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Männermordende Megäre

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18.01.2004
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Männermordende Megäre

Sylvester 1994 feierten wir am Budapester Vörösmarty Ter. Es war elendiglich kalt, rings um uns herum entlockten Kinder und Erwachsene den Tröten, die seit Tagen an jeder Straßenecke verkauft wurden, entsetzliche Töne und vorrübergehende Passanten machten sich einen Spaß daraus, einem mit Pappzylindern auf den Kopf zu hauen. Zuerst befremdete uns all das ein wenig, doch dann beschlossen wir uns der allgemeinen Fröhlichkeit anzuschließen, kauften die nötigen akustischen und physischen Folterinstrumente und machten uns daran, die unmittelbare Umgebung mit kindlicher Freude zu attackieren.

Irgendwann tauchte Steven im Gewimmel auf und wurde von uns enthusiastisch mit nervenzermürbendem Trillern begrüßt. Steven war Südafrikaner, schlief in unserem Jugendherbergszimmer und war unser aller nicht allzu heimlicher Schwarm, denn er sah aus wie ein freundlicher blonder Teddybär (mit etwas Mühe konnte man eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem jungen Robert Redford erahnen), war mit einer väterlich-sonoren Stimme, einem leisen, aber treffenden Humor gesegnet und war – da gab es keine Zweifel – ganz wunderbar. Stevens einziger Nachteil hatte einen Namen: Doreen. Doreen war alles andere als hübsch, dafür witzig, intelligent, schlagfertig, liebenswert und mit Steven verlobt, was bewies, daß der verdammte Kerl zu allem Überfluß auch noch Geschmack hatte und Frauen nicht nur nach ihrem Äußeren beurteilte. Das Leben kann so ungerecht sein !

Genau um Mitternacht zog Steven mich in seine Arme. Mir blieb fast das Herz stehen, als er sich zu mir hinabbeugte, um mich zu küssen. Wahrscheinlich hatte er es auf meine Wange abgesehen, aber da ich diese Chance unmöglich verpassen konnte, drehte ich den Kopf so, daß er auf den Lippen landete, schlang beide Arme um seinen Hals und lies erst wieder los, als er begann, aktiv gegen den Luftmangel anzukämpfen. Während die Violinen in meinem Kopf langsam verklangen, sah ich nach rechts und musste feststellen, daß Andrea und Tanja sich der Größe nach neben mir aufgestellt hatten, um mit glänzenden Kinderaugen und – wie ich unterstellen möchte – heraushängender Zunge „Wir auch, wir auch“ bettelnd darauf zu warten, daß sie an die Reihe kamen. Als echter Gentleman ließ er sich nicht lange bitten.

Nachdem wir uns alle ein frohes neues Jahr gewünscht hatten, stellten wir uns zum Gruppenphoto auf. Der Vorblitz ging einmal, ein zweitesmal – ich glaubte ein paar Schatten durch das Bild huschen zu sehen, ein drittesmal – die Schatten positionierten sich, es blitzte und klickte gleichzeitig, das Bild war gemacht: Steven, Doreen, der Engländer Liam, Andrea, Tanja und zwei völlig fremde japanische Kinder, die fröhlich grinsend, das obligatorische Victory-Zeichen machend, in der Mitte standen. Bevor wir wussten, wie uns geschah, waren sie schon wieder verschwunden, unwiderstehlich angezogen von den Blitzlichtern fremder Photoapparate.

Irgendjemand drückte mir Sekt und Vodka in die Hand, andere umarmten mich oder wurden von mir umarmt, alles rief sich „Happy New Year zu“, Tanja verteilte Wunderkerzen, Andrea rannte im Kreis und ließ ihre zerschlissene Papptüte auf die Köpfe aller erreichbaren Opfer niedergehen, Liam stand stocksteif und scheinbar unbewegt mitten im größten Tumult, nur Steven und Doreen waren plötzlich und ohne ein weiteres Wort verschwunden. Betrunken kichernd machten wir uns gegen halb zwei auf den Weg zurück zur Jugendherberge, fälschlicherweise mehr auf die Standfestigkeit der jeweils anderen als auf die eigene vertrauend, was den Marsch durch den mittlerweile vereisten Schneematsch zu einem einigermaßen riskanten Manöver werden ließ. Trotzdem langten wir unbeschadet an.


Im Schlafsaal war alles dunkel und still. Ich zog mich aus, stets bemüht nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und schlüpfte in meinen Schlafsack, aber es wollte mir nicht gelingen einzuschlafen. Die Welt drehte sich im wahrsten Sinne des Wortes um mich und sobald ich die Augen schloß, wurde mir schwindlig. Dazu kam, daß Steven begonnen hatte mit konstant zunehmender Lautstärke zu schnarchen.

Was mich betrifft, so bin ich ein Schnarchphobiker – sobald irgendjemand in meiner Nähe etwas lauter atmet als gewöhnlich, stellen sich mir schon die Haare im Nacken auf. Wenn die betreffende Person dann aber zum charakteristischen Crescendo großer Schnarcher übergeht, das eine nicht enden wollende Kakophonie unterschiedlicher Tempi und Lautstärken ankündigt, werde ich mit jedem Luftholen aggressiver. Nichts ist schlimmer, als neben einem Schnarcher zu liegen und ängstlich bangend darauf zu warten, ob der nächste Ton vielleicht ein wenig leiser sein und damit das allmähliche Ende der nächtlichen Tortur ankündigen könnte. Nichts ist schlimmer als das eben geschilderte Szenario, es sei denn man liegt neben einem Schnarcher und muß gleichzeitig erkennen, daß das letzte Glas eines zu viel war.

Nach einer halben Stunde hatte ich genug. Bei aller Liebe für den tollen Steven stand mir der Sinn nach Mord. Ich fühlte mich nicht sicher genug auf meinen Beinen, um aufzustehen und Steven an der Schulter zu rütteln. Stattdessen robbte ich in meinem Bett nach vorne, bis ich mich am Fußende aufsetzen konnte. Er schlief mir gegenüber im unteren Teil eines Stockbetts. Kurzsichtig wie ein Maulwurf beugte ich mich nach vorne, griff mit der rechten Hand nach der schmuddeligen Wolldecke, die die Jugendherberge stellte, und mit der linken nach dem, was ich für das Fußende von Stevens Schlafsack hielt. Mit einem sanften Rütteln wollte ich ihn gerade soweit wecken, daß er eine Weile mit dem Schnarchen aufhörte und mir ein Chance zum Einschlafen gab.

Leider musste ich Sekundenbruchteile später feststellen, daß Steven nicht in einem Schlafsack schlief. Genauer gesagt: Steven schlief in überhaupt nichts. Unser südafrikanischer Naturbursche lag so, wie Gott ihn geschaffen hatte, unter seiner Wolldecke. Zu schade, daß ich meine Brille nicht aufhatte.

Steven, aus dem tiefsten Schlummer gerissen, fuhr erschrocken in die Höhe, instinktiv seine Decke zum Halse ziehend, was dazu führte, daß er mittig bloß lag. Mit einem panischen Ausdruck in den Augen starrte er die besoffene Deutsche an, die ihm in tiefster Nacht die Decke vom nackten Leib gerissen und seine Füße gepackt hatte. Ich war zu müde, um ihm die wahre Sachlage zu erklären und sagte deswegen nur: „Turn over, please,“ ein Vorschlag, den er in Anbetracht seines vom Brustbein abwärts frei zur Schau gestellten Adonisleibes als mindestens ebenso bedenklich einstufte, wie alles, was zuvor geschehen war. Aufseufzend ließ ich mich nach hinten fallen und robbte zurück in meine Schlafposition. An dieser Front, das spürte ich, war heute auch mit guten Worten kein Sieg mehr zu erringen.

Vom gegenüberliegenden Bett ertönte ein verschüchtertes Rascheln, das mir verriet, daß Steven sich in seine Wolldecke wie in einen schützenden Kokon einrollte und bemüht war, das traumatisierende Ereignis so schnell wie möglich zu vergessen. Immerhin: er schnarchte nicht mehr.

Alles war still. Alles bis auf die Gasheizung. Und die klang ganz anders als die heimische Zentralheizung. Warum war mir das vorher nie aufgefallen ? Wahrscheinlich gab es da tatsächlich einen neuen Ton. Ja, genau, dieses Quietschen und Knirschen konnte unmöglich normal sein. Das Ding war sicher seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gewartet worden. Was, wenn es unter Überdruck stand ? Aller Voraussicht nach flog uns die ganze Anlage noch in dieser Nacht um die Ohren und wir alle hatten das letzte Sylvester unsere Lebens gefeiert. 1995 würde ein trauriges Jahr für unsere Familien werden.

Das konnte ich unmöglich zulassen ! Aber vielleicht irrte ich mich ja ? Ich versuchte, mich zu beruhigen, doch es gelang mir nicht. Wie viele Unfälle geschahen nicht tagtäglich im Haushalt. Wollte ich aus lauter Faulheit die Schuld am Tode aller Anwesenden auf mich nehmen ? Ein paar Minuten lang vergnügte ich mich mit der Überlegung, wieviele von uns bei einer Explosion wohl überleben würden. Leider reichten meine Kenntnisse der physikalischen Gesetze und der Gegebenheiten nicht für eine realistische Berechnung aus. Allerdings gab ich uns in meiner Kalkulation aufgrund herabstürzender Stockwerke im großen und ganzen wenig Chancen.

Ich musste etwas tun ! Wen konnte ich um Rat fragen ? Wer von uns kannte sich mit Gasheizungen aus ? Das Los fiel auf Liam. Hatten nicht viele Engländer noch immer Gasheizungen in ihren Häusern ? Liam würde wissen, ob uns Gefahr drohte, oder nicht.

Ich drehte mich mühsam auf die rechte Seite und flüsterte: „Liam, Liam. Wake up.“

Keine Reaktion. Ich seufzte. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als ihn wachzurütteln. Langsam setzte ich mich, den Schwindel ignorierend, auf und beugte mich zu der Gestalt im Nachbarbett. Doch noch bevor ich meine Hand auf Liams Oberarm legen konnte, fuhr im gegenüberliegenden Bett Steven in die Höhe, fest dazu entschlossen, dem bedrängten Geschlechtsgenossen unter Hintanstellung der eigenen Sicherheit gegen die außer Kontrolle geratene teutonische Nymphomanin zu Hilfe zu eilen.

Ich setzte zu einer wortreichen Erklärung an, verzichtete dann jedoch darauf und ließ mich stattdessen wieder auf die Matratze fallen. Steven seinerseits blieb aufrecht sitzen, um, einem mittelalterlichen Krieger nicht unähnlich, über die Unversehrtheit der anwesenden Männer zu wachen.

Von mir aus konnte die blöde Heizung jetzt explodieren.

 

Hallo Soraya,

meine herzlichsten Glückwünsche zu diesem Einstand. Du schreibst wunderbar klar und mit einem leicht ironischen Unterton. Und das, ohne albern zu werden. Mach weiter so.

Wenn man überhaupt etwas kritisieren sollte, dann die Tatsache, dass du vielleicht etwas zuviel in deine Geschichte hereinpacken wolltest. Immerhin ist es eine Kurzgeschichte. da ist Fokussierung von Vorteil: Erst beschreibst du Sylvestervorbereitungen in Budapest. Dann kommt ein Dialog, der zwar für sich genommen toll zu lesen ist, thematisch aber irgendwie zum ersten Teil unpassend erscheint. Schließlich endet die Story mit einer Szene in einem Massenschlaflager, die die vorigen Erklärungen nicht gebraucht hätte. Wo ist eigentlich Stevens Freundin abgeblieben?

Beste Grüße
knagorny

 

Ich denke Du hast recht - ist tatsaechlich zu lange. Ich werde den Mittelteil am besten rausnehmen. Danke.
Stevens Freundin ? Die schlief im oberen Teil des Stockbetts den Schlaf der Gerechten und reagierte etwas verwundert, als sie am naechsten Morgen zu einem panikartigen Aufbruch gezwungen wurde.

 

Hallo Richard !

Freut mich zu hören, dass "Mann" gerne mal nächtens überfallen wird, dann kann ich ja aufhören mir Vorwürfe wg. Traumatisierung der armen Opfer zu machen und das ganze häufiger wiederholen. Wird Zeit mal wieder in einer Jugendherberge vorbeizuschauen.

Danke für den Kommentar - Du hast absolut recht mit den Absätzen, werde ich in den nächsten Tagen durchkorrigieren.

liebe Grüße
Soraya

 

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