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Müll
Lasse Bachmann hatte schlechte Laune. Mal wieder. Wie so oft in letzter Zeit. Er versuchte doch nur, ein vernünftiges Leben zu führen, hatte alles richtig gemacht. Hatte sich durch zwölf uninspirierte Schuljahre gequält, an deren Freudlosigkeit er sich nicht gerne erinnern wollte. Er hatte sich mit zwei Nebenjobs ein Studium finanziert, da er nicht in den Genuss eines Firmenstipendiums gekommen war. Trotzdem hatte er es gewollt, hatte sich verbissen durch die Ausbildung an der Hochschule gekämpft, eine Ausbildung an einer staatlichen Hochschule wohlgemerkt. Von den technischen Lehrmitteln und vom Inhalt her veraltet. Trotzdem hatte er nicht eine Vorlesung versäumt, hatte alle Klausuren auf Anhieb bestanden, und nach drei unerfreulichen Jahren sein Diplom in der Hand gehalten. Alles in allem eine Zeit, die er ebenfalls vergessen wollte.
Er durfte sich jetzt mit Fug und Recht Ingenieur nennen. Ein unbestreitbarer Vorteil auf dem Arbeitsmarkt. Und tatsächlich war es ihm damals schon nach kurzer Suche gelungen, eine der wenigen freien Stellen für Ingenieure zu erhaschen. Seitdem waren zwölf Jahre vergangen, zwölf Jahre in denen er an sechs Tagen pro Woche zehn Stunden lang am Fließband stand und im Sekundentakt die Qualität der Platinen an philipinischen Plasmas kontrollierte. Natürlich wurden die Geräte mit dem Qualitätssiegel "Made in the Philipines" ausgeliefert, doch die Endmontage fand aus Kostengründen hier statt, in Deutschland.
Langsam, um nicht außer Atem zu geraten und zuviel stinkende Luft einzuatmen, schlurfte er von der U-Bahn-Station in Richtung seiner Wohnsiedlung. Ein finsteres Konglomerat von Betonklötzen irgendwo in der Peripherie der Unicity Hamburg. Er war müde, er hatte Hunger und seine Laune besserte sich nicht, als er an sein Zuhause dachte.
Lasse hatte einen Job, einen guten Job sogar. Während ihn ersteres schon mal über rund 63% der Bundesbürger erhob, war zweiteres ein angenehmer Bonus. Er arbeitete in einer Fabrikhalle, musste nicht frieren, hatte geregelte Pausenzeiten und theoretisch 5 Tage Urlaubsanspruch. Theoretisch natürlich, denn dass jemals ein Angestellter des Konzens tatsächlich den Urlaub beansprucht hätte, war noch nicht vorgekommen. Immerhin verdiente er genug, um sich die gesetzliche Krankenversicherung für seine vierköpfige Familie und die Miete für eine Zweizimmerwohnung in Turm 23 leisten zu können. Als er vor dem Fahrstuhl in dem dunklen Treppenhaus stand, zögerte er einen Moment, bevor er den Knopf drückte. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, als ob er überlegen würde, ob er überhaupt hinauf fahren wollte.
Er wollte nicht. Nein, er wollte mit einer Segelyacht die dänische Inselwelt durchkreuzen, er wollte mit einem Sportwagen über die fast leere Autobahn rasen, er wollte mit seiner Familie einen Ausflug zum Freizeitpark LUNAWORLD machen ... zumindest wollte er gerne einmal mit seinem Sohn ein Fußballspiel des HSV im Stadion sehen. Er seufzte als sich die Graffittiverschmierten Türen des Fahrstuhls langsam aufschoben. Dann trat er hinein, ließ sich widerwillig verschlucken. Den Blick starr auf die rostigen Wandpaneele gerichtet fuhr er nach oben. Vierzehnte Etage, zweite Tür rechts. Knapp 50 Quadratmeter Leben. Essen, fernsehen, ins Bett fallen, schlafen. Morgen früh um 4:30 Uhr würde ihn der Wecker wieder zur Arbeit schicken. Eine Arbeit, die er sich gewünscht hatte, eine Arbeit für die er studiert und Opfer gebracht hatte, eine Arbeit für die er qualifiziert war.
"Schon wieder nicht?", warf er nur in den Raum, als er die vielen vollen Müllbeutel sah, die sich mittlerweile schon im Flur stapelten. Emilia, seine Frau, sah ihn nicht einmal an. "Lasse, das geht so nicht weiter. Warum unternimmst du nichts?"
Dass die Kinder, die im Wonhnzimmer vor dem Plasma lagen und sich wortlos mit einem Telespiel beschäftigten, ihn ignorierten, daran hatte er sich gewöhnt. Das war normal. Aber er meinte sich erinnern zu können, dass Emilia vor kurzer Zeit noch freundlicher gewesen war, wenn er abends nach Hause kam. Sie band einen weiteren Beutel zu und Lasse bemerkte, dass sich der Gestank von Küchenabfällen inzwischen in der ganzen Wohnung ausgebreitet hatte.
"Hast du nochmal beim Service angerufen?", fragte er, wohl wissend, wie die Antwort ausfallen würde.
Emilias Stimme klang gereizt. "Natürlich! Mann, ich rufe da drei mal täglich an ... immer das gleiche: Sie hätten ja Verständnis für unsere Situation, aber die Terminkalender sind voll, der Mechaniker hätte in frühestens zwei Wochen Zeit für uns."
"Das haben sie dir doch auch schon vor einem Monat gesagt, wollen die uns verscheißern?"
"Die Dame am Telefon meinte, dass wir glücklich sein sollten, dass sich die Firma überhaupt noch um dieses alte Modell kümmert."
Emilia trat mit dem Fuß gegen den automatischen Entsorger. Eine Maschine, die Hausmüll sortierte, zerkleinerte, komprimierte und dann durch das vollautomatisierte Schachtsystem der Unicity Hamburg an die lizensierten Recycling-Firmen weiterleitete. Dafür bezahlten die Bachmanns eine Gebühr, die wesentlich höher war, als die Kosten für Strom, Gas und Breitband zusammen. Sie hätten gerne auf diese Art Service verzichtet, doch war es für Einwohner von deutschen Metropolen Pflicht, sich dem System anzuschließen. Es gab keine Mülltonnen, keine Müllabfuhr und das Anlegen von privaten Komposthaufen war bei Strafe verboten. Außerdem, wo hätten die Bachmanns einen Komposthaufen anlegen sollen? Ihre Wohnung hatte nicht einmal einen Balkon.
"Ich halte das nicht mehr aus, Lasse. Wir brauchen einen neuen Verwerter."
"Wir haben darüber oft genug gesprochen, Emmi. Wir können uns kein neues Gerät leisten ... und das weißt du genau!"
Emilia drehte sich um, griff sich den erstbesten Müllbeutel und drückte ihn Lasse in die Arme.
"Und wir können hier nicht im Müll versinken, das weißt DU genau!", sagte sie mit Nachdruck und ließ sich auf den wackeligen Küchenstuhl plumpsen. Sie strich sich eine ungepflegte Haarsträhne aus dem teigigen Gesicht und sah ihren Mann ernst an.
"Wenn du nicht genug verdienst, um für die nötigsten Haushaltsdinge zu bezahlen, dann sei wenigstens nicht so ein Waschlappen. Sieh zu, dass du das Zeug irgendwie loswirst ..." Sie machte den Eindruck, als wollte sie noch etwas hinzufügen, vielleicht eine Idee, wo Lasse mal eben fünfzig oder mehr prallgefüllte Müllbeutel entsorgen könnte. Doch dann blieb sie einfach sitzen, klappte den Mund wieder zu und starrte ins Leere.
Lasse war zu müde für einen Streit. Also entschied er sich für das kleinere Übel, drehte sich wortlos um und verließ die Wohnung. Den Müllbeutel hielt er dabei fest umklammert.
"Das wäre doch gelacht, wenn wir dich und deine Kollegen nicht irgendwie loswerden könnten", knirschte er den Beutel an, als er energisch die Ruftaste für den Fahrstuhl drückte.
Draußen war die rußige Dämmerung nächtlicher Dunkelheit gewichen. Die leeren Straßen wurden nur von wenigen Laternen beleuchtet, für Lasses Geschmack war es aber noch zuviel Licht. Den Beutel möglicht beiläufig am langen Arm neben sich her schlenkernd, schritt er zügig zum Nachbarturm, einem Betonklotz identisch zu seiner eigenen Behausung. Misstrauisch blickte er sich um, doch es war niemand zu sehen. Dann verschwand er hinter der Ecke und legte den Beutel auf dem armseligen Rasenstück hinter dem Haus ab. Schnell machte er sich auf den Rückweg. Lasse wiederholte den Vorgang noch zweimal, dann beschloss er, dass er für einen Abend genug getan hatte und ging ins Bett.
In den kommenden Tagen wiederholte er seine nächtlichen Streifzüge, dehnte seine Exkursionen in die ganze Umgebung aus und bemerkte mit Befriedigung, dass sich die Müllmenge in der eigenen Wohnung sichtbar verringerte. Dabei vermied er es, einen Abladeplatz zweimal aufzusuchen. Denn er wusste, dass er sein Glück nicht überstrapazieren durfte.
Zwei Wochen später hatte sich die Servicefirma immer noch nicht gemeldet. Aber das war Lasse inzwischen egal, denn er war auf dem Weg, den letzten Müllbeutel hinter irgendeiner Häuserecke abzuladen. Er war kaum noch erstaunt über seinen Wagemut, handelte mit selbstverständlicher Routine und er überraschte sich selbst dabei, eine fröhliche Melodie zu pfeifen. Er befand sich gute drei Kilometer von seinem Wohnturm entfernt, schon außerhalb seines Viertels, aber in einer fast identischen Siedlung ungepflegter Betontürme; eine Gegend, in der er noch nicht viele Säcke abgeladen hatte. Er hatte fast freie Wahl, welches Haus sein nächstes Opfer werden sollte.
Schwungvoll trat er um die Ecke des Hauses, den Müllbeutel in einer Hand. Er wollte ihn gerade gegen die Rückwand des Hauses legen, als sich eine Gestalt aus der Dunkelheit schälte. Der Lichtstrahl einer starken Taschenlampe blendete Lasse und etwas fiel von hinten schwer auf seine Schulter. Eine Hand, die Ärmel einer Uniform. Die Gestalt mit der Taschenlampe trug ebenfalls Uniform: Müllinspektion der Unicity-Polizei, wie Lasse sofort sah.
"So, da haben wir den Übeltäter ja endlich."
Lasse blieb wie angewurzelt stehen, der Beutel wog tonnenschwer in seiner Hand.
"Auf frischer Tat erwischt, Jonas!", entgegnete der Bulle hinter Lasse. Seine Stimme klang siegessicher.
"Mann, mann, mann", redete der Taschenlampenpolizist weiter. "Hinter Ihnen sind wir ja schon eine ganze Weile her. Dann kommen Sie mal bitte mit."
Lasse fühlte sich, wie ein Schwerverbrecher. Er ließ den Müllbeutel fallen und hob die Hände. Sein Kopf war leer, seine Gedanken setzten aus.
"Na, den Beutel wollen wir doch nicht hier stehen lassen, oder?", sagte Taschenlampe süffisant. "Den nehmen Sie mal schön mit, bitte!"
"Aber ... aber ...", stammelte Lasse.
"Ich weiß, Sie waren nur auf einem Spaziergang. Und weil es so eine schöne Nacht ist, haben Sie Ihren Müllbeutel mitgenommen. Wollten ihm mal die große weite Welt zeigen, was?"
Widerspruchslos ließ sich Lasse von den beiden Beamten abführen. Im Auto, auf der Fahrt zur Wache, wurde ihm schlecht.
Als Lasse einige Stunden später die Wache verließ, trug er den Müllbeutel immer noch bei sich. Außerdem noch eine Vorladung zum Gericht. Die Staatsanwaltschaft hatte sämtliche Polizeireviere der Unicity vorsorglich mit Blankoformularen ausgestattet. Illegale Müllentsorgung war ein ernsthaftes Vergehen und Lasse konnte mit einer halbjährigen Gefängnisstrafe rechnen, so hatten ihm die Beamten mitgeteilt. Gefängnisstrafe bedeutete Arbeitslosigkeit - automatisch - das war Lasse klar.
Zum Glück gab es noch die Alternative, die Entsorgungskosten in einer Recyclinganlage mit staatlicher Lizenz zu übernehmen und ein Bußgeld zu bezahlen. Alles zusammen etwa sechstausend Euro, hatten die Polizisten ihm vorgerechnet. Lasse Bachmann hatte schlechte Laune. Für sechstausend Euro hätte er zwei Entsorger kaufen können - Nagelneu!