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Männertreu
Nieselregen hat eingesetzt. Im Licht der Außenbeleuchtung glänzen die Granitstufen speckig. Ich kann meinen Blick nicht von dem blumenverzierten Klingelschild aus Knetmasse lösen: Familie Funken. Herzlich Willkommen.
Achim klingelt. Kaum ist die Türglocke verhallt, öffnet Babs. „Hallo, ihr zwei. Kommt rein!“
Sie sieht gut aus, im Gesicht rosige Glätte und ein Lächeln. Fehlt nur noch der Heiligenschein, denke ich, und dass ich sie früher anders wahrgenommen habe. Ich bin steif, als hätte ich einen Stock verschluckt, und drücke ihr die Schachtel Belgische Pralinen in die Hand, dieses widerlich süße Zeug, das seit Weihnachten bei uns rumlag. Frank kommt von oben. Wahrscheinlich hat er den Kindern eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen.
„Da seid ihr ja endlich!“
Küsschen rechts, Küsschen links. Ich kneife ihn so fest in den Oberarm, dass er die nächsten Tage einen blauen Fleck als Andenken an mich haben wird.
Ich entscheide mich für meinen Lieblingssessel, der mit der Rückenlehne zum Kamin steht, da bleibt mir der Anblick der heiligen Familie in allen Lebenslagen, gerahmt und hinter Glas, erspart.
Frank schwenkt eine Flasche Rotwein, Cabernet Franc. „Ach ein Gläschen Cabernet Frank?“, sagt er, dabei betont er Frank allzu deutlich.
Das lässt er sich nicht nehmen. Der Joke ist schon etwas abgenutzt, aber er gehört zu ihm wie die Haarsträhne, die andauernd in die Stirn fällt, das Namenskürzel FF, die Kinder und Babs. Ich schlucke trocken und nicke. Wie könnte ich auf Cabernet Frank verzichten.
„Na, Carla, wie steht’s. Alles in Ordnung? Was machen die Geschäfte?“
Was soll das werden? Die Quizshow Sag die Wahrheit! Jeder sein Getränk in Griffweite, für den Fall, dass die Stimme versagt. Scheinwerfer an. „Mein Name ist Carla Winter und ich führe eine gut gehende Boutique in der Innenstadt. Vor einem Jahr hat man mir mein Baby samt Uterus operativ entfernt. Ja, ich bin eine glückliche Frau.“ Applaus!
Aber es ist keine Studiokamera, die mir ununterbrochen folgt, es ist Joachim, der mich nicht aus den Augen lässt.
Ich nicke wieder, setze mein überzeugendes Lächeln auf und tue so, als würde mich das Gespräch interessieren.
Der Frühling will und will nicht kommen. Wollte dieses Jahr eigentlich Männertreu auf die Rabatte pflanzen. Habt ihr gehört, die Hachmanns lassen sich scheiden? Das gibt’s doch nicht! Kein Wunder, die macht doch für jeden die Beine breit. Kann schon mal kriseln, in so ’ner Ehe. Was sagt ihr zu den neuen Sofakissen, echt scharf, hm? Könnten mir auch gefallen! Fast so scharf wie die Hachmann. Übrigens, unser Großer entwickelt sich prima, die volle Punktzahl beim Mathetest. Was du nicht sagst.
Babs nervt. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, jemand sollte ihr die Heile-Welt-Selbstzufriedenheit aus dem Gesicht wischen, bevor sie Schimmel ansetzen kann. Die Idee, ich könnte dieser Jemand sein, berauscht mich. Ein verlockender Gedanke, dass ich mir endlich Frank krallen würde.
Babs plaudert weiter. „Aus Teneriffa wird nun doch nichts. Frank hat ein wichtiges Projekt.“
Der Paukenschlag aus Haydns Sinfonie No. 94 hätte mich nicht mehr aufrütteln können. „Dafür fahre ich übermorgen mit den Jungs zu meinen Eltern, die freuen sich schon wie Bolle.“
Frank streicht sich über den Dreitagebart. „Ja, da bin ich froh, hab echt einen dicken Fisch an der Angel. Lasst uns anstoßen!“
Er sieht mich direkt an, als er sein Weinglas in die Höhe reckt. Es ist dieser Blick, bei dem ich mich wie Glas fühle, nicht spröde, sondern durchsichtig. Wir haben heute schon telefonisch miteinander geturtelt. Cara mia, du fehlst mir so. Cara, das klingt schön und lässt mich an Sonnenuntergänge am Meer denken. Cara, so nennt er mich seit dem Maskenball, seit wir wie Teenager geknutscht haben und die Finger nicht voneinander lassen konnten.
Achim kippt den Cabernet Franc wie Wasser hinunter und erhebt sich eilig. „Wir müssen dann jetzt!“
Mir bleibt keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Ich musste ihm versprechen, dass wir nicht zu lange bleiben würden.
Frank hilft mir in den Mantel, zu umständlich, sodass ich mir einrede, er wolle den Moment des Abschieds hinauszögern. Seine Lippen streifen mein Ohr, als er flüstert: „Ich warte auf dich.“
Mein Körper prickelt. „Vergiss es!“, antworte ich wie ein Bauchredner.
Das Zahnseidenritual und Hautpflegeprogramm umschiffe ich, um vor Joachim im Bett zu landen. Eingemummelt bis zur Nasenspitze lausche ich den Geräuschen der Nacht. Die Baumwollbettwäsche knistert, als er das Deckbett anhebt. Er klopft und boxt sein Kopfkissen zu einem Knäuel, das untrügliche Zeichen, er ist müde und wird gleich schlafen. Joachim erspart mir Zärtlichkeiten und Diskussionen, die mir genauso zum Hals heraushängen wie die Spaghetti Bolognese, mit denen er mich einmal pro Woche füttert.
„Nacht. Schlaf gut!“ Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Du auch“, nuschle ich.
In Nächten wie dieser schleicht sich Frank in meinen Geist und macht es sich dort bequem. Ich warte auf dich, summt es in meinem Schädel. Natürlich würde ich ihn nicht besuchen, natürlich würde ich keine Ruhe finden, natürlich würde ich irgendwann bereuen, es aus Feigheit oder Rücksichtnahme nicht getan zu haben. Aber hier in meinem warmen Bett, da halte ich Frank fest, klammere mich an ihn so wie beim Faschingsball, als sich unsere Lippen wie selbstverständlich fanden. Im Schutz der Dunkelheit streicheln Hände über meine heiße Haut, wandern von meinen Brüsten zwischen meine Beine. Das Bett ächzt rhythmisch, als mich Stromstöße bis in die Fingerspitzen durchzucken. Ich beiße in die Bettdecke. Bilder blitzen auf, immer nur Frank. Wer sollte ihn davon abhalten, auch bald über meinen Körper zu herrschen, ihn zu verschlingen, die Knochen abzunagen, bis nur das Skelett von mir bleibt, weiß und klapprig und so durchschaubar wie meine Begierde. Ich werfe mich von einer Seite auf die andere. Joachim atmet ruhig und gleichmäßig neben mir.
Mit einem Mal seine belegte Stimme im Raum: „Das geht mir vielleicht auf die Eier!“
Ich schweige.
„Brauchst du das wirklich, dass dich Frank immer so anglotzt?“
„Tut er das? Kann es sein, dass mit deiner Wahrnehmung was nicht stimmt?“
Die Dinge sind stets so, wie sie scheinen.
„Ganz sicher nicht!“
„Achim, ich bin müde. Es ist spät.“ Mein Mund ist trocken.
Er murmelt etwas, das sich anhört wie: „Was ist nur aus uns geworden?“
Aber sicher kann ich nicht sein, da ich mir die Decke schon über die Ohren gezogen habe.
Ein Teil von mir packt Ware aus, dekoriert Schaufenster, nimmt den Unentschlossenen Entscheidungen ab, schüttelt ungläubig den Kopf oder nickt verständnisvoll. Und der andere Teil liegt in Franks Armen.
In meinem Kopf wippen zwei Waagschalen, in einer liegen meine Gefühle, in der anderen der letzte Funken Verstand, der mir geblieben ist. Egal in welche Richtung der Zeiger ausschlagen wird, ich weiß, es wird immer ein Ungleichgewicht geben. Trotzdem kann ich mich dem Sog, zu ihm zu gehen, nicht entziehen. Nur ein einziges Mal, Cara mia. Ich klebe einen Zettel in die Tür des Geschäftes: Aus technischen Gründen heute Nachmittag geschlossen. Ich werde Frank überraschen.
Wie unter Hypnose drücke ich den Klingelknopf neben den Knetmasseblumen, den für die Büroräume. Frank Funken, Statiker, steht da. Das Läuten ist wie ein scharfer Schnitt zwischen dem Vorher und dem Danach, einem Danach, in dem nichts mehr so sein wird, wie wir es kennen.
Erst als ich von einem Bein aufs andere trete, merke ich, wie heftig meine Knie zittern. Die Tür bleibt verschlossen. Frank scheint nicht da zu sein. Unvorstellbar. Ich wende mich zum Gehen. Es fühlt sich an, als hätte man mir ein besonders wertvolles, edel verpacktes Geschenk überreicht, und mir verboten, es zu öffnen. Ehe ich begreife, was ich tue, kontrolliere ich, ob das Gartentor verschlossen ist, und folge dem gewundenen Weg, der in den hinteren Teil des Grundstücks führt. Vorbei an immergrünen Kirschlorbeerbüschen und Blumenkästen, in denen die Männertreu die Köpfe hängen lassen.
Zaghaft öffne ich die angelehnte Terrassentür einen Spalt breit. Frank fuhrwerkt mit dem Staubsauger über den Teppichboden. Die Jeans ist ihm auf die Hüfte gerutscht, das Hemd weit geöffnet. Bisher wusste ich nicht, dass meine voyeuristischen Neigungen so ausgeprägt sind. Ich betrachte die nackte Brust, die bloßen Füße, die widerspenstige Haarsträhne, die ihn immer wieder in die Stirn fällt, kaum dass er sie weggeblasen hat. Meine Belustigung weicht einer Zärtlichkeit, die mich ganz ausfüllt und sich mild auf alles Harte und Scharfkantige in mir legt. Ich will Frank umarmen, für ihn da sein, wenn er mich braucht, ihn einatmen und für alle Zeiten in mir tragen.
Er sieht mich und schaltet das Gerät aus. „Da bist du ja, Cara mia!“
Wir fallen uns in die Arme, halten uns fest, sehnsüchtig und verzweifelt. Als wir die Umklammerung lösen, stehen sich zwei Fremde mit flackernden Blicken und nervösen Händen gegenüber, die nicht wissen, was sie greifen sollen.
Es ist viel zu hell im Wohnzimmer. Mein Verlangen braucht die Dunkelheit, um zu gedeihen.
Frank spürt meine Anspannung und fragt: „Gläschen Cabernet Frank gefällig, Madame?“
Das Lachen befreit. Und dann zieht er mich aus, vorsichtig, so als könnte er mich beschädigen, streift ein Kleidungsstück nach dem anderen ab und haucht Küsse auf die Haut, die zum Vorschein kommt. Jeans und Hemd lässt er achtlos neben meine Sachen auf den Boden fallen. Bevor wir uns auf dem Teppich niederlassen, wirft er die Kissen vom Sofa. Eins schiebt er mir unter den Po. Wir küssen uns. Er will mich verschlingen, er will in mich eindringen. Aus. Nichts geht mehr.
„Tut mir leid“, sagt er und rollt von mir ab. „Ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge.“
„Kann doch mal vorkommen“, entgegne ich, mein Ton voller Verständnis. Eine seltsame Leere macht sich in mir breit, ich weiß nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert bin. Während ich auf den Rauchmelder an der Decke starre, vergleiche ich uns mit Feuerwehrleuten, die einen Brand mit Öl zu löschen versuchen und sich anschließend über die Stichflamme wundern, die in den Himmel schießt.
Frank stützt sich auf einen Ellenbogen und betrachtet mich, als würde er mich zum ersten Mal sehen. Scheu streicht er über die Narbe auf meinem Unterbauch. „Die hab ich mir ganz anders vorgestellt.“
„Wie denn?“
„Na ja, breiter, auffälliger halt.“ Er lächelt und küsste den blassrosa Strich, der wie aufgemalt aussieht. „Du vermisst es sehr?“
Ich schiebe Franks Hand weg und drehe mich auf die Seite. Unter dem Sofa liegt ein vergessener Legostein. Der Anblick versetzt mir einen Stich. Und ich kann sie wieder hören, die krächzende Stimme des Zweifels. Lügnerin. Diebin.
„Ich glaube, Achim ahnt was“, murmle ich.
Frank lacht und bläst mir in den Nacken. „Er ist doch nicht blöd. Freilich hat er Lunte gerochen.“
Das Läuten des Telefons bricht in meine Gedanken ein. Frank entschuldigt sich mit einem Schulterzucken und läuft ins Arbeitszimmer. Ich will nicht hören, was er sagt, trotzdem verstehe ich jedes Wort. Sein ansteckendes Jungenlachen ist wie ein Tritt in den Unterleib.
„Ja, ja, natürlich komm ich klar. Was wohl? Sitze noch über den Berechnungen. Weißt doch, wie langwierig das ist. Spaß? Du hast Nerven. Grüß die Jungs von mir. Ich dich auch.“
Als er zurückkommt, zwängen sich die Strahlen der Nachmittagssonne durch die Jalousien und zerschneiden meinen Traummann in feine Streifen.
In der gesamten Wohnung brennt Licht. Joachim finde ich im Bad. Die Luft ist schwer vom Kirschblütenduft meines Schaumbades. Er liegt in der Wanne, die Kopfhörer auf den Ohren, die Lider geschlossen. Er muss meine Anwesenheit spüren, vielleicht ein Luftzug, er schlägt die Augen auf, streift die Kopfhörer ab und fragt ruhig: „Wo kommst du jetzt her?“
Gewohnheitslügner sollen angeblich einen höheren IQ besitzen als durchschnittliche Menschen, weil sie ständig neue Lügengespinste erfinden müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Kreativität ausreicht, um auf Dauer überzeugen zu können. Also bleibe ich so nahe wie möglich an den Geschehnissen. „Wo soll ich herkommen? Von dort, wo ich den Großteil meiner Zeit verbringe.“
Ich war schnell noch mal im Laden, habe das Schild entfernt und lange vor mich hingestarrt, weil ich nicht wusste, wie es mit uns weitergehen soll. Sag die Wahrheit!
„Willst du nicht reinkommen?“, fragt er. „Das Wasser ist noch heiß.“
Dass die Täuschung so einfach wäre, habe ich nicht erwartet.
„Nee, danke. Ein andermal vielleicht.“
Er verzieht die Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. „Oder hast du schon bei Frank geduscht?“
Er weiß alles. Er weiß nichts. Er blufft nur. Die Dinge sind stets so, wie sie scheinen. Ich lasse mich auf den Wannenrand sinken und drehe den schmalen Weißgoldring am Finger. Der Badeschaum knistert, als ich ihn mit der Hand durchpflüge. „Achim, wir müssen reden!“, sage ich leise und sehe ihm fest in die Augen.