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Möbius
Sich bei Menschen, die man nicht kennt, auszuheulen, ist immer noch am leichtesten
"Ich hätte es nicht tun sollen ... ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen. Ich kenne das Warum, aber wieso ließ Gott es zu, das ich zu diesen Dingen im Stande bin?"
Genauso leichter ist es, bei Fremden seine Taten zu rechtfertigen.
"Ich hielt den Schmerz nicht mehr aus. Immer wieder, Tag für Tag, musste ich mit diesem Grauen leben, wo es doch anderen so gut geht. Warum geht es mir nicht auch gut? Es ist nicht recht, dass es anderen besser geht, als mir."
Und irgendwann verliert man sich im wirren Dunklen irgendwelcher halbwahren Philosophien.
"Was soll das, wenn kleine Tränen einzelner in der Masse der Bedeutung mehr sind, als die vielen Tränen einer einzelnen, erschaffen durch mein Leid."
In sowas steigert man sich hinein. Toleranz wird zu Ignoranz ... Mitleid zu Selbstmitleid ... Kraft, sich selbst zu heilen zu Egoismus. Und diejenigen, die nicht Element sein wollen dieser ... egozentrischen Weltanschauung werden aus Hass geopfert. Es ist der König, der von seinen Bauern verlangt, in der Rochade zu stehen. Aber hier geht es nicht um Strategie wie beim Schach. Die Bauern, wie unbedeutend und grau sie in der Masse auch erscheinen mögen, sind Menschen. Und eine Person, die ihre Verzweiflung nun zum Zentrum des ganzen Universums ausgebreitet hat, besitzt nicht das Recht, die realen Bauern zu opfern, nur weil der König merkt, dass er doch nicht unbesiegbar ist. Trotzdem ... ich glaube anfangs hatte auch ich Mitleid mit diesem verstörten Mädchen.
Und erst der Schock.
Vor 3 Wochen bekam ich am späten Abend einen Anruf. Es hat mich nicht besonders gestört, weder hatte ich es mir gerade gemütlich gemacht, noch schien ich irgendwie ermüdet zu sein. Als ich abnahm und diese flüsterne, verweifelte Stimme hörte, die sofort damit anfing, dass sie ihre "eigene Grausamkeit nun anderen schenke, die es genauso verdient haben, wie" sie, und "wie jeder andere auf diesem Planeten", offenbarte sich in mir natürlich vorerst ein Gefühl absoluter Verwirrung. Ich war mir sicher, sie müsse sich verwählt haben ... sie darauf aufmerksam zu machen, nützte allerdings nichts. Das Mädchen schien fest entschlossen zu sein, ihr Herz, mit welcher Perversion an Genauigkeit sich das auch fortlief, bei mir zu öffnen.
Ich ignorierte ihren Schmerz vorerst dreimal - dreimal legte ich auf - dreimal rief sie wieder an und begann dort, wo sie als letztes aufgehört hatte. Schon von Beginn an kam kein Gruß von ihr, sie kannte mich nicht und sie wollte mich auch nicht kennen ... für sie war ich der graue Bauer, bedeutungslos, ohne Profil, auf Seite X im Telefonbuch - doch ich war ein Fremder, das reichte ihr völlig aus. Ich hätte die Leitung für eine Zeit kappen oder einfach nicht mehr abnehmen sollen, sie hätte sich sicher eine andere Figur in ihrem verzweifelten Spiel gesucht. Ich hätte mir einiges erspart und wäre nicht schutzlos der Konfrontation ausgesetzt gewesen, Opfer zu sein, grauer Bauer, wie ich versuche den gegnerischen König zu schlagen. Doch ich hörte weiterhin zu ... im Moment des Augenblickes offenbarte es mir eine grenzenlose Faszination menschlicher Tiefe ... egal wie morbide ihre Träume und Gedanken von "Blut", "Mord", "Zerstörung" und "Hass" seien mögen und egal wie sehr mir immer wieder ein Schauer des Ekels über den Rücken lief. Ich blieb weiterhin aufmerksam und hörte den Geschichten des sterbenen Königs noch lange Zeit zu.
Und dann der Schrei.
Anfangs hielt ich es für Verwirrung, als sie immer wieder Andeutungen machte, sie habe bereits "Menschen getötet". Für mich war ab dahin klar, dass ich die Ernsthaftigkeit ihrer Erzählungen in Frage stellen werde - niemals hat sie Menschen getötet, ihr Blut auslaufen lassen, um den Quell des Lebens zu vergießen, ... niemals hat sie nekromantische Spiele mit den Leichen getrieben. Aber ich hörte weiter zu ... mir wurde nie eine Frage gestellt, nie wurde gefragt, ob ich noch da bin, ob ich verstanden hätte, was mir gesagt wurde oder wer ich eigentlich bin ... für sie waren alle Dinge, die eigentlich Grundbasis einer Unterhaltung sind, gleichzeitig selbstverständlich und ohne Bedeutung. Sie brauchte nur zu wissen, das dort eine Seele zuhört und sie wusste, dass diese Seele aufmerksam war. Immer weiter verlor sie sich in ihrem Monolog, der von solcher Grausamkeit geprägt war, wie ich sie niemals in der Realität zuvor wahrgenommen habe ... oder verlor ich mich selbst?
Und dann der Stoß.
Acht Tage dazugezählt ... zwei ab ... wieviele Nächte war ich wach? Wieviele Tage habe ich verschlafen? Ohne Übergang von Dunkel zu Hell verschwimmen die Tageswechsel. Man schläft bei Sonnenschein ein und man wacht bei Licht auf.
Vielleicht sechs Tage? Ist die Woche überhaupt vorbei?!
Ohne Bezugspunkt vergisst man noch schneller den zeitlichen Aufenthaltsort ... Zeitung, Fernsehen, Medien ... alles das war für mich verschwunden - ihr Leben wurde zu meinem Leben - ihre Leere füllte meine Leere. Leere in meiner Wohnung, schäbig, kalt, dreckig. Ist heute Donnerstag? Wie lange habe ich geschlafen?
Die zeitliche Norm wurde mir egal. Ich versuchte so zu schlafen, das ich munter sein würde, wenn ich angerufen werde.
Bin ich überhaupt wach?
Manchmal bin ich verwirrt - war es real, was ich erlebt habe? ... Oder war es ein Traum? Vergessen ist was vergessen zu sein scheint.
Und dann das Fleisch.
Ich weiß nicht mehr recht, wie es passiert ist, aber irgendwann fing ich mich wieder. Es war der Moment als ich mit leerem Blick aus dem Fenster starrte, das graue, wirre, emotionslose Leben der unbedeutenen Schachfiguren beobachtete und mein Bewusstsein plötzlich die Zeitung neben mir fixierte. Mich überkam plötzlich ein Schaudern, denn ich konnte mich nicht erinnern, sie hineingebracht zu haben. Es muss Gewohnheit gewesen sein, die mich dazu brachte, ... doch wieso verwirrte mich das so?
Diese Fragen und die darauf folgende Antwortlosigkeit erschien wie ein Sprung ins kalte Wasser - es ähnelte dem Gefühl, durch ein ständig verstopftes Nasenloch plötzlich wieder atmen zu können. Gleichzeitig befriedigend und gewisserweise bewusstseinserweiternd, freut man sich doch über eine verschwundene Qual, die man im gegenwärtigen Zustand gar nicht mehr wahrgenommen hatte.
Ich fühlte mich erleuchtet ... all diese Dinge ... alle Einflüsse, die auf mich wirkten ... ich nahm sie wieder wahr. Und doch ... das reine Glück schien trotzdem nicht über mich hergefallen zu sein, nicht nur, dass das Erwachen und Klarwerden, in letzter Zeit wie eine Art Zombie gelebt zu haben, wie ein Schock wirkte ... es erschien mir außerdem wie ein Blitzschlag, dass die Sucht, seine eigene Leere aufzufüllen gleichzeitig bedeutet, dass sich überhaupt auch Leere in meinem Leben befindet. Und als ich über diese erschreckend primitive, einfache und auch präzise Erkenntnis nachdachte, erklang jenes Zeichen, welches vor kurzem noch mein gesamtes Leben füllte: das Leuten meines Telefones. Nachdenken war nicht nötig, ich wusste, dass sie es ist. Trotz der völligen Abstinenz ihrer Anrufe am helligten Tage war mir die Tatsache, dieses Mädchen wolle wieder mit mir reden, absolut klar. Wichtige Anrufe hatte ich unter Garantie nicht zu erwarten, Freunde hatte ich keine. Da meine Mutter zu der Zeit früher ständig angerufen hat, zog ich eine Zeit lang die Schnur aus der Telefonbuchse. Irgendwann gewöhnte sie sich scheinbar daran, mich nicht erreichen zu können. Ein kleiner, heller Abschnitt in dieser absoluten Tragödie, der ich den Titel "mein Leben" widme, war die zwischenzeitige Bekanntschaft mit einer jungen Dame mit dem Namen Mima. - ... Ich kann wirklich nicht sagen, dass sie mir fehlt. Erinnerungen an vergangene Zeiten verändern sich, sie beeinflussen die Realität, aber
anders, als wie sie wirklich geschehen sind.
Wieder war ich in Gedanken versunken - das Telefon klingelte immer noch und wie ein optimistischer und doch aus Verzweiflung entstandener, sinnloser Versuch meinen König vor dem Schach Matt zu bewahren, entschied ich mich, diesmal klüger zu sein - nicht abzunehmen, in der Hoffnung, sie würde sich sicher jemand anderen suchen. Wie dumm von mir, dass zu glauben, bin ich doch für sie schon längst mehr geworden, als ein dummer, seelenloser Bauer.
Und was ist sie für mich?
Und dann das Blut.
Ständiges klingeln, ich nahm nicht ab. Meine Wohnung wurde zum Abfangjäger kranker Klänge, erzeugt von einem Telefon. Ganze Wände verformten sich von der Brutalität, die mir diese Person antat. Türen verloren sich in der Tiefe meiner verrückten Perspektive; ich sprach mit meinen Möbeln "Hi, wie geht's dir. Angst vor mir?" ... Ich hasste sie ... ich fing an, ihre gesamte Existenz zu verfluchen. Sie legte einfach nicht auf. Warum legte sie nicht auf? - Ach richtig ... zuquatschen wollte sie mich - mit etwas, was eh niemand hören will. Wer will sich schon sagen lassen, dass man eigentlich tot ist und nur nicht merkt, dass das einzige, was in einem die Illusion weckt, noch am Leben zu sein, die Erinnerung an seine alte Person ist. Soll das einer verstehen ...Wer war ich denn überhaupt? War ich jemand besonderes? Unbedeutend? Klug? Dumm? Clever? Charmant? Du weißt ja noch nicht einmal wo du bist ... Du wusstest nicht, wo ich wahr ... gewusst ... gewusst? .... habe ich gewusst oder weiß ich ...
Ich bin gar nicht in meiner Wohnung ... verleugne nicht was du zu sein scheinst, sehe dich als das, was du bist. Ich bin bei ihr ... du bist eigentlich längst gestorben und lebst nur noch, weil ich es so will ... jeder kann sich seine eigene Meinung über Verwirrung machen, wieso nicht auch ich ...
Du bist gar nicht verwirrt, du bist bei ihr ... gefesselt ... du bist ihr Bauer. Ich bin ihr Bauer ... das ist nicht Recht. Niemand ist der Bauer von irgendwem. Ich bin ich und das bleibe ich auch ... du bist gar nicht gefesselt ... ich, nicht du, Idiot.
Schicksal
Traum ist Traum und bleibt auch Traum, ob man vergessen hat, welches die Realität ist, oder nicht. Es kommt auf den Bezugspunkt an und dieser liegt außen. Ob du träumst oder wach bist, erkennen immer nur die anderen, nicht du. Wie willst du es auch beweisen? Also komm hoch ... KOMM VERDAMMT NOCH MAL HOCH, BENOMMENHEIT MUSS VORÜBER GEHEN. Sie hatte mich tatsächlich gekidnappt. Ich bin in ihrer Wohnung, schäbig, kalt, dreckig. Tatsächlich ... kein Traum. Grausamste Realität ... silber, ein Blitz in meinem Auge. Es blitzt silbern in meinem Auge ... Silber im Auge? Ein Messer ... es kommt auf mich zu ... Ich reagierte Blitzschnell, fang den Arm ab, gab dem Mädchen einen Tritt in den Bauch und schnappte mir das Messer. Sie krümmte sich vor Schmerzen ... so ist es Recht. Das was sie mir antat, soll sie nun spüren ... Ich packte ihren Haarschopf und zog sie auf den Tisch ... der gleiche Tisch, auf dem ich noch vor kurzem benommen und schutzlos lag. Ich blickte ihr noch einmal, ein letztes mal, in die Augen ... ich fühlte nichts, keine Emotionen, keine Gedanken. Leere Augen. Nun ist es zu spät, ich holte aus und rammte das Messer ihre Augen sind nicht leer, sie sind verzweifelt in ihre linke Brust. Kurze Unfassbarkeit... dann nichts mehr ... sie war tot. Schock, Schrei, Stoß, Fleisch und Blut. Mein Schicksal ... alles zieht noch einmal an meinem inneren Auge vorbei. Ich bin im Jetzt ... ich bin wach ... ganz sicher. Ich weiß es. ... Der Albtraum ist endlich vorbei. Ich blicke auf das blutverschmierte Messer ... werfe es weg. Meine Kleidung ist von elendem Lebenssaft versaut worden ... egal ... nur noch raus. Auf dem Weg zur Tür stolper ich beinahe über ein Kabel ... zum Glück ist es herausgerissen worden. Ich öffne die Tür ... blicke noch einmal zurück. Eifersucht kann krank machen ... Neider gibt es überall, vielleicht bist du ja selbst einer. .... das ist gar nicht ihre Wohnung. Es ist meine ...
[ 10.08.2002, 02:49: Beitrag editiert von: Lynch ]