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Mäuschen – Feind und Freund
3. November
Isabelle schreckte auf. Sie schaltete die Nachttischlampe ein und rüttelte an Hendriks Schulter. »Schatz, wach doch mal auf.« Ein dumpfes Knurren. An seinen verkrampften Gesichtszügen konnte sie erkennen, dass das schwache Licht ihn blendete. Mit einem Auge blinzelte er auf den Radiowecker mit der roten LED-Anzeige neben dem Bett.
»Weißt du eigentlich wie viel Uhr wir haben! Ich hoffe, es ist etwas sehr Schlimmes passiert, dass du mich um vier Uhr morgens weckst.«
»Pssssst. Hörst du das?«
»Was?«
»Da ist irgendetwas im Wohnzimmer.« Hendrik lauschte. Stille.
»Da ist nichts. Du hattest bestimmt nur einen Traum, mein Schatz.«
»Ich schwöre dir, ich habe etwas gehört.« Hendrik konnte an ihrer zittrigen Stimme und ihren großen Augen erkennen, dass sie wirklich Angst hatte.
»Okay, ich schau mal nach.« Er schob die Bettdecke zur Seite, gähnte und zog sich eine Jogginghose an. »Wenn ich bis in zehn Minuten nicht zurück bin, rufst du die Polizei.« sagte er während er die Schlafzimmertür langsam öffnete.
»Ich freue mich, dass du deinen Spaß hast!« flüsterte Isabelle.
Hendrik tapste in den Flur und schaltete das Licht ein. Er konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Alles war wie immer. Auch im Badezimmer, dessen Tür sich gleich zu seiner Rechten befand, war alles in Ordnung. Das Licht im Wohnzimmer funktionierte nicht, da vor zwei Tagen die Birne durchgebrannt war und er bis jetzt noch keine neue eingesetzt hatte. Stattdessen spendete eine alte Stehlampe neben der Tür die nötige Beleuchtung. Links von ihm befand sich die offene Küche, ihm gegenüber stand der hölzerne Esstisch mit vier Stühlen, rechts war eine Ecke mit Sofa, Fernsehecke und Wandschrank. Seine Blicke scannten den Raum, aber alles war wie immer.
Er wollte gerade ins Bett zurückkehren, als ihm dunkle Fetzen auf dem Parkettboden vor dem Bücherregal auffielen. Direkt darüber stand die alte Fotochronik seiner Familie. Der lederne Rücken des Einbands war stark beschädigt. Er holte das Album aus dem Regal, das er von seiner Großmutter kurz vor deren Tod vor zwölf Jahren vermacht bekommen hatte. In diesem Album befanden sich unter anderem die einzigen Fotos seiner Urgroßeltern.
»Das kann doch nicht wahr sein.« Wut und Verzweiflung kochten in ihm hoch, als er das schwere Buch aus dem Regal nahm. Er durchsuchte das Wohnzimmer und den Küchenbereich, doch ohne Brille konnte er auf die Schnelle keine weiteren Schäden feststellen.
Hendrik kehrte zurück ins Schlafzimmer. »Wir haben ein Nagetier in der Wohnung. Ich schätze mal, eine Maus.« Seine Stimme klang wehmütig. »Sie hat die alte Familienchronik beschädigt.« Er zog die Jogginghose wieder aus und schmiss sie in die Ecke. Isabelle saß auf der Bettkante, starrte in Richtung Tür. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlchen.
»Du weißt, wie sehr ich Mäuse hasse.« flüsterte sie.
»Ich kümmere mich später darum. Leg dich bitte wieder hin.«
»Mittlerweile ist mit klar, weshalb dieses Haus bei der Immobilienauktion im Sommer so günstig unter den Hammer kam. Die alten Wasserrohre, die chaotische Verlegung der elektrischen Leitungen und der Stromzähler von 1948. Und wir sind dem Verkäufer auch noch auf den Leim gegangen.« Isabelle begann zu weinen und Tränen flossen über ihr Gesicht. »Als nächstes kommt eine Mäuseplage, die unsere Einrichtung zerstört.«
»Schatz, ich bin auch sehr verärgert darüber, dass wir offensichtlich Besuch haben, der uns nicht wohlgesonnen ist.« Er nahm sie in die Arme und strich mit seinen Händen durch ihre langen dunklen Haare um sie zu beruhigen. »Ich kümmere mich später um das Vieh.« Er hatte im Wohnzimmer die Stehlampe eingeschaltet gelassen, in der Hoffnung dass dies die Maus von weiteren Aktivitäten in dieser Nacht abhielt.
Nach Feierabend besorgte Hendrik im Baumarkt eine Zehnerpackung klassische Mausefallen aus Holz mit Metallbügeln. Als er noch klein war gingen seine Eltern damit auf dem Dachboden auf die Jagd und konnten das Mäuseproblem beheben.
Zurück in der Wohnung belegte er die simple Konstruktion mit einem Stück Edamer, platzierte sie etwa einen Meter vor dem Bücherregal und spannte vorsichtig den Drahtbügel.
Als Isabelle von der Arbeit heimkehrte, war Hendrik gerade dabei, das Abendessen anzurichten.
»Hallo, mein Schatz.« gähnte sie nach ihrem langen Arbeitstag. »Ich sehe, du hast bereits eine Falle aufgestellt.«
»Ja, hab ich. Und ich war so frei, die Räume nach weiteren Schäden zu untersuchen.«
»Und?«
»Der Besen in der Küche ist zerfetzt, das Kabel der Stehlampe ist bis auf das Kupfer angenagt und schau dir die Tischbeine an.« schnaubte Hendrik und zeigte mit dem Küchenmesser auf den Esstisch aus massivem Eichenholz. »Alle vier sind angefressen!«
»So ein Mistvieh.«
»Aber ich bin optimistisch, dass dies bald ein Ende haben wird.« sagte Hendrik, wendete sich wieder der Küchenplatte zu und zerhackte die Zwiebel.
10. November
Sechs Tage lang tat sich jedoch nichts. Jeden Abend tauschte Hendrik das vertrocknete Stück Käse aus. Doch die Mausefalle blieb unberührt.
»Wo ist der Käse?« rief er, als er am siebten Tag direkt nach dem Aufstehen ins Wohnzimmer schaute. Isabelle stolperte auch herein. »Der Käse ist weg und der Drahtbügel ist noch gespannt?« Sie begann schnell zu atmen, schaute Hendrik nervös an, schluckte und lief wieder aus dem Wohnzimmer.
»Ein Montagsstück.« meinte Hendrik. »Diese Falle ist ein Produktionsfehler. Ich werde sie austauschen.«
Doch sie funktionierte einwandfrei, wie er feststellen musste, als er sie aufhob.
Es ging schnell, sehr schnell. Er taumelte in die Fernsehecke und lies sich auf das Sofa fallen. Der Schmerz wurde immer stärker. Er versuchte Isabelle zu rufen, doch es kam nur leises Krächzen aus seinem Mund.
»Ich habe heute übrigens meine Urlaubsanfrage für Weihnachten bestätigt bekommen.« meinte Isabelle, als sie wieder ins Wohnzimmer kam und sich währenddessen ein Haargummi verknotete. »Was hast du denn gemacht?« rief sie, als sie Hendrik in verkrampfter Haltung auf der Couch sah. Innerlich schmunzelte sie, als sie den in der Mausefalle eingeklemmten Finger sah. Hendrik war blass, atmete schnell, seine linke Hand hielt er nach oben. Sie griff vorsichtig nach der Falle, um den Bügel zu öffnen und seinen Zeigefinger wieder zu befreien. Auf einmal winselte er wie ein Hund und Tränen flossen ihm aus den Augen.
»Oh je, mein armer Schatz. Hoffentlich muss die Fingerkuppe nicht amputiert werden.« meinte Isabelle mitleidsvoll, als sei er ein kleines Kind. So verhielt er sich auch. Verwirrt schaute er sie an.
»Ich weiß, dass es weh tut, aber so schlimm wird es nicht sein.«
»Geht schon wieder. Ich komme zurecht. Bis später, meine Retterin.« meinte Hendrik mit verschmitztem Lächeln, nachdem Isabelle seinen Finger versorgt hatte.
»Bis heute Abend, mein Schatz.« erwiderte Isabelle, als sie das Haus verließ um zur Arbeit zu fahren. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig und er hatte nur noch eine Priorität: Die Maus.
»Na warte, du Mistvieh. Du frisst dich satt und mir tut jetzt der Finger weh.« Mit bösartiger Miene nagelte er Speck auf zwei Fallen und stellte sie vor die Schrankwand und unter den Tisch. Mit äußerster Vorsicht versuchte er die Drahtbügel zu spannen. Aufgrund des schmerzenden Zeigefingers stellte dieser Vorgang eine Herausforderung dar.
»Geschafft!« meinte Hendrik, als er mit viel Geduld beide Fallen scharf gemacht hatte. Nun hieß es wieder warten.
»Ich habe heute in der Mittagspause meinen Kolleginnen die Sache mit der Maus erzählt. Du glaubst es nicht. Die sind alle der Meinung, dass man heutzutage keine Tötungsfallen mehr einsetzen sollte. Es gebe eine Menge Möglichkeiten, die Tiere lebend zu fangen.« erzählte Isabelle abends.
»Und dann?«
»Im Wald oder auf einer Wiese aussetzen.«
»Schatz, das ist Einstellungssache. Unsere Nachbarin könnte zum Beispiel auch keiner Fliege etwas zu Leide tun.«
»Ist mir egal. Hauptsache das Vieh ist wieder weg. Ich hoffe, dass wir uns bald wieder normal an unseren Tisch setzen können.« Bücher und Gegenstände, die sich in Bodennähe befanden, hatten die beiden vorerst auf den Tisch und die Kommode neben dem Regal gelegt. Es sah aus, als wären sie gerade erst eingezogen.
Am nächsten Morgen ...
Die Wecker-App auf Hendriks Smartphone spielte die Titelmelodie von »Die Sendung mit der Maus«.
»Schatz, aufstehen. Fallenkontrolle.« gähnte Isabelle.
Hendrik stellte sich mental darauf ein, dass er in Kürze eine Mäuseleiche beseitigen würde. Im Badezimmer holte er einen Gummihandschuh. Was er jedoch im Wohnzimmer sah, damit hatte er nicht gerechnet. »Das kann doch nicht wahr sein!«
»Was ist denn passiert?« fragte Isabelle, die auf dem Weg zur Toilette war. Sie wollte es nicht sehen. Ihr Kopfkino und die schlechten Träume in den vergangenen Tagen genügten ihr.
»Mit Speck fängt man Mäuse … von wegen! Entweder wir haben es mit einem sehr schlauen Tier zu tun oder es hat einfach nur Glück.« schnauzte Hendrik, der sich zu Isabelle in die Tür gestellt hatte und den Handschuh auszog. Sie runzelte die Stirn, war verwirrt.
»Der Speck ist weg, die Fallen sind noch gespannt und von der Maus keine Spur.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst.«
»Mein voller Ernst. Und wenn ich dir sage, dass unser kleiner Mitbewohner im Wohnzimmer sein Geschäft erledigt hat, dann ist das auch kein Scherz.«
»Oh.«
»Ja, oh.« Hendrik kratzte sich am Kopf. »Heute Abend geh ich auf Großangriff!«
Als Hendrik nach Feierabend nach Hause kam öffnete er alle Fenster. Ein äußerst unangenehmer Geruch lag in der Luft. Dem Gestank nach hatte das Tier wieder Urin ausgeschieden und es mit dem Gerenne durch das Zimmer verteilt. Anhand der Striemen auf dem Parkettboden konnte er nun den Weg zum Unterschlupf des Tiers nachvollziehen. Ein kleiner Spalt in der Bodenleiste unter einer Kommode.
Während er den Boden putzte, kochte Aggression in ihm herauf, die ihn für eine neue Fallentaktik motivierte.
»Vier Fallen in unserem kleinen Wohnzimmer?« kicherte Isabelle, als sie abends auf einmal im Zimmer stand. Zwei Fallen hatte Hendrik mit Nutella bestrichen, zwei weitere ordentlich mit Mehl beladen. Unter dem Esstisch, vor dem Bücherregal, unter der Kommode und im Küchenbereich hatte er sie platziert und gespannt.
»Du bist ja ein Freak, Schatz. Aber wenn es hilft.« Die beiden nahmen sich in den Arm, sie legte ihren Kopf an seine Brust.
»Ja, heute Nacht schnappt die Falle zu. Und dann … aus die Maus!« Er war davon diesmal so überzeugt, dass er seine Hand darauf verwettet hätte.
»Puh, ist das ein Scheißwetter.« bäffte Hendrik als er und Isabelle nach einer Geburtstagsfeier heimkehrten. Es war kurz nach zwei Uhr morgens und es schüttete wie aus Kübeln. Ein untypisches Wetter für Ende November. Obwohl die beiden nur ein paar Meter vom Auto zur Haustür gerannt waren, waren sie klitschnass und durchgefroren. Isabelle rannte direkt unter die Dusche.
»Dann schauen wir doch mal, ob der Großangriff erfolgreich war.« grumelte Hendrik als er die Tür zum Wohnzimmer öffnete um die Fallen zu kontrollieren. Doch die Fallen waren offensichtlich nicht angetastet worden. Er fuhr sich mit der Hand durch seine nassen Haare und schloss die Tür.
Noch in der gleichen Nacht ...
»Schatz, ich glaube wir haben sie!« rief Hendrik während er die Lampe auf seinem Nachttisch einschaltete.
»Meinst du dieser komische Schlag eben war eine der Fallen?«
»Mit Sicherheit. Ich schau mal nach. Wollen wir noch wetten? Mehl oder Nutella? Ich setze auf Nutella.«
»Mehl.« konterte Isabelle.
Hendrik ging ins Wohnzimmer, mit einem schweifendem Blick erfasste er die Fallen.
»Und? Erfolgreich?« wollte Isabelle wissen.
»Naja ...« stakste Hendrik. »Ich sollte nicht wetten. Mehl hat gewonnen.« Vor dem Bücherregal sah es aus, als ob es geschneit hatte.
»Und was ist mit der Maus?« Isabelle stand plötzlich neben ihm. »Das interessiert mich viel mehr.« Die beiden starrten zu dem Bücherregal. Isabelle hob langsam ihren Arm und zeigte zitternd auf die Falle. »Sie ist zugeschnappt. Aber die Maus liegt daneben.«
»Ich bin doch nicht blind.« grunzte Hendrik.
»Die liegt da zusammengekauert und zittert. Mensch, ist die putzig. Voll winzig. Kaum zu glauben, dass die dieses Unheil angerichtet hat.«
»Schatz, wir bringen das jetzt hinter uns. Kurzer Prozess.« Isabelle schaute ihn geschockt an.
»Du willst doch nicht etwa …?« Hendrik war bereits im Haushaltsraum verschwunden und polterte zwischen Werkzeug und Kartons herum. »Du sagtest, es gibt eine Alternative für Tötungsfallen. In der Natur aussetzen.« Zieh dir was an, draußen ist es kalt und es schifft immer noch.«
Zehn Minuten später fuhren die beiden im Auto Richtung Waldrand. Isabelle hielt auf ihrem Schoß einen Schuhkarton, in dem sich die Maus befand. Auf einem Feldweg stiegen die beiden bei strömendem Regen aus. Sie stellte den Karton auf den matschigen Boden und hob vorsichtig den Deckel.
»Hopp Schatz, nimm Abschied! Ich friere.« meinte Hendrik, der völlig durchnässt neben ihr stand. Sie kippte den Karton, die Maus rutschte heraus, schnupperte verwirrt und verschwand in der Dunkelheit. Isabelle und Hendrik sprangen wieder in den Wagen.
»Gib mir bitte mal ein Tuch aus dem Handschuhfach, damit ich die Brille trocknen kann ...« Isabelle reagierte nicht, sondern schaute mit zufriedenem Lächeln durch die Windschutzscheibe in das Dunkel der Nacht.
»Aha, du schaust der Maus hinterher.« grinste Hendrik. Der Regen prasselte auf das Dach und strömte die Scheiben hinunter. Er beugte sich zu ihr, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr liebevoll ins Ohr: »Weißt du was: ich möchte nie wieder aus deinem Munde hören, dass du Mäuse hasst.«