Müde
Es ist nun ca. 48 Stunden her seitdem dieses konstante Dröhnen in meinem Kopf begonnen hatte. Diese vermeintliche Krankheit schien nur das zu unterstreichen was ich vor 4 Tagen auf dem Weg nach Düsseldorf gesehen hatte. Schon seitdem schlief ich die Nächte mit grauenvollen Träumen, jedoch erinnern kann ich mich an sie nicht. Diese Träume sind eher wie eine Trance, oder eine Bewusstlosigkeit, sich wieder in diese hineinzuversetzen kann ich nicht versuchen und vermag ich auch erst gar nicht zu wagen. Diese und die schier unendliche Anzahl an Übungsblätter, welche ich als Physik-Student jede Woche berechnen muss, führte zu Tagen, die dreimal länger waren als die zu ihnen gehörigen Nächte.
Diese anstrengende Arbeit, die sich aus Reihenberechnungen, komplizierten Zeichnungen, Massegeschwindigkeiten und dem allgemeinen Verständnis von optischen Linsen ergab, unterstützte nur dieses Brummen in meinem Gehirn. Nun verzichtete ich schon seit mehreren Jahren auf Tabletten, die so lächerliche Probleme wie Husten oder Kopfschmerzen angeblich nebenwirkungsfrei ausgleichen sollten, doch mir wurde schnell klar, dass ich hier nicht unter einfach bekämpfbaren Schmerzen litt. Dieses Brummen ließ mich immer öfters an diesen einen Moment denken, den ich in der Nähe von Erkrath erlebt hatte.
Aufgrund der hohen Anzahl an Pendlern werden die Nahverkehrszüge zwischen den Städten in Nordrhein-Westfalen morgens so wie auch am frühen Abend stark gefüllt. Trotz vieler unterschiedlicher Linien, sind auf jeder Linie dennoch mindestens sechs Züge unterwegs um diesen nötigen Transport für die Bewohner des Rheingebiets bereitzustellen. Ich machte mich um 5 nach 9 aus dem Haus und lief zur nächstgelegenen S-Bahn Station. Die Musik vereinfachte mir den anstrengenden Anfang des Tages, mein Schlaf begann erneut erst sehr spät in der Nacht. Die Pendler sind oft normale Schichtarbeiter, welche von 7 bis 8 Uhr die Züge füllen und somit freute ich mich auf den eher leeren Zug indem ich meine nächste halbe Stunde verbringen werde.
Die Müdigkeit war wie ein Schatten, welchen ich hinter mir her trug. In dem Zug vielen mir auch öfters für mehrere Minuten die Augen zu. Nach ca. 16 Minuten Zugfahrt näherten wir uns der letzten Station vor Düsseldorf: Erkrath. Es war zum Glück ein heller Novembermorgen, eine etwas lila angehauchte Wolkenfront zog über die Wälder hinweg und vermittelte ein warmes Gefühl und somit ein eher seltenes Gefühl, welches man um diese Uhrzeit in diesen Tagen erwartet. Die meisten Leute, welche sich am Anfang der Zugfahrt mit mir in einem Wagon befanden, waren nun schon ausgestiegen und nur wenige betraten den Zug in Erkrath. Schnell setzte sich dann auch die Fahrt fort und erneut setzte die Müdigkeit ein. Ein Kind stoppte das beinahe Einschlafen durch einen lauten Schrei, den ich nicht hinterfragte. Aufgrund dem darauffolgenden Griff nach meiner Wasserflasche und dem dann folgenden Löschen meines Durstes, merkte ich nicht, dass der Zug zum Stehen gekommen war. Die vier weiteren Menschen in meinem Wagon begannen aufzustehen und zum vorderen Ende zu laufen. Das Stoppen passierte oft aufgrund irgendwelcher schnelleren Fernverkehrszüge, die die langsameren überholen mussten, da entweder der eine oder der andere Zug seinen Zeitplan nicht perfekt einhalten konnte. Ich dachte mir nichts dabei und musste dann aber plötzlich feststellen, dass die Musik in meinen Ohren verstummte. Der Blick auf das Smartphone und meine damit verbundenen Gedanken klärten auf. Wieder hatte ich vergessen das Gerät aufzuladen und schon wieder saß ich ohne einem Unterhaltungsmedium im Zug. Es musste nun ca. 09:50 Uhr sein, dachte ich mir und hoffte auf eine schnelle Ankunft in Düsseldorf. Die Menschen kamen nun…
Ich unterbrach meinen letzten Satz aufgrund einem Klopfen an der Haustür. Spion und Gehör halfen mir nicht den fremden Gast zu identifizieren, also entfernte ich mich erneut von der Tür. Zu erwähnen sei auch das nun starke Stechen im Vorderhirn, welches dazu führt, dass ich mich fast gar nicht auf das gegenwärtige Geschehen konzentrieren kann, nur noch auf das Schreiben über längst vergangene Stunden.
Nun bekam ich im Zug mit, dass Menschen den Zug verlassen haben. Dies war sehr unüblich und ich hatte das noch nie in meinem Pendlerleben innerhalb der letzten 4 Monate erlebt. Deshalb stand ich auf, nahm meinen Rucksack und machte mich auch zur nächsten Wagontür auf. Ein Mann mit blauer Krawatte, schwarze Weste, schwarzem Hemd und blauer Jeans stand vor der Tür und begrüßte mich mit einem zitternden „Tut mir leid, wir haben zur Zeit enorme technische Probleme und müssen deshalb zur Sicherung aller Passagiere den Zug evakuieren. Bitte haben sie etwas Geduld und stellen sie sich zu den anderen Passagieren auf der anderen Seite des Gleises.“ Ich kooperierte schnell und suchte nach den anderen Menschen. An einem alleinstehenden Busch direkt neben dem Zug, auf der anderen Seite, als die, zu der ich mich hinbegeben sollte, fand ich eine Mutter mit ihren zwei Kindern. Schnell sprach ich sie höflich an und fragte, ob dies der richtige Ort zur Versammlung sei. Die Frau, welche schon etwas älter und ziemlich verbissen aussah, antwortete mit einem kurzen „Ja“ und dann stand ich mich schweigend mehrere Minuten neben ihren Sohn, welcher in einem festen Intervall seine Mutter fragte, was denn passiert sei. Sie antwortete nicht bis sie plötzlich, ohne eine Frage gestellt bekommen zu haben, sagte, dass ein Mann angeblich vor den Zug gelaufen sei. Sie entschuldigte sich kurz und fragte, ob ich auf ihre Kinder aufpassen könnte, da sie mit der Security noch einmal reden wollte. Natürlich erfüllte ich ihren Wunsch, doch ein merkwürdiges Schaudern erfüllte mich in diesem Moment und zudem war ich verwirrt, wie man einem Fremden seine Kinder so anvertrauen kann. Doch ich ging von einer allgemeinen Verwunderung über diesen „Unfall“ aus und hinterfragte nicht die genauen Absichten der Frau. Nach mehreren stillen Minuten, die stiller waren, als sie hätten sein sollen, meldete sich die Tochter der Mutter plötzlich mit einem Schrei und rannte schlagartig in den Wald. Ich guckte ihren Bruder verdutzt an und fragte, was los sei, doch er gab mir nur verdutzte und fragwürdige Töne. Ich folgte der Tochter und kam dadurch deutlich ins Schwitzen, aber konnte dann letztendlich sie doch Einfangen und brachte sie zurück zu ihrem starr stehenden Bruder. Daraufhin sah ich die Mutter erneut vom Zug herkommen und nun starrte sie mich mit leeren Augen an. Sie lief langsam und eigenartig, aber sprach mich dann mit einer leisen und ruhigen Stimme an: „Warum hat sie so laut geschrien?“ Ich verstand natürlich die Frage der Mutter sofort und wusste schon woraus sie hinaus wollte, doch ich beruhigte sie und erzählte von dem plötzlichen Wegrennen der Tochter. Genau in diesem Moment fing der Sohn an wegzurennen und die Mutter schaute ihm nur verdutzt hinterher. Nachdem ich sie nun fragte, was denn los sei, antwortete sie mit: „Sie lieben die Natur, werden förmlich von Wäldern angezogen“ Ich rannte dem Sohn hinterher und aufgrund mehreren unstabilen Böden und dem Laub, welcher sie verdeckte, kam ich dann schlussendlich zum Stolpern und fand mich daraufhin auf dem Boden wieder.
Nasenbluten unterbricht nun meinen Schreibfluss und ich vermag nun nicht mehr weiterzuschreiben, da seitdem ich mit dem Schreiben begonnen hatte, der Schmerz immer stärker wurde. Stimmen beginnen zu flüstern, Stimmen die sich wie meine anhören, die jedoch niemals so reden würden. Ich ignoriere sie und lege mich nun zu Bett.
Je ruhiger ich werde, desto lauter werden die Stimmen. Ich versuche meinen Kopf anzustrengen, setze mich an ein weites Optikblatt, verknüpfe mein Wissen zwischen den unterschiedlichen Vorlesungen, doch dies alles hilft nicht. Es scheint als müsse ich die Geschichte weiterschreiben, als müsse ich erzählen was mein Gehirn mir da an diesem Tag vorgespielt hatte, da sonst das reale Leben einem Alptraum gleichen würde.
Nach erneutem Lesen meines bis jetzt geschriebenen Textes über den Vorfall am 12.11.2018 beginne ich den Denkfehler zu erkennen. Das Laub stach mir leicht ins Gesicht, und nachdem ich mich aufrichtete erkannte ich in der Ferne ein Gebäude, in welches der Sohn der Mutter hineinrannte. Ich schaute zurück, konnte jedoch kein Gleis mehr erkennen und der Zug schien auch weit entfernt zu sein. Ich näherte mich dem Gebäude und wurde erneut schlagartig müde. Ich suchte schnell nach einer Sitzmöglichkeit, als ich das Gebäude erreicht hatte. Im Gebäude waren die Lichter eingeschaltet und man konnte mehrere Laborräume und Reagenzgläser erkennen. Und dann hörte ich diese Geräusche, Laute, welche ich noch nie zuvor gehört hatte. Tiefe Töne, aber gemischt mit unfassbar hohen Stimmen, die wie Chöre erklungen. Es waren unmenschliche Töne, die mich dazu brachten, mich von dem Gebäude schnell zu entfernen. Nun ging ich klar von Halluzinationen aus und machte mich sofort zum Zug auf. Ich betrat den Zug schnell und ich war der letzte auf den gewartet wurde. Ich suchte im ganzen Wagon nach der Familie und wollte nachschauen, ob der Sohn wieder da war, doch ich fand sie nicht.
Es wurde gerade geklopft, ein Blick auf die Uhr verrät: 4:51 Uhr. Ich näherte mich der Tür und öffnete sie sofort. Keine Gestalt ist erkennbar in der Dunkelheit des Treppenhauses und ich kehrte bei offener Tür zu meinem Bett zurück. Schon seit mehreren Minuten sind die grausamen Chöre zurück und lassen mein Gehirn brennen. Jeder der diese Notiz findet, soll nach dem Sohn suchen, er ist vermutlich immer noch in diesem verschollenen Haus zwischen Erkrath und Düsseldorf. Findet ihn, meinen Wahnsinn kann man nämlich schon lange nicht mehr bekämpfen.
Es scheint wie als würde Licht auf meinen Rücken strahlen und ich nur noch meinen Schatten vor mir sehen. Die letzte Suche ergibt, die Tochter ist tot, ebenso ihre Mutter, sie wurden tot im Wald gefunden. Dies genau in diesem Moment, Schlagzeile auf dem Handy, Kriminalpolizei in Erkrath ermittelt, der Sänger steht in meinem Flur.
Ich ergebe mich.