp, der Fischer, hatte sie eines Tages aus dem rauen Nordmeer gezogen und ins Dorf gebracht. Mutig waren sie ans Werk gegangen, hatten das Haus geputzt, das Dach mit frischem Ried gedeckt, die Läden gestrichen, die Netze geflickt, das Gemüsegärtchen gejätet. Trotzdem murrten die Alten:
„Seiner Mutter wär’s nie und nimmer recht gewesen.“
Es war kein freundlicher Satz. Nopp und Maatje froren, als sie ihn hörten. Sie gingen in die Hütte und kuschelten sich aneinander. Sie wollten die Hände des Pfarrers nicht sehen, die sich in betender Verstrickung zum Himmel hoben. Auch nicht die Faust und den drohenden Zeigefinger des Bürgermeisters. Maatje war schön und Nopp hatte seine Freude an ihr.
„Der Nopp ist dumm!“, sagten die Leute im Dorf.
„Ein Weib, geboren im Schatten eines Segels auf den Wellen“, spottete Martha, die dick war und stundenlang auf der Fensterbank lehnte. Sie saß auf der Lehne eines geblümten Sessels, stützte die Ellbogen auf ein Hirsekissen und den Kopf in beide Hände.
„Vom Netzewerfer eingefangen, nur mit der Lust seiner Augen“, lästerte Jannik, vor dem die Mädchen davonrannten, weil er ihnen auflauerte und sie allzu dreist anfasste.
Überall schwelte Neid und Unmut. Maatjes grüne Augen, in denen rote Sprenkel glühten; ihre Haare, deren Goldfäden, wie von einem ständigen Wind zerzaust schienen; ihre Schritte, die so leicht waren, als schwebe sie über die sandigen Wege des Dorfes, all das war ihnen fremd und unheimlich.
Der Fischhändler erzählte, Nopp liefere seinen ganzen Fang bei ihm ab. Ob er denn nie einen Fisch behalte, für sich und Maatje, habe er ihn gefragt. Nopp habe gelacht und geantwortet:
„Maatje isst keinen Fisch.“
Die Hühnerbäuerin bot ihm frische Eier an, von jungen Hühnern zum halben Preis. Nopp winkte ab:
„Maatje isst keine Eier.“
Der Metzger pries am Schlachttag seine Blut- und Leberwürste und erzählte am Abend, Nopp habe ihm zugerufen:
„Maatje trinkt kein Blut und isst kein Fleisch.“
„Ja um Himmelherrgottswillen, wovon ernähren sich die Beiden denn“, fragten sich die Leute.
„Kein Wunder, dass der Nopp spindeldürr wie ein Angelhaken durch die Welt läuft.“
„Sie meint wohl, sie sei was Besseres.“
„Sie lebt bei uns und will nicht zu uns gehören.“
„Ach, sie wird nicht wissen, wie man Fisch kocht, einen Pfannkuchen backt und einen Braten richtet.“
Maatje blieb von all dem ungerührt. Am Morgen brachte sie die Nachbarn in Verlegenheit, weil sie fröhlich grüßte. Barfuß ging sie ins Ried, schnitt die starken Halme, bündelte sie mit bloßen Händen und trug sie mit nackten Armen nach Hause. Ihre Haut blieb unversehrt, als sei sie über Samt gelaufen und habe mit Federn gespielt. Am Abend sang sie beim Sonnenuntergang ihr seltsames Lied. Dann horchten die Frauen auf und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Männer gingen in die Ställe, hielten sich die Ohren zu, wollten nicht spüren, wie die Sehnsucht an ihren Herzen zog.
„Das kann nicht gut gehen und nichts werden“, sagten die Leute. Sie saßen im Wirtshaus beisammen und rätselten, was es mit Maatje auf sich haben könne, dass sie so leicht und froh durchs Leben schwebe, wo sie alle doch unter der Last des Alltags fast zusammenbrächen.
„Vielleicht hat sie keine Seele“, sagte der Pfarrer.
„Vielleicht besteht sie nicht wie wir aus Haut und Knochen“, brummte der Metzger.
„Vielleicht hat sie kein Blut in den Adern“, meinte die dicke Martha.
„Das werden wir sehen“, lachte Jannik und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Wirt freute sich. Wenn seine Gäste ein Thema hatten, worüber sie leidenschaftlich reden und werweissen konnten, flossen reichlich Wein und Bier. Manchmal lag auch ein Schnäpschen drin, bevor sie nach Hause gingen. An diesem Abend wurde es spät. Jannik räumte die leeren Flaschen vom Tisch und rief zum Wirt hinüber:
„Die nehm ich mit.“
Er packte sie in seinen Rucksack und ging hinaus durch die Nacht zum Ried. Mit einem Stein zerschlug er die Flaschen. Weiße, grüne und braune Scherben spritzten auseinander und verstreuten sich auf dem feuchten Boden.
Einige Tage später schlenderte Jannik durchs Dorf. Bei der dicken Martha blieb er stehen, um ein wenig mit ihr zu plaudern. Da kam Maatje mit blutenden Füssen aus dem Ried. Alle sahen die roten Spuren im Sand. Jannik bemerkte trocken:
„Da siehst du’s, sie hat Blut in den Adern.“
Die dicke Martha brummte:
„So wird sie lernen, Schuhe zu tragen.“
Die Anderen schüttelten die Köpfe, kniffen die Augen zusammen, zwinkerten sich zu, blinzelten, starrten Maatje nach, bis ihnen die Augen brannten. Sie versteckten sich hinter Vorhängen, riskierten ein Auge durch Türspalten, schielten verstohlen um Hausecken herum, an Misthaufen vorbei und unter Kuheutern hervor. Überall waren ihre Blicke, von überall her beobachteten sie Maatje, die mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Dorfplatz zu ihrem Haus humpelte.
Kurz vor Mittag tauchte der Schwan auf. Er flog von der Mole zum Marktplatz und landete auf dem Brunnenrand. Wütend sah er in die Runde und fauchte. Er reckte den Hals, schlug mit den Flügeln und ein eisiger Wind kam auf. Die Blicke auf Maatje gefroren. Zu Eis erstarrten die Frauen und Männer, der Pfarrer, der Bürgermeister, Martha und Jannik. Sie brachen und splitterten und zerflossen in der warmen Erde. Nur ihre Augen schweiften weiterhin umher, spiegelten sich in Pfützen und Fenstern, verfingen sich in Sträuchern, verbargen sich im Ried, hingen zwischen den Ästen der Tannen im Wald, in den Zweigen der Weiden am Strand. Nachts irrlichterten sie durchs Dorf und sahen, wie schnell es verfiel und überwuchert wurde von dornigem Gestrüpp. Der Schwan hatte seine Flügel um Maatje gelegt und war mit ihr zum Meer geflogen, zurück in den Schatten, aus dem sie geboren war.
Als Nopp vom Fischfang zurückkehrte, suchte er sie vergebens. Dann zog er fort, in die Stadt am Meer. Dort kannte ihn niemand und niemand wusste von Maatje. Immer länger wurden seine Ausfahrten, immer weiter fuhr er hinauf ins Nordmeer, trotzte mit seinem kleinen Kutter den Stürmen und Wellen.
„Diesmal kommt er nicht zurück“, sagten die Händler vom Fischmarkt, wenn der Nordsturm die Wellen meterhoch über die Kaimauer peitschte. Fuhr er dann doch wieder in den Hafen ein und lud seine Holzkisten voll mit Heringen, Schollen, Flundern und Sprotten aus, munkelten sie, es könne nicht mit rechten Dingen zugehen, dass ein Mann allein solch einen Fang heimbringe.
„Hast du da draußen Verbündete, oder was?“, fragten sie. Er schwieg, wiegte nur den Kopf und sagte:
„Hauptsache, die Ware stimmt für euch.“
Im Alter baute er sich eine Hütte in den Dünen. Dort saß er auf einem Stapel aus angeschwemmtem Holz, schaute aufs Meer hinaus, rauchte seine Pfeife und wartete. Wenn sich die letzten Sonnenstrahlen im Meer spiegelten, ein frischer Wind aufkam, der die Fischerboote im Hafen schwanken ließ, trat Maatje mit dem Schwan aus den Schatten der Segel, kam über die Dünen und setzte sich zu ihm. Jung war sie geblieben und Nopp scheute sich, sie mit seinen rauen, gichtgekrümmten Händen zu streicheln. Sie kuschelte sich an seine Schulter, begann ihr Lied zu singen und beide hüllten sich in den Umhang der Ewigkeit.
Das Meer liegt ruhig im Spätnachmittag. Die Ebbe hat eingesetzt, die Mole ragt schon ein ganzes Stück aus dem Wasser. Annika steht auf und geht zu den Dünen. Hin und her geht sie, aber sie findet weder den Alten noch seine Hütte, nur angeschwemmtes Holz und eine Muschel, deren Perlmuttglanz aus dem Sand leuchtet. Aufkommender Abendwind raschelt im harten Gras, treibt feinkörnigen Sand vor sich her. Einige Kiebitze flattern zwitschernd auf, ein Rotkehlchen pfeift dazwischen, vom Hafen hört Annika die Schreie der Möwen. Sie hebt die Muschel auf und geht zum Wald hinüber, taucht ein in seine warmen Schatten. Nach einer Weile führt der helle Sandweg durch ein dichtes Dornengestrüpp. Unheimlich und dunkel liegt es im grünen Dämmerlicht. Die Luft wird eisig. Annika fröstelt. Sie beschleunigt ihre Schritte und hält sich die Muschel ans Ohr, um die Stille nicht zu hören.
Am nächsten Tag kommt Annika in ein aufgeräumtes Büro. Die bunten Ordner stehen sauber eingereiht in den Regalen. Majas Schreibtisch ist leer, nur der Schwan aus rosa Pappmaché hängt noch an der Wand. Annika wird ihn hängen lassen.