Mütterchen
Ich rannte also so die Strasse entlang, als mir plötzlich ein altes Mütterchen vor die Nase lief. Ich konnte noch für einen kurzen Moment ihre weit aufgerissenen, vom Star getrübten, grauen Augen sehen, dann machte ich die Augen zu.
Ich rechnete damit, dass ich einen dumpfen Stoss auf der Brust fühlen, und dann stauchelnd mit der alten Frau zu Boden geschmettert würde. Nach ein paar Drehungen würde ich dann mit einem gebrochenen Arm auf dem Rücken liegen, neben mir das Mütterchen bei ihren letzten Atemzügen.
Doch es kam ganz anders. Die Alte hatte mehr drauf, als ich dachte. Mit den Reflexen einer 20-Jährigen hielt sie ihren Schirm in meine Richtung, und stiess zu, als ich in sie hineinlief. Ich wäre aber trotz der bremsenden Wirkung des sich in meinen Unterleib bohrenden Regenschirmes in sie hineingelaufen, hätte sie nicht noch, flink wie sie war, einen Satz zu Seite gemacht.
Ich lief noch, ganz vom Regenschirm durchbohrt, ein paar Meter, bis ich auf den Rücken fiel. Der Schirm musste schon ein Stück weit aus meinem Rücken geragt haben, denn als ich rückwärts landete, spürte ich, wie sich das Ding wieder nach vorne schob. Als ich dann liegenblieb, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich musste zusehen, wie der Griff immer mehr nach Rechts absank. Ich konnte spüren, wie sich die Spitze ihren Weg durch mein Fleisch in Richtung Herz bohrte.
Es dauerte recht lange, bis mein Herz durchstochen war. Noch eine ganze Zeit lang wippte der Schirm, an-getrieben von den letzten Schlägen meines Herzens, bis etwas riss.
Während meine Wahrnehmung langsam schwand, konnte ich meinem Blut zusehen, wie es in einem ele-ganten Bogen von mir spritzte. Es sah fast aus wie der Strahl beim Pinkeln.
„So ein Arschloch“ sagte das Mütterchen, zog den Schirm aus dem Leichnam des Joggers und ging ihres Weges.
[ 10.05.2002, 10:29: Beitrag editiert von: QuentinT ]