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Mönch und Krieger
Herat wusste immer genau, wo ich mich aufhielt. Und tauchte dann plötzlich für einige Stunden auf, um dann wieder zu verschwinden. Doch er ließ sich immer wieder mal sehen. Manchmal erst nach Jahren. An jenem letzten Mal hatte er mich an einer Raststätte abgefangen, die sich auf dem Wege nach Kandy befand. Einmal in der Woche musste ich nach Kandy pilgern, um Besorgungen für das Kloster zu erledigen. Bei dieser Gelegenheit hielt ich dann immer auf dem Rückweg bei der Raststätte, um eine Tasse Tee zu trinken. Ich tauchte dort immer am gleichen Tag und zur gleichen Zeit auf. Dies musste Herat in Erfahrung gebracht haben. Ich freute mich natürlich, ihn wiederzusehen, denn inzwischen waren Jahre vergangen. Er sagte, er wisse schon lange von meiner Rückkehr nach Sri Lanka und von meiner Gewohnheit in der Raststätte einzukehren. Angeblich war es reiner Zufall, dass er ausgerechnet an diesem Tag und zu dieser Zeit in der Gegend etwas zu erledigen hatte. Herat gehörte zur JVP („Janatha Vimukthi Peramuna“) der bewaffneten kommunistischen Guerillaorganisation, die gegen die Zentralregierung Sri Lankas kämpfte. Sie rekrutierte sich vor allem aus der mit der Regierung unzufriedenen ärmeren singhalesischen Landbevölkerung, insbesondere Jugendlichen. Ihr Ziel war die Errichtung eines kommunistischen Staates in ganz Sri Lanka.
Wenige Monate zuvor waren Angehörige der Polizei, darunter auch Frauen und Kinder, von der JVP ermordet worden. Das hatte wiederum zur Folge, dass Armeeeinheiten am Tage uniformiert die Dörfer durchkämmten und in Zivil, wenn sie nachts kamen und Leute mitnahmen, die nie wieder auftauchten. Die damalige singhalesische Regierung unter der Führung von Ranasinghe Premadasa, der später einem Attentat zum Opfer fiel, bestritt, dass weder sie noch die Armee irgendetwas mit den Morden an den Jugendlichen zu tun hatten. Es waren Zehntausende, die täglich monatelang die Flüsse hinunterschwammen oder im Gebüsch am Straßenrand durch Genickschuss hingerichtet wurden. Auch mit den abgeschlagenen Köpfen wollten sie nichts zu tun haben, die für jedermann sichtbar zur Abschreckung an Straßenecken sichtbar aufgestellt wurden. Bezeichnenderweise hatte die Regierung, bevor sie Sri Lanka in ein Schlachthaus verwandelte, einen Tourismus-Stopp über das Land verhängt. So gab es wenige ausländische Zeugen. Dieses Verbrechen wurde von der Regierung perfekt verschleiert. Zwar gab es verzweifelte Aufklärungsversuche von Amnesty International, aber das was sie herausfanden, war bei weitem nicht das, was tatsächlich geschah. So erfuhr die Weltöffentlichkeit wenig von den Verbrechen.
Herat war ein Verwandlungskünstler. Ich erkannte ihn auch dieses Mal beinahe nicht wieder. Seine traditionelle schneeweiße Kleidung, bestehend aus Sarong, einer Art weißem Leinentuch, das um die Hüfte gebunden wird und bis zu den Fußknöcheln herunterreicht, war bis in Höhe der Knie von einem Benjen bedeckt, einer Art kragenlosem Hemd, das über dem Sarong getragen wird. In der von Kopf bis Fuß schneeweißem Kleidung sah er aus, als käme er aus einem Tempel. Seine eng anliegenden Haare waren kurz geschnitten und glänzten wie eine Speckschwarte. Er trug ein säuberlich ausrasiertes Lippenbärtchen. Die tief in den Höhlen eingesunkenen Augen und die weit herausragenden Backenknochen ließen eine schlimme Vergangenheit ahnen. Auch der Körper, der sich trotz der lockeren Kleidung deutlich abzeichnete, besaß etwas unnatürlich Eckiges. Die saubere gepflegte Fassade konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Mensch bis auf die Knochen abgemagert war. Seit einigen Jahren war er Besitzer eines Frisörgeschäfts. Aber weil er da nur selten anzutreffen war, wurde der Geheimdienst auf ihn aufmerksam. „Man hat uns in einer Reihe aufgestellt“, erzählte er.“ Wir waren etwa 20 bis 30 Leute. Keiner war älter als 25 Jahre. Die Fenster, des in hellem Licht getauchten Raumes, waren vergittert und fest verschlossen. Ein Mann mit einem Sack über den Kopf- damit er nicht identifiziert werden konnte- ging langsam die Reihe ab und betrachtete jeden einzelnen aufmerksam durch die zwei in Augenhöhe geschnitten Löcher im Sack. Hin und wieder gab er ein Handzeichen, woraufhin derjenige, vor dem er gerade stand, abgeführt wurde.
Herat hatte Glück. Seine Verkleidungskünste retteten ihm das Leben. Nach seiner Entlassung brach er die Verbindung zur JVP ab. Und die JVP zu ihm. Es entsprach einer altbewährten Taktik. Die JVP trennte sich grundsätzlich von einem Mitglied, sobald es sich verdächtig gemacht hat. Das lag etwa einem Monat zurück. Seitdem bekam er keinerlei finanzielle Zuwendungen mehr. „Vermutlich sind sie alle tot“, sagte er wie beiläufig, ohne sich irgendwelche Gefühlsregungen anmerken zu lassen. Beinahe schien es mir, dass er keine Gefühlsregungen mehr besaß. Sein regungsloses maskenhaftes Gesicht ließ vermuten, dass er unter Schock stand. Seitdem lebte er von dem, was sein Geschäft ihm einbrachte. Und es war kaum genug, um damit die Miete zu bezahlen. Er hatte seit Wochen schon nichts Richtiges mehr gegessen. Als ich aufstand, um ihn etwas zum Essen zu holen, hielt er mich am Arm fest und sah mich mit weitaufgerissenen Augen flehend an. Aber dann senkte er plötzlich den Blick und sprach wie zu sich selbst: „Ich bin es nicht mehr gewohnt, dass jemand etwas für mich tut. Ich habe keinen Hunger. Aber für eine Tasse Tee wäre ich dankbar.“
Ich wagte nicht, ihn über seine Vergangenheit zu befragen und offensichtlich war er nicht gekommen, um über sich zu sprechen. Aber das hatte er ja noch nie getan. Bei seinen unregelmäßigen Besuchen an abgelegenen Orten. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie wenig ich über Herat wusste. Was war er eigentlich für ein Mensch? Ich habe ihn immer nur als revolutionären Clown kennengelernt, der mir mit kindlicher Freude seine Verwandlungskünste vorspielte. Aber hin und wieder sprach er auch von der Zukunft. Dann strahlten seine Augen. Er träumte von einer Welt, in der es weder Polizei noch Armee geben müsste. Von einer Welt, in der die Menschen endlich einmal aus der Vergangenheit gelernt haben würden. Eine Welt, in der die Zugehörigkeit und Zuständigkeit sowohl Für- als auch Miteinander als höchstes Gesetz der Vernunft anerkannt sein würde.
Damals bei einer unserer ersten Begegnung in Kandy, kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, unternahmen wir einen Spaziergang kreuz und quer durch das Wäldchen, abseits von allen Wegen. Er zeigte mir die riesigen Krater, die ihre selbstgebastelten Bomben hinterlassen hatten. Die Armee hatte dort die eroberten Sprengkörper zum Detonieren gebracht. Er zeigte mir den uralten Baum am stillen See, dort wo der Weg sich teilt, um sich in zwei verschiedene Richtungen irgendwo hinter hohen Bäumen zu verlieren. Der Baum von dem Herat durch die Kugeln eines Maschinengewehrs geschützt wurde, blutete damals immer noch aus vielen Löchern eine dunkle harzige Flüssigkeit. Der See hat dort, wo dicke Bambusstämme weit in den Himmel ragen, einen kleinen Strand. Dort saßen wir eine lange Zeit und blickten schweigend auf die stille spiegelglatte Oberfläche des Sees. Der See ist so klein, dass man sich mit jemanden am anderen Ufer durch Zurufe verständigen könnte. Ich kam oft zu diesem See. Er war immer glatt wie ein Spiegel. Die Winde, die mit dem Blättern im Baumwipfel spielten, lagen viel zu fern. Nie bewegte der Wind die Wasseroberfläche. Und doch gab es auf dieser stillen Oberfläche gelegentlich Wellen, die einen trägen Leguan trugen. Gelegentlich tauchte aus trüben Tiefen ein Fischrücken auf und erzeugte kleine Kreise im Wasser. Die Fische sind sehr groß, vermutlich ist der See in seiner Mitte sehr tief. Herat summte leise und nachdenklich eine Melodie. Ich kannte diese Melodie von einer Kassette mit revolutionären Liedern, die er mir einmal vorgespielt hatte. Zu dieser Melodie gab es auch einen Text: „Geh hinein in den Schock, damit du aus ihm heraus kommst.“ Er nahm einen Stein und warf ihn ins Wasser. In dem Moment, in dem der Stein einschlug, tauchte in mir das Bild eines zersplitternden Fensters auf. Er sagte: „Wie dünn und verwundbar doch diese Haut ist. Wie sieht die Welt doch kaputt aus, wenn sie durch die Scherben eines Fensters betrachtet wird.“
Ich spürte, dass er auf eine Reaktion wartete. Doch ich schwieg. Und so stellte er sich selbst die Frage, die er wohl von mir erwartete. „Wenn die Welt nur meine eigene Vorstellung ist, so wie ihr buddhistischen Mönche sagt, dann gibt es sie vielleicht gar nicht in der Zukunft? Aber ist es dann nicht Verrat an der Zukunft, für die wir ja kämpfen?“ Ich erwiderte ihm: „Du fragst wie jemand, der nicht weiß, dass er träumt.“ Er stand auf und indem er sich anschickte zu gehen, sagte er traurig. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, ich muss in diesen Krieg. Es ist meine einzige Chance rauszukommen.“ Und so war er dann wieder verschwunden. Für die nächsten Jahre. So wie er es immer tat. Er war mir auch damals so nah. Und doch konnte ich ihm nicht helfen.
Jetzt sah er mich betroffen an, als er feststellte, dass ich dauernd seinen Blicken auswich. Da beugte er sich so weit hinüber zu mir, dass er vom Stuhl aufstehen musste. Ich fühlte mich von seinem Blick wie festgenagelt. Ein Beben durchzitterte seinen Körper, als er sagte: „Weißt Du. Unsere gemeinsame Freundin Sepalika ist bei dem Überfall auf die Polizeistation in Kataragama ums Leben gekommen. Sie hatte Glück, denn sie wusste, wofür sie starb. Als der Buddha starb, war der Tod genau wie das Leben für ihn nichts weiter als eine biologische Tatsache.“ Nun fasste ich ihn meinerseits fest ins Auge und erwiderte: „Nun, die Natur ist verschwenderisch. Sie schöpft aus dem Überfluss. An euch dagegen mangelt es an allem. Ihr seid wie Verdurstende, die bis zum Hals im Wasser stehen. Sepalika hatte sich selbst zum Opfer gebracht- noch vor ihrer natürlichen Lebensspanne. Sie hat der Natur ins Handwerk gepfuscht. Sie dachte immer nur an andere und hat dabei übersehen, dass sie auch existierte.“ Ich hatte mich ein wenig gehen lassen und mich in Rage geredet. Meine Gefühle begannen, sich zu überschlagen. Ich packte Herat am Arm und sah ihn flehend an. „Ist Selbstzerstörung nicht die Zerstörung des einzigen Maßstabes, der es uns ermöglicht, die Welt zu verstehen. Sieh dich doch mal selber an. Du bist nicht die Spiegelung dessen, was du am meisten liebst, sondern die Wirkung dessen, was du am meisten hasst. Und je mehr du selber zu dieser Wirkung wirst, umso ähnlicher wirst du ihrer Ursache sein. Du glaubst gegen die Welt zu kämpfen, aber in Wahrheit kämpfst du gegen dich selbst. Hör doch bitte endlich auf zu kämpfen. Sieh doch nur, was du dir selber angetan hast. In Wahrheit hast du immer nur mit dir selber gekämpft.“
Herat hatte wieder seinen Stuhl zurückgezogen und hielt nun den gesenkten Kopf in beiden Händen. Plötzlich erhob er sich wieder vom Stuhl, während er seinen erschöpften Körper mit den Händen an der Tischkante abstützte. Und wieder nagelte er mich mit den von schlaflosen Nächten blutrot unterlaufenen Augen fest. „Die, gegen die wir kämpfen, würden sich bei deinen Worten ins Fäustchen lachen.“ Ich ergänzte: „Aber ihr wollt, dass ihnen das Lachen vergeht“, und fügte hinzu: „Darum seid ihr euch ähnlich. Hass kommt nicht durch Hass zur Ruhe, sagt der Buddha, sondern durch Nicht- Hass kommt der Hass zur Ruhe. Der Hass hat euch genauso blind gemacht wie eure Feinde. Ihr hättet sie nur mit dem schlagen können, was sie nicht besitzen: Mit Liebe.“ Herat zuckte zusammen und verzog das Gesicht, als habe er Zitronensaft im Mund. Doch bevor er etwas sagen konnte, fügte ich schnell hinzu: „Ihr hattet Freunde im Volk gewonnen und auch in der Armee. Viel mehr als damals. Aber durch eure brutale Ungeduld habt ihr die Gunst derer verspielt, die eigentlich auf eurer Seite standen. Ihr hattet als Idealisten begonnen und endet als brutale Fanatiker, die das Volk tyrannisierten. Auch diesmal wandtet ihr euch gegen das Volk.“
Herat, der nun wieder saß, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er verzweifelt versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern. „Du hast recht“, sagte er schließlich. „Aber der Grund für die Brutalität liegt ganz woanders. Der Grund liegt in unserer mangelnden Menschenkenntnis. Unsere anfänglichen Erfolge zogen Kriminelle an wie das Licht die Motten. Als wir bemerkten, dass wir von Dieben, Betrügern und Totschlägern durchsetzt waren, da war es bereits zu spät. Um uns von diesem Abschaum zu reinigen, hätten wir Leute aus unseren eigenen Reihen erschießen müssen. Doch wir waren wie betrunken vom eigenen Erfolg. Wir waren ja so mächtig und zahlreich geworden, dass die Führung die Kontrolle verlor. Sie interessierte sich nur noch für ihren Erfolg. Es kümmerte sie wenig, dass durch ihre Maßnahmen das Volk in Angst und Schrecken geriet. Die meisten von ihnen bezahlten dafür mit ihrem Leben. Doch selbst wenn wir alle draufgehen. Es wird unserer korrupten Regierung nichts nützen. Sie selber säen die Saat, die sie am Ende doch vernichten wird. Bei jedem Aufgehen der Saat wird sie stärker, widerstandsfähiger und einflussreicher sein. Darin besteht der Unterschied zwischen uns und unseren Feinden. Im Gegensatz zu uns haben sie nichts im Krieg dazugelernt. Wir werden wiederkehren. Nicht weil wir es wollen, sondern weil wir wiederkehren müssen. Du sagst, dass uns der Hass mit unseren Feinden verbindet und Hass nur durch Nicht- Hass zur Ruhe kommt. Du glaubst, dass die Wahrheit, mag sie auch noch so vernünftig sein, irgendetwas mit den Naturgesetzen verbindet: mit Tag und Nacht, mit Ebbe und Flut, mit der Beziehung zwischen Sonne, Erde, Mond und Sternen. Nein, die Luft reinigt sich nicht dadurch, dass die Wolken aufgelöst werden, die der Wind zusammengetrieben hat, sondern dadurch, dass sich die Spannung zwischen Wind und Wolken steigern muss, um sich in einem Gewitter zu entladen. Wind und Wolken bedingen einander und es bleibt nun einmal ihr Schicksal, sich in einer letzten gewaltigen Umarmung gegenseitig zu vernichten. Dann wird die Luft rein sein. Der Boden wird fruchtbar für eine geraume Zeit. Bis sich wieder ein Wind erhebt und Wolken zusammengetrieben werden. Aus diesem Kreislauf gibt es kein Entrinnen. Du glaubst, dass du dein Leben dadurch bewahren kannst, weil du dich den Gesetzen der Vernunft unterwirfst. Aber ich sage dir, es gibt wichtigeres als die Erhaltung des bloßen Lebens. Wenn du deine Hand in einen Ameisenhaufen steckst, dann rennen die Ameisen nicht davon, um ihr Leben zu beschützen. Sie greifen an, immer wieder, ganz gleich wie viele du in deiner Hand zerquetscht. Denn es gilt etwas zu bewahren, das weitaus wertvoller als das Leben ist. Wenn sich der Kampf gegen das Unrecht im Kampf der Ameise offenbart, um wie viel mehr muss es sich im Menschen offenbaren. Wenn du diesen Kampf gegen das Unrecht preisgibst, dann gibst du dein Menschsein preis.“
Nach den letzten Worten sank er wieder in sich zusammen. Er hüstelte verhalten in ein Taschentuch. War es nur Erschöpfung oder war er vielleicht krank? Ich spürte, dass ich mich um ihn sorgte und kam mir deswegen furchtbar albern vor. Mir schien, als täte ich ihm andauernd Unrecht. Mit allem, was ich für ihn empfand. Seine Worte hatten mich tief beeindruckt, aber ich durfte es mir nicht anmerken lassen. Er würde es wohl als plumpe Vertraulichkeit empfinden. Er stellte mein Menschsein in Frage und hatte mich damit Schachmatt gesetzt. Ich hatte es mir abgewöhnt, mich mit anderen Menschen zu vergleichen, aber seine Bemerkung zwang mich, nun doch zu einem Vergleich, dem ich nicht standhalten konnte. Ging es mir überhaupt darum, Mensch zu sein oder Mensch zu werden? Diese allseits so gepriesene Vervollkommnung der menschlichen Evolution, die sogar die Vollkommenheit der Gegenwart leugnet. Ich fühlte instinktiv, dass das Gespräch in die Irre führte. Diese Faszination und tiefe Ehrfurcht, die er für eine Liebe empfand, die sich selbst zum Opfer bringt, muss auch der Buddha gekannt haben. Denn er stammte aus der Kriegerkaste und hatte eine Ausbildung in allen damals bekannten Waffengattungen erhalten.
Die Überlieferung sagt, dass der Buddha ein großer Kämpfer war und das Kriegshandwerk von Grund auf gelernt und gemeistert hatte. Eingedenk dieser Tatsache muss also die Gewaltlosigkeit, die der Buddha lehrte, etwas anderes bedeuten, als das, was Herat darunter verstand. Was für Herat Vernachlässigung des Menschseins bedeutete, war für den Buddha des Menschseins höchste Vollendung. Im Gegensatz zu Herat fehlte dem Buddha jene Voraussetzung, die den Kampf notwendig fordert. Denn jeder Kampf beruht auf Notwendigkeit. So antwortete ich Herat: "Kampf ist das Mittel, von dem sich eine Wendung der Not versprochen wird. Aber solche Notwendigkeit war für den Buddha nicht Ausdruck des Menschseins, sondern die Mangelerscheinung, die Notdurft, welche das Menschsein zur Hölle werden lässt. Indem er so die Ursache oder den Kern aller Kriege in sich selbst entdeckte, war es nur noch eine Frage der Zeit, diesen seit Urzeiten bestehenden Krieg gegen die Notdurft in sich selber zu führen und schließlich zu beenden. So war für den Buddha nie der Kampf Ausdruck von Edelmut, sondern die Gewaltlosigkeit. In den überlieferten Schriften über die Aussagen des Buddhas steht geschrieben:´Die Edlen stellen sich nicht zum Kampf.` Und so hat es bis auf den heutigen Tag nie einen Krieg im Namen des Buddhas gegeben."
Herat hatte ohne mich zu unterbrechen aufmerksam zugehört. Aber nun schüttelte er den gesenkten Kopf. „Du hast mich nicht verstanden“, sagte er traurig. „Ich kämpfe nicht gegen die Notdurft, sondern gegen die Ungerechtigkeit. Sieh mich doch an. Sieht so einer aus, der nur an die Befriedigung seiner Bedürfnisse denkt? Du weißt nicht, wie viele Menschen mir ihr Leben zu verdanken haben. Auch du würdest ohne meine Hilfe längst nicht mehr hier sein. Denn damals, als die Polizei die Bauern in deiner Gegend vertrieben, weil das Land, das sie bewohnten, verkauft werden sollte, verhinderten wir gerade noch rechtzeitig die Fortsetzung dieser Maßnahme. Das hatte zur Folge, dass du in deiner Einsiedelei von einer Invasion heimatloser Bauern verschont geblieben bist. Diese wären nämlich so zahlreich geworden, dass sich ihre Hütten an dein Höhle angelehnt hätten. Übrigens beobachteten wir dich seit Jahren und wussten, dass du dort Lebensmittel unter der Bevölkerung verteiltest und eine Erste Hilfe Station eingerichtet hattest und ein Spielplatz für die Dorfkinder durch deine finanzielle Unterstützung gebaut werden konnte. Ganz zu schweigen von den Kinderfesten, den Ausflügen und sportlichen Wettkämpfen, die du organisiert und finanziert hattest. All diese bewahrte dich, von unserer Organisation auf die gleiche Stufe all dieser religiösen Scharlatane gestellt zu werden, die das Volk nur ausbeuten. Wir hatten eine Todesliste angefertigt, von jenen, die sich im Namen der Religion am Volk bereichern. Hättest du dies alles nicht für die Bevölkerung geleistet, wärst du auch auf diese Liste gekommen. Denn als du damals plötzlich in diesem Herrenhaus auftauchtest, welches dir ein Mönch anvertraute, um daraus ein Meditationszentrum zu machen, wurden wir auf dich aufmerksam. Aber du ließest dir nichts zu Schulden kommen und so wurdest du von uns verschont. Und doch stelltest du uns zuweilen eine harte Probe. Zum Beispiel hatten wir unseren Jungs erzählt, dass du ihnen bei einer Begegnung Essen und Trinken geben würdest. Aber als sie eines nachts, nachdem sie in den umliegenden Dörfer alle Ausweise der Bauern eingesammelt hatten, um somit die Identifizierung durch die Polizei zu erschweren, an deinem Haus vorbei kamen, da waren sie müde, erschöpft und gebeugt vom Gewicht ihrer schweren Maschinenpistolen und wären dir sicher für eine kleine Zuwendung sicher dankbar gewesen. Aber du hast ihnen lediglich den Weg erklärt und dann ziehen lassen. Und ein anderes Mal, als wir eine Ausgangssperre über das ganze Land verhängten, wagtest du es mit deinem Motorrad in der Gegend herumzufahren. Zum Glück gehörte ich zu jener Mannschaft, welche die Straßen bewachte. Ich saß im Gebüsch, als du an uns vorüber fuhrst und bemerkte gerade noch rechtzeitig, als sich einer unserer Leute anschickte, dich mit seinem Gewehr aus dem Sattel zu schießen.“
Seine Offenbarungen verschlugen mir die Sprache. Er nahm dies mit sichtlichen Vergnügen wahr und ließ eine Minute der Genugtuung verstreichen, bevor er wieder zu sprechen begann. Es ist wahr, dass nie im Namen des Buddhas ein Krieg geführt wurde. Und doch ist unser Kampf, unser Krieg gegen die Ungerechtigkeit Ausdruck einer tief verwurzelten Sehnsucht nach Frieden, Harmonie und Freiheit, nach einem Pfad der Reinheit, wie er seit Urzeiten in unserem Blute liegt und auf seine Verwirklichung wartet. Wir sind wie die Lemminge, die aus einem uralten Instinkt heraus in die gleiche Richtung rennen. Es kommt nicht darauf an, ob wir einzig überleben oder nicht, sondern die wahre Richtung beibehalten. Nur darauf kommt es an, sowohl für uns als auch für folgende Generationen. Wir sind der Ausdruck eines Naturgesetzes. Wir führen die Menschheit zu jenem Ausgangspunkt, zu jener Blüte der Kultur zurück, die Voraussetzung für das Erscheinen eines Buddhas ist. Und ihr, die ihr nicht in diesen Krieg zieht, die an abgelegenen Orten in Höhlen nur eure eigene Befreiung zum Ziel habt, könnt bestenfalls mit unserem Verständnis, aber nicht mit unserer Billigung rechnen. Zwar richtet ihr in eurer Harmlosigkeit keinen Schaden an, aber für die Menschheit seit ihr bedeutungslos. Ihr seid die Ausnahme. Ihr seid die Relikte einer längst verflossenen Zeit, nach der wir uns sehnen. Ihr habt von uns nichts zu befürchten. Ihr steht unter Denkmalschutz wie die Ruinen der alten Klöster und Königsstädte, die nun nicht mehr das sind, was sie einst waren, aber doch auf den Geist ihrer Erbauer hinweisen, auf Freiheit und Gerechtigkeit als Grundlage einer schöpferischen Kraft, die sich einst wohltuend und segensreich über das gesamte Land ausbreitete.“
Herat hatte zu Ende gesprochen. Er schwieg noch eine Weile. Und als er sah, dass ich nichts hinzuzufügen hatte, erhob er sich schwerfällig und verließ den Raum auf schwachen, abgemagerten Beinen. Er ließ mich ohne Abschied zurück, ohne sich nur einmal umzudrehen. Ebenso wie es immer seine Art war. Ich blieb noch eine Zeitlang am Tisch mit dem leeren Stuhl gegenüber sitzen. Und wenn ich mich nun frage, was an diesem Abschied mir am tiefsten in der Erinnerung blieb, dann fällt mir dieser leere Stuhl wieder ein. Ich habe noch viele Jahre später bis zu meiner Abreise in allen Städten, Dörfern und Ortschaften in der Hoffnung Ausschau gehalten, dass mir Herat noch einmal begegnen würde, dass ich ihn auch nur einmal von weitem sehen würde, allein zu wissen, dass er noch lebt. Dass er unsterblich ist.