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Männer und Frauen
Prolog
Wann immer Janina zu plappern beginnt, bekommt es Jürgen mit der Angst zu tun. Zu weit entfernt sich ihr Mund in diesen Momenten von den Gedanken. Auf dem Weg zur U-Bahn sind sie zufällig Alex und Tanja begegnet, neuerdings Familie Glücklich, eng umschlungen, dauerlächelnd, und vermutlich nur unterwegs, um das allen zu zeigen. Seit einiger Zeit sind sie stolze Besitzer einer Eigentumswohnung, seit kurzem auch noch stolzere Besitzer eines Babys.
„Laura Maria.“ Tanjas Blick strahlt in den Kinderwagen. Janina beugt sich begeistert über das Baby und weiß nicht, wohin mit ihren Händen und Emotionen. Jürgen befürchtet, seine Freundin könnte das hilflose Wesen ins Koma plappern und legt mahnend die Hand auf ihre Schulter. Janina richtet sich nur ungern wieder auf und plappert einfach weiter: „Jay und ich versuchen es ja jetzt schon seit über einem Jahr, aber ich werde einfach nicht schwanger, obwohl wir wirklich ständig und immer wieder ...“
„Wer, zum Teufel, ist dieser Jay?“, fragt Jürgen gutmütig und alle lachen sich aus der peinlichen Situation heraus.
Janina knufft ihn. „Also wirklich, Jay!“
„So ein Baby ist einfach die mit Abstand größte Erfahrung im Leben“, schwärmt Tanja. „Du trägst es neun Monate direkt unter deinem Herzen, fühlst es in dir heranwachsen, ein kleines von dir geschaffenes Wesen ...“
„Und ein bisschen war ich auch daran beteiligt“, wirft Alex ein, um dann theatralisch auf die Uhr zu blicken. „Wir müssen jetzt weiter, Schatz!“
„Ich will endlich ein, Baby“, murrt Janina, während sie kurze Zeit später Richtung U-Bahn streben. „Alle haben ein Baby!“
„Und alle haben ein iPad“, entgegnet Jürgen.
„Okay. Dann kaufe ich dir heute ein iPad“, beschließt Janina und Jürgen legt besänftigend seinen Arm um sie.
„Das war echt schräg vorhin. Janina ist immer so ...“
„... gewöhnlich?“, schlägt Alex vor.
„Emotional“, entgegnet Tanja.
Alex ist hinter seine Frau getreten, und noch während sie ihre Jacke abstreift, schiebt er bereits voller Verlangen seine Hände auf ihre prallen Mutterbrüste. Seit ihre Oberweite deutlich an Volumen gewonnen hat, kann er einfach nicht mehr die Finger davon lassen. Aber Tanja sind seine plumpen Berührungen unangenehm. Ungeduldige Hände, die jegliche Sensibilität verloren haben, zerren ihren Pullover hoch. Ärgerlich zieht sie ihn wieder runter.
„Ich muss die Kleine stillen“, sagt sie vorwurfsvoll. „Was ist los mit dir?“
„Was soll schon sein?“, brummt Alex. „Ich will auch mal wieder ...“
„Du willst gestillt werden?“
„Von mir aus auch das.“
„Also wirklich! Bei mir sind es die Hormone. Und was ist dein Problem?“
„Wir haben jetzt schon über Wochen nicht mehr ...“
„Sag mal, Jay war vorhin irgendwie komisch, findest du nicht?“
„Jay! Jay! Wieso sagt ihr immer Jay? Der Typ heißt Jürgen. Und wie dein Ex-Freund vorhin drauf war, interessiert mich nicht. Der soll seiner polnischen Schlampe endlich ein Baby machen, bevor sie noch irgendwann eins entführt.“
Tanja schüttelt den Kopf. „Jay kann gar keine Babys machen. Der ist unfruchtbar. Deshalb haben wir uns auch … nein, nicht nur deshalb. Da gab es schon noch andere Gründe … komisch, er scheint Janina nichts davon gesagt zu haben. Blöd, wenn Sie es eines Tages auf anderen Wegen erfährt. Mir hat er es ja auch lange verschwiegen.“
Alex sind Jürgens und Janinas Probleme egal. Er beobachtet mit wachsender Erregung, wie seine Frau es sich mit Laura Marie auf dem Sofa bequem macht, endlich den Busen entblößt, um das Baby anzulegen.
„Fantastisch“, seufzt er.
„Ich hoffe, du meinst unseren kleinen Schatz“, sagt Tanja und genießt den winzigen, kräftig saugenden Mund, dieses einzigartige Gefühl der Verbundenheit.
Alex springt auf.
„Wo willst du jetzt schon wieder hin?“, fragt Tanja genervt.
„Ich hole die Kamera“, entgegnet er. „Ich wollten doch jeden wichtigen Moment festhalten!“
Jürgen verabschiedet sich nach der U-Bahnfahrt in die City von Janina mit einem flüchtigen Kuss. „Bis heute Abend ...“, haucht sie ihm ins Ohr und leckt ihm kurz über das Ohrläppchen. „Ich gehe dir jetzt ein iPad kaufen, okay?“
„Soll ich Simon von dir grüßen?“, fragt er - und freut sich über ihr entschiedenes Nein.
Dann trennen sich ihre Wege. Janina will ein paar wichtige Besorgungen machen. Jürgen überquert in entgegengesetzter Richtung die Straße, betritt auf der andern Seite eine Kneipe und schaut sich vom Eingangsbereich aus suchend um. Simon ist schon da, winkt ihm kurz von einem Fenstertisch zu. Die Brüder umarmen sich - fast ein wenig widerwillig.
„Alles gut?“, will der jüngere Bruder wissen.
„Nix ist gut“, brummt Jürgen. „Was gibt’s? Brauchst du wieder Kohle?“
„Toller Empfang!“ Simon grinst trotzdem. „Aber um mich geht es heute nicht.“
„Worum dann? Meine Zeit ist knapp.“
„Ich hab einen Job für Janina.“
„Sie hat einen Job.“
„Hausfrauen in Pilates unterrichten? Na, super!“
„Sie arbeitet gern im Fitness-Studio!“
„Hör zu, Victor will einen neuen Film drehen. Er braucht noch heiße Muschis.“
Die Bedienung, alles andere als eine heiße Muschi, kommt an den Tisch und mustert die Brüder gelangweilt über eine Halbbrille hinweg. Die beiden geben ihre Bestellung auf, die Bedienung verschwindet wortlos.
Jürgen nimmt den Gesprächsfaden wieder auf. „Ein neuer Film also. Und wie lange wird Janina ihre Klamotten anbehalten?“
„Nun bleib mal locker. Als ich sie damals kennenlernte, war sie ...“
„Das ist Vergangenheit.“
„Aber ...“
„Dass du nach Janina fragst, ist eine Beleidigung. Du kennst doch bestimmt genug andere Frauen, die sich gern vor der Kamera vögeln lassen.“
„Die machen schon alle mit. Uns fehlt nur noch eine Hauptdarstellerin mit Klasse. Victor hat ein cooles Drehbuch verfasst, es gibt 'ne richtig gute Handlung.“
Die Bedienung bringt die Getränke. Jürgen steht auf, leert sein Glas im Stehen und sagt zur überraschten Kellnerin mit Kopfnicken in Richtung seines Bruders: „Er zahlt.“ Und zu Simon: „War nett, dich mal wieder getroffen zu haben. Das mit dem Drehbuch ist lustig. Viel Erfolg mit dem Film. Und grüß den Alten von mir.“
Simon gönnt sich noch eine Weile Ruhe und einen weiteren Gin Tonic, bevor auch er die Kneipe verlässt. Der bevorstehende Besuch beim Alten liegt ihm schwer im Magen. Einmal pro Woche wechseln sich die Brüder ab. Heute ist er dran. Simon ärgert sich, dass Jürgen ihn so überstürzt verlassen hat. Er hätte gern noch etwas länger mit ihm geredet. Vor allen Dingen über den Vater! Und über die Zeiten, als der alte Herr noch das Sagen hatte und sie noch echte Brüder waren, vereint im Kampf und in der Auflehnung gegen die unerbittliche Herrschaft des Patriarchen, die Herzen schwer vom frühen Tod der Mutter, die Köpfe voller Träume von einer besseren Zukunft.
Die Schwester im Pflegeheim scheint neu zu sein, jedenfalls er hat sie hier noch nie gesehen. Sie telefoniert gerade, als Simon sich anmelden will. Sie nickt ihm kurz zu, lässt dann noch einen leicht irritierten Blick folgen, während sie sich auf das Telefongespräch zu konzentrieren versucht, und lächelt. Dieses Lächeln wirkt so vertraut, dass Simon die Frau etwas genauer betrachtet. Als sie auflegt, fällt es ihm ein.
„Kristina?“, sagt er erfreut. „Kristina!“
Sie wirkt ebenfalls angenehm überrascht. „Simon!“
Ja, es ist Simon, der gute alte Simon aus ihrer gemeinsamen Schulzeit, der Simon, in den sie unsterblich verliebt war, der cool war, der Coolste von allen, witzig, selbstbewusst und attraktiv, mit dem sie auf der letzten Klassenreise zum ersten Mal schlief, der ihr ewige Treue schwor und nach dem Ende der Schulzeit von einem Tag auf den anderen abtauchte und sich nie wieder bei ihr meldete.
„Kristina, wow, du siehst einfach toll aus!“ Sie war früher schon eine Schönheit, aber immer etwas zu brav, mit artiger Frisur, langweiligen Klamotten und dazu passenden Ansichten. Genau das war es gewesen, was Simon zunächst an ihr reizte, und was ihn am Ende wieder von ihr forttrieb, dieses Stewardessen Image, auf jede Lebenssituation mit gleichbleibender Tonlage und einer übermenschlichen Geduld zu reagieren, getragen von einer zermürbend positiven Grundstimmung, während sie jedes Problem und jeden Konflikt von sich wegzulächeln versuchte.
„Schwesterntrachten wirken auf manche Männer besonders anziehend.“ Kristina zwinkert ihm zu. „Was machst du hier?“
„Mein Vater ist hier untergebracht. Alzheimer.“
„Ich hab erst diese Woche angefangen“, erklärt sie ihm. „Ich wusste nicht, dass dein Vater hier bei uns ist.“ Sie schaut eher beruflich verständnisvoll als betroffen drein. Simons Vater hatte sie damals ohnehin nie besonders freundlich behandelt. Aber Simons Vater hatte zuletzt keinen mehr freundlich behandelt. Nach dem Tod seiner Frau hatte sich der alte Freese hinter Verbitterung und Argwohn verschanzt, ein kettenrauchender Grübler, der jeden Menschen in seinem Haus als störend empfand und entsprechend schroff behandelt – einschließlich der Söhne.
„Und du bist jetzt verheiratet?“ Simon sieht es auf ihrem Namensschild. Hinze.
Sie nickt errötend. „Seit einigen Jahren.“
„Super. Vielleicht könnten wir uns ja trotzdem mal auf einen Kaffee irgendwann ...“
Sie schaut ihn zweifelnd an, schüttelt den Kopf. „Das wäre keine so gute Idee, Simon.“
„Ohne Hintergedanken," sagt er schnell. „Als alte Freunde gewissermaßen, verstehst du?“ Liebend gern bliebe er länger hier bei ihr, um ein wenig mit ihr zu flirten, ihr Komplimente zu machen, sie vielleicht nach Dienstschluss zum Essen einzuladen und mit ihr über alte Zeiten zu plaudern, statt die unerträgliche Pflichtstunde mit dem Alten verbringen zu müssen. Der schaut seinen Sohn sowieso immer öfter ratlos an und fragt: „Wer bist du?“
Manchmal antwortet Simon spöttisch: „Das fragst du jetzt? Es hat dich doch dein ganzes verdammtes Leben lang nicht interessiert!“ In der Regel liest er seinem Vater - dem im bewussten Leben überzeugten Atheisten - aus der Bibel vor. Das ist seine Form von Rache.
Mit Kristina verbindet Simon viele schöne Erinnerungen. Aber das Telefon stört schon wieder. Sie nickt ihm noch einmal zu und kümmert sich dann sehr freundlich um den Anrufer. Simon wendet sich nur zögernd ab, schlendert gemächlich in Richtung Fahrstuhl, hofft, dass sie in einer Stunde immer noch am Empfang sein wird. Als er sich, auf den Fahrstuhl wartend, noch einmal zu ihr umdreht, hat sie den Telefonhörer immer noch am Ohr, den Blick gesenkt und wirkt konzentriert und geschäftig. Die Schwesterntracht steht ihr wirklich ausgezeichnet.
„Was ist los mit dir?“ Skeptisch mustert Patrick Hinze am Abend seine Frau. Kristina ist müde und still nach Hause gekommen, und direkt zum Duschen gegangen. Jetzt kauert sie im Fernsehsessel, weit weg von ihm und knabbert Reiswaffeln. Gelegentlich wirft sie ihm einen unsicheren Blick zu.
„Nichts“, murmelt sie.
Patrick scheint bereits wieder einige Entspannungsdrinks intus zu haben. Er schaut seine Frau nicht an, er starrt sie an, belauert sie, wirkt angespannt und angriffslustig.
„Nichts“, wiederholt er. „So, so. Und warum ziehst du dann wieder so eine Fresse? Ich hab auch hart gearbeitet. Bestimmt härter als du. Trotzdem versuche ich, mich nicht so hängen zu lassen.“
„Es tut mir leid.“ sagt sie. „Vielleicht sollte ich lieber ins Bett gehen.“
„Du bleibst“, entscheidet er und hebt sein leeres Glas in die Höhe. „Mach mir noch einen. Eine Männermischung. Ich hoffe sehr, du kriegst das endlich mal hin. Aber ich will dich auf keinen Fall überfordern, nach so einem harten Tag. Wenn es dir lieber ist, dass ich aufstehe ...“
„Patrick, bitte ...“
„Bitte was?“
„Wollen wir nicht lieber zusammen ins Bett gehen? Wir sind beide ziemlich fertig.“
„Du bist fertig! Ich bin entspannt.“ Er hält unnachgiebig das leere Glas hoch, schwenkt es fordernd hin und her und bringt dadurch einen kleinen Rest Eis zum Klingen. Um dieses zarte Geräusch herum wächst die Stille wie ein Ungeheuer.
Trotzdem macht Kristina zunächst noch keine Anstalten, aufstehen zu wollen. „Rate mal, wen ich heute im Pflegeheim getroffen habe“, sagt sie statt dessen, um Normalität bemüht, als liefe zwischen ihr und ihrem Mann nur eine nette kleine Feierabendplauderei.
„Rate mal, wer gleich was auf die Fresse kriegt“, entgegnet Patrick. Jetzt springt Kristina auf und kümmert sich - schnell und beflissen. Sie ist eine Spezialistin im Kümmern geworden, ausgebildet im Dauerbeschuss von Patricks Launen, seiner Trunksucht, seiner Unberechenbarkeit, und all der brutalen Aussetzer, die oft aus heiteren Himmel wie Granaten in ihrem Alltag einschlagen. Zu Anfang ihrer Ehe war ihr Verhältnis gut gewesen. Da hatte sich Patrick noch ganz anders verhalten, freundlich und aufmerksam und nur gelegentlich etwas jähzornig. Doch im Lauf der Zeit hatte er Karriere gemacht, zerfressen vom Ehrgeiz, hatte zu trinken und zu koksen begonnen, und sich schleichend in einen anderen Menschen verwandelt. Mittlerweile geht es für Kristina in seiner Nähe ums Überleben, darum, seine düsteren Phasen möglichst unbeschadet zu überstehen, Schläge, Tritte und Bestrafungen zu vermeiden und Vergewaltigungen zu ertragen, bis er endlich von ihr ablässt und erschöpft einschläft. Kommt er wieder zur Einsicht, entschuldigt er sich wortreich, bettelt sie mürbe, beteuert, sich ändern, eine Entziehungskur machen zu wollen, schwört, sie nie wieder zu verprügeln, verwandelt sich kurzzeitig in den alten Patrick, den sie so mochte und den sie gern geheiratet hat. Aber manchmal droht er auch. Dann treibt er sie in die Enge, fremd und bedrohlich, starrt sie aus bösen Augen an, drückt ihr die Kehle zu und haucht ihr alkoholtriefenden Irrsinn ins Ohr. Dass er sie überall fände, sollte sie ihn jemals verlassen, egal, wo, und dann ...
„Wen hast du noch gleich getroffen, Liebling?“, fragt Patrick nun beiläufig, nachdem sie ihm mit einem neuen Drink versorgt und sich lautlos wieder in den Sessel verzogen hat, weit weg von ihm.
Sie überlegt, ob das jetzt noch das richtige Thema ist, bezweifelt es und sitzt dennoch in der Falle. „Simon.“, sagt sie zögernd und hält dabei fast den Atem an.
„Simon wer?“
„Simon Freese.“
Er starrt auf das tonlos laufende Fernsehgerät und sagt erst einmal nichts weiter, beobachtet aus geschulten Augen einen Boxer, der seinen deutlich unterlegenen Gegner erbarmungslos durch den Ring prügelt, ohne dass die Pfeife von Ringrichter dazwischen geht, nimmt einen Schluck von seinem Drink, wiegt unzufrieden den Kopf hin und her und verkneift sich jedoch eine kritische Bemerkung, obwohl sie durchaus angebracht wäre. Kristina muss halt noch viel lernen, aber sie gibt sich immerhin Mühe. Nur manchmal ...
„Hast du mit dem nicht mal Fußball gespielt?“, fragt Kristina vorsichtig, weil sie weiß, dass sein Schweigen viel zu schnell in Wut umschlägt. Wenn seine Gedanken in bestimmten Momenten ungestört bleiben, verrennen sie sich oft in hässlichen Ideen. Deshalb hofft Kristina, ihn mit interessanten Themen ablenken und milde stimmen zu können.
„Mit dem? Niemals. Mit seinem Bruder. Jürgen. Das war ein geiler Keeper. Ein Wahnsinnstyp! Ein echter Brocken. Hat uns so manchen verdammten Punkt gerettet. Wie geht’s dem denn so? Was wollte der überhaupt von dir?“
„Jürgen war nicht bei uns. Sein Bruder war da, wegen seines kranken Vaters. Simon ging mal in meine Klasse.“
„Aha. Einer deiner Lover von damals, nehme ich mal an. Einer, der es dir immer so richtig besorgt hat, hab ich Recht?“
„Patrick!“
„Patrick!“, äffte er sie nach. „Ich will wissen, ob du für den damals auch die Beine breit gemacht hast, du Schlampe!“ Seine Aufmerksamkeit richtet sich jetzt wie ein Suchscheinwerfer auf sie. Der Boxkampf im Fernsehen ist aus. Goliath hat David vernichtet, weil das richtige Leben eben nach solchen klaren Regeln funktioniert, und das bedeutet, dass die Starken die Schwachen dominieren. Jetzt steht das Schwache wieder voll im Zentrum von Patricks Interesse. „Hast es wohl damals mit jedem verdammten Wichser getrieben, oder? Vermutlich war ich der letzte aus der Stadt, der bei dir mal ran durfte!“
Sie schrumpft in ihrem Sessel zusammen. An seinen Augen kann sie erkennen, dass es wieder so weit ist. Dass er wieder so weit ist.
Missmutig leert er sein Glas, knallt es auf den Tisch und stemmt sich hoch. „Verdammte Fotze“, knurrt er. „Jetzt lässt du dich sogar schon auf der Arbeit von deinen ehemaligen Stechern besuchen. Meinst du, ich merk nicht, was du hinter meinem Rücken treibst? Und zuhause bist du nicht mal in der Lage, mir einen vernünftigen Drink zu machen. Ich glaub, es geht los. Was spielt da eigentlich ab, in deiner hohlen Birne? Vermutlich kaum mehr als bei deinen Patienten.“
Kristinas Art macht Patrick rasend. Wie sie ihn anschaut, mit ihren furchtsamen Rehaugen, dann den Kopf senkt, die Schultern hoch zieht und stumm und devot auf ihre Bestrafung wartet! Sie könnte doch mal etwas dagegen sagen, sich verteidigen. Statt dessen sitzt sie einfach nur da. Ihr Prinzessinnen-Gehabe hat ihm die erste Zeit noch ganz gut gefallen, sogar ein wenig scharf gemacht, doch irgendwann ist dieses Gefühl in Verachtung umgeschlagen. Sie ist ein Püppchen. Sie redet wie ein Püppchen, kleidet sich wie ein Püppchen und fickt wie ein Püppchen. Er ist ein Macher, ein Entscheider, und fühlt sich für Kristinas Weiterentwicklung verantwortlich. So packt er sie an den Haaren, schlägt ihr die verdammte Reiswaffel aus der Hand, würgt sie und bearbeitet sie systematisch mit Hieben. Neben dem Fußball hat er auch noch eine Zeit lang geboxt, er kennt genau die Stellen, wo Schläge Wirkung zeigen. „Schmerz erhöht die Aufmerksamkeit“, hat sein Vater früher immer gesagt. „Und macht lernwillig.“
„Ich will es jetzt hören, Püppchen“, flüstert er. „Je schneller du es mir sagst, um so einfacher wird es für uns beide. Du kannst mir glauben, dass mir das kein Spaß macht, dir immer wieder auf die Sprünge helfen zu müssen.“
Püppchen weint. Wie hässlich sie aussieht, wenn sie weint. Schon allein dafür könnte er ihr links und rechts eine reinhauen. Diese Heulerei, dieses jämmerliche Verletzlichkeit, all das duldet er nicht an seiner Seite.
Er zieht noch fester an ihren Haaren, zerrt den Kopf weit nach hinten, die andere Hand zum nächsten Schlag erhoben, spürt, wie sich die ersten Haare von der Kopfhaut lösen, ihre geliebten Haare, die sie in stillen Momenten geheimnisvoll summend vor dem Spiegel bürstet, als wäre sie verhaltensgestört. Er hätte große Lust, ihr heute zur Strafe mal den Kopf zu rasieren, und die verdammten Haare in den Müll zu schmeißen.
„Hast du mir denn so gar nichts zu sagen?“, fragt Patrick mit ruhiger Stimme und bewundert sich selbst für seine Geduld.
„Ich bin eine Nutte“, stößt sie endlich hervor. „Du musst mich … bestrafen!“
Er nickt zufrieden. „Das ist nicht weiter schlimm“, versichert er ihr und lässt von ihr ab. „So ist das halt, wenn man sich von jedem Idioten ficken lässt. Ich finde nur, dass es für mich eine echte Zumutung ist, deine Nuttenmöse bumsen zu müssen, in der schon so viele verdammte Schwänze steckten. Was können wir da bloß machen? Was meinst du?“
Sie beginnt erneut zu heulen. Sofort reisst er ihr wieder den Kopf nach hinten und versetzt ihr ein paar ansatzlose Ohrfeigen, nur damit sie dieses blöde Geflenne endlich sein lässt. „Ich höre nichts! Wo kann ich denn nun meinen Schwanz bei dir reinstecken, ohne mir was einzufangen?“
„In meinen Po!“, flüstert sie verzweifelt.
Er zeigt sich erstaunt. „Du willst von mir in den Arsch gefickt zu werden, hab ich das so richtig verstanden?“
Sie nickt heftig, versucht ihre zerzausten Haare zu glätten und die Tränen zu beseitigen, damit sie wieder attraktiv für ihn aussieht. Er soll nur schnell damit beginnen. Sie hofft, dass es vielleicht nicht so lange dauern wird wie sonst, und dass er es vielleicht dabei belässt.
Er zeigt auf sein Glas: „Versuch es doch noch mal mit der richtigen Mischung. Und dann mach dich mal etwas zurecht. So wie du im Moment aussiehst, will ich dich nicht ficken. Nicht mal von hinten.“
Kristina springt auf. Mit gesenktem Blick holt sie das leere Glas von ihm ab. „Beil dich ein wenig“, bittet Patrick sie sanft. „Mein Hals ist ganz trocken vom vielen Reden.“
Als er am nächsten Morgen in die Firma kommt, fühlt er sich unbesiegbar. Er hat sich in der Nacht richtig ausgepowert und danach fantastisch geschlafen. Als er wach wurde, war Kristina schon weg. Frühdienst. Sonst hätte er sie sicher in seine Arme genommen, ihr erklärt, dass es ihm leid täte, sie vielleicht doch etwas zu hart rangenommen zu haben. Er hätte sie geküsst und ihr einen ausufernden Shoppingtag versprochen, sobald es sein Terminkalender zuließe. Er hat nur noch verschwommene Erinnerungen an die zurückliegende Nacht, aber der perfekt gedeckte Frühstückstisch ist auf jeden Fall das richtige Signal von Kristina gewesen.
Zufrieden schüttelt Patrick die letzten Erinnerungsfetzen ab. In seinem Büro trifft er auf Mathilde, die ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch ordnet. Ein hübsches Mädchen, wenn auch etwas phlegmatisch und für seinem Geschmack einen Tick zu groß. Mathilde vertritt Tanja, die seit über einem halben Jahr in Mutterschaft ist. Tanja - als Mutter schwer vorstellbar. Dieses Luder! Das Baby wäre vermutlich von ihm, hat sie ihm anvertraut, aber sie ist sich nicht wirklich sicher und will auch nicht weiter daran rühren. Ihm ist das egal, wenn sie nur bald wieder da ist. Von allen Weibern, mit denen er es bisher getrieben hat, ist Tanja die einzige, die wirklich versteht, worauf es ankommt. Er weiß sehr wohl, dass er ein Schwein sein kann, aber bei Tanja passt das, weil sie darauf steht und damit umzugehen weiß. Und sie hat Ideen, auf die nicht einmal er käme.
„Verlass doch endlich deinen Mann“, hat er immer wieder zu ihr gesagt. „Diesen verdammten Loser!“
Aber noch ist sie nicht bereit dafür. „Das Baby!“, pflegt sie dann immer zu sagen, als würde das alles erklären.
„Wenn es sowieso von mir ist, dann passt es doch. Wir brechen hier alle Brücken ab und verdrücken uns zu dritt … was weiß ich wohin.“
„Und deine Frau?“
„Mein Gott, die! Das wäre das lächerlichste Problem. Ein Wink von dir, und ich buche die Flüge. Der liebe Patrick und die liebe Tanja zusammen mit der lieben kleinen Annabelle.“
„Laura Marie.“
„Entzückender Name.“
„Chef?“
„Tanja?“
„Ähm, ich bin Mathilde.“
Patrick erwacht aus seinen Gedanken. „Mathilde“, wiederholt er. „Was gibt's?“
„Die Konferenz hat schon begonnen. Sie sind mittlerweile etwas zu spät dran.“
„Warum erfahre ich das erst jetzt?“
„Ich habe es Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft gesagt. Sie haben bloß gar nicht … ich meine, Sie waren vielleicht mit Ihren Gedanken woanders.“
„Ach, jetzt ist das auch noch meine Schuld, dass Sie Ihren Job nicht beherrschen? Mein Gott, langsam müssten Sie aber mal wissen, worauf es hier ankommt!“ Patrick mustert die junge Frau kopfschüttelnd.
Sie reicht ihm schweigend die vorbereiteten Unterlagen für das Meeting. Er reißt sie ihr aus der Hand.
„Ich möchte Sie bitten, noch heute Vormittag an meine Frau den üblichen Blumenstrauß schicken zu lassen. Vielleicht kriegen Sie wenigstens das nach einem Jahr in meiner Abteilung fehlerfrei hin.“
„Sieben Monate“, murmelt Mathilde dem hektisch davon eilenden Chef hinterher. „Sieben Monate bin ich erst hier, du Arschloch!“
„Ich bin echt froh, wenn ich das hinter mir habe“, sagt Mathilde zu dem Glas Orangensaft in ihrer Hand. Ihre Freundin Ines löffelt ihr gegenüber stoisch Eis und beobachtet das Treiben auf der Straße.
„Das ist so ein verdammter Macho-Arsch, dieser Patrick Hinze,“, klagt Mathilde weiter. „ Ich verstehe nicht, warum den noch niemand ...“
„Was?“, will Ines wissen, nachdem Mathilde den Satz unvollendet lässt.
„Erschlagen, erschießen oder wenigstens in die Eier treten sollte man dem, ihm mal so richtig weh tun. Dieser kranke Psychopath. Aber einige finden den ja so cool. Ich kenne zig Frauen, die sofort mit ihm in die Kiste springen würden.“
„Und du bist keine davon?“
„Bestimmt nicht. Und wenn das der letzte Mann auf der Welt wäre, dann würde ich lieber ...“ Sie bricht ab und errötet.
Ines mustert ihre hübsche Freundin und hat das Pech, ihr eigenes Aussehen dahinter in einem verschnörkelten Spiegel vergleichsweise mitgeliefert zu bekommen: Extrem mieser body mass index, rundes Gesicht und Doppelkinn, das einzige Dünne an ihr sind die Haare. Während Mathilde ihren Makel einer extremen Kurzsichtigkeit wenigstens seit einigen Jahren mit Kontaktlinsen verbergen kann, muss Ines ihren Makel für jeden sichtbar mit sich herumschleppen. Wenn dieses verdammte Übergewicht wenigstens zur einer sichtbaren Oberweite geführt hätte, aber die ist trotz der kontinuierlichen wachsenden Körperfülle in den letzten Jahren fast unverändert flach geblieben.
„Dann geh doch da weg, wenn dir der Typ so zuwider ist“, empfiehlt Ines über den erhobenen Eislöffel hinweg. „Man muss sich ja nicht alles gefallen lassen, oder?“
Mathilde mustert ihre Freundin, als hätte die etwas besonders Dummes gesagt. Hat sie ja auch. Im Gegensatz zu ihren Mitmenschen, braucht sich Ines keine materiellen Sorgen zu machen. Sie hat vor einigen Jahren durch ein Flugzeugunglück ihre vermögenden Eltern verloren und viel Geld geerbt; verdammt viel Geld! Seit dem bewohnt sie ein luxuriöses Apartment, beschäftigt sich bevorzugt mit Nahrungsaufnahme, Kommunikationsmedien und Reisen, besitzt einige Häuser und verlebt unbekümmert ihr Erbe, das vermutlich bis ans Ende ihrer Tage reichen wird.
„Ich brauche die Kohle, Fräulein Sorglos!“ fährt Mathilde Ines genervt an. „Mein Leben will bezahlt werden, obwohl ich keine großen Ansprüche stelle. Solche Gedanken brauchst du dir ja nie mehr zu machen! Da fällt es sicher leicht, kluge Ratschläge zu erteilen.“
„Tja dann ...“ Ines führt schwungvoll den nächsten Löffel Eis zum Mund. „Bleibt eben alles so, wie es ist. Die reiche, fette Ines lässt es sich weiterhin gut gehen, und die arme, hübsche Mathilde muss weiterhin unter ihrem blöden Macho-Boss leiden. Wie lange läuft diese Mutterschaftsvertretung überhaupt?“
„Ein Jahr vermutlich.“
„Kennst du eigentlich die, die du da vertrittst?“
„Flüchtig. Hauptsächlich vom Sehen und ein paar Meetings. Tanja soundso, arrogante Zicke und besonderer Darling vom Chef. Der redet von der, wie von einer Heiligen. Na, da weiß man doch gleich, wie der Hase läuft.“
Ines steht nackt vor dem Spiegel, als es an der Tür klingelt. Sie zuckt zusammen, streift sich hektisch den Bademantel über und eilt zur Tür. Durch den Spion erkennt sie ihren Nachbarn und öffnet ihm.
„Hi.“ Er grinst sie wie immer auf diese Art an, die sie ganz wuschig macht.
„Hallo Jacob.“ Sie lächelt zurück. Jacob ist ein Riese, athletisch, muskellös und wirkt stets irgendwie gutmütig und entspannt. „Was gibt’s?“
„Der nächste Film steht an. Können wir auch wieder einige Szenen in deinem Apartment drehen? Dein Badezimmer ist sensationell.“
Sie überlegt. „Wird das wieder ein …?“
Er nickt.
„Erotik, richtig?“
Er grinst ein wenig breiter. „Porno.“ Dazu macht er eine eindeutige Geste.
„Porno“, murmelt Ines erstaunt. „Ach so. Du hast mir ja noch nie einen deiner Filme gezeigt, und bei den Dreharbeiten habe ich auch noch nie zugeschaut.“
„Ich mach dir wieder einen guten Preis“, verspricht Jacob. „Wenn du zuschauen, willst, bleibst du einfach mal da. Und wenn du mitmachen willst, leg ich noch was drauf. Gage, verstehst du?“
„Mitmachen? Ich?!“ Sie schaut ihn entgeistert an.
„Ja, klar. Warum nicht?“
„Hast du mich schon mal … ich meine, du siehst doch ...“
Er nickt. „Ja, ja!“
Sie spürt, wie Hitze in ihre Wangen steigt. „Was soll das heißen, ja, ja?“
„Du bist halt ganz viel Frau“, entgegnet er. „ Das ist doch völlig in Ordnung! Du würdest dich gut in meinem Film machen.“
„Nein“, sagt sie entschieden. „Mein Apartment könnt ihr wieder mieten, zum selben Preis wie immer, aber mich bekommt ihr nicht. Nicht in einem solchen … Film.“
„Schade“, sagt Jacob. „Wegen den Terminen melde ich mich dann rechtzeitig.“
„Ja, mach das.“
Ines kehrt aufgekratzt in ihre Wohnung zurück. Vor dem Spiegel im Schlafzimmer streift sie wieder ihren Bademantel ab, zwingt sich zur Ruhe und starrt sich weiter an. Sie versucht sich zu erinnern, wie sie damals ausgesehen hat, als sie noch einigermaßen in Form war, in der Zeit, als Mathilde ihre dicke Brille trug und die beiden sich nach einer Feier sehr nahe gekommen waren, weinselig, des Lebens ein wenig überdrüssig, von den anderen Klassenkameraden als Mauerblümchen ausgegrenzt; und als Mathilde schließlich zu Weinen begann, hatte Ines sie sehr, sehr fest in die Arme geschlossen; bis das schlichte Verlangen nach Nähe plötzlich in verzweifelte Leidenschaft umschlug. Noch nachhaltiger aber, als die Zungenspitze ihrer Freundin, blieb Ines der nächste Morgen in Erinnerung, kaum, dass sie wieder nüchtern waren; als sie Mathilde liebevoll wach küsste, die ihr darauf hin mit einem Schlag fast das Nasenbein brach, aus dem Bett sprang und sich über eine Stunde im Badezimmer einschloss, um sich leer zu kotzen und sich zu säubern, als wäre sie vergewaltigt worden.
„Wenn du das jemals weitererzählst, dann bringe ich mich um. Oder besser noch dich!“ Mit diesen Worten hatte Mathilde sich damals von Ines verabschiedet, ihr nicht mal zum Abschied die Hand gegeben.
„Ich hab dich ja wohl zu nichts gezwungen?“, hatte Ines ihr ärgerlich geantwortet. „Aber es war wohl das mit Abstand Blödeste, was wir jemals gemacht haben.“
Mathilde war einfach gegangen, aber immerhin hatte ihre Freundschaft diese Nacht einigermaßen unbeschadet überstanden. Doch selbst heute noch versteifte sich Mathilde bei jedem Begrüßungskuss auf die Wange und bei jeder Abschiedsumarmung.
„In Wahrheit war es das Beste, was wir jemals gemacht haben“, verrät Ines heute ihrem Spiegelbild. Das Spiegelbild weint. Sie nicht. Wenn sie heute die Wahl zwischen Mathilde und Jacob hätte – sie würde beide nehmen.
„Und was sagt die Elefantenfrau?“ Simon steht am Regal neben dem überdimensionalen Fernseher und sichtet Jacobs beeindruckende Filmsammlung. Er muss sich immer irgendwie beschäftigen, kann nicht einfach nur still sitzen und entspannen.
„Ines lässt uns wieder bei sich drehen. Aber mitmachen will sie nicht.“
„So eine schwere Lady wäre mal was anderes“, meint Simon. „Die Zielgruppe für solche Bräute ist verdammt groß. Stell dir mal den Arsch vor, in Großaufnahme!“ Er macht eine weit ausholende Geste mit beiden Händen, wie ein Angler, der seinen letzten Fang zeigt.
„Sie wird es nicht tun“, entgegnet Jacob lasch. „Ich habe alles versucht. Sonst rede du noch mal mit ihr. Du bist der Frauenheld.“
„Erst einmal muss ich Janinas Interesse wecken.“
„Janina“, wiederholt Jacob, als spräche er eine verbotene Zauberformel aus. „Warum gerade die?“
„Das fragt halt einer, der sie noch nie gesehen hat. Die Frau hat eine unfassbare Präsenz! Die sieht aus, wie eine Göttin. Und an der ist alles natur.“
„Eine Göttin, die mit deinem Bruder zusammen ist.“
„Na und?“
„Der wird wohl auch eine Meinung dazu haben.“
„Wen interessiert die? Wenn Janina den Film machen will, dann wird er das nicht verhindern können. Informiert habe ich ihn jedenfalls. Außerdem sind die beiden im Moment extrem knapp bei Kasse.“
„Das wird sich durch den Film nicht wirklich ändern“, gibt Jacob zu bedenken.
Simon winkt ab. „Das ist doch alles scheißegal!“
Jacob zuckt mit den Achseln, beginnt, sich einen Joint zu bauen. Als chronischer Kiffer benötigt er Joints wie Mahlzeiten. Simon arbeitet sich immer noch durch die Filmsammlung, bis er stockt und ehrfürchtig eine DVD hochhält. „The Big Lebowski!“ Er strahlt. „Der Film, Alter.“
Jacob nickt mit Nachdruck und leckt behutsam das Blättchen an.
„Hast du nie Lust gehabt, mal einen richtig geilen Film zu machen?“, will Simon wissen. „Ich meine, du hast es doch alles drauf, das ganze Technische, Kameraführung, Beleuchtung, Schnitt und all den Kram, und wenn du dann mal ein gutes Drehbuch hättest ...“
Jacob befeuchtet das Mundstück des Joints und zündet die Tüte an. Er nimmt einen tiefen Zug und lässt ihn lange in der Lunge, bevor er den Rauch fast unwillig wieder entweichen lässt. Eine warme, friedliche Stimmung breitet sich in ihm aus.
„Scheiße, Alter“, sagt er tief aus seinem Inneren heraus. „Ich mache doch richtig geile Filme!“
„Ja, klar, aber ich meine ...“
„Ich weiß was du meinst. Seriöses Zeug.“
„Ja, lebowskimäßig.“
„Tatsächlich habe ich sogar schon ein Drehbuch geschrieben.“
Simon wird hellhörig, während Jacob mehrere kurze Züge hintereinander einsaugt. „Und?“
Jacob stößt grinsend Rauch aus. „Eine Lovestory zwischen einem fetten Mädchen und einem coolen Pornofilmer. Aber seriös. Viele anspruchsvolle Dialoge und nur ein echter Fick. Reine Kunst, verstehst du?“
Simon streckt die Hand aus und greift sich den Joint für ein paar Züge. „Sag bloß, du hast ein Auge auf den Fettarsch geworfen.“
Jacob zuckt mit den Achseln. „Ja, irgendwie könnte das so sein. Der gute, alte Jacob hat seine Vorliebe für die dicke Braut von gegenüber entdeckt. Keine Ahnung, wie das geschehen konnte. Ich werde immer ganz … wuschig, wenn ich die sehe.“
„Dann sag es ihr doch einfach.“
„Dass ich wuschig werde, wenn ich sie sehe?“
„Dass du auf ihren erdteilgroßen Arsch stehst, Alter!“
„Bist du irre?“ Entspannt beobachtet Jacob, wie Simon den Joint mit mehreren Zügen sichtbar kleiner raucht und nimmt ihn dann wieder liebvoll zurück. Er streckt sich seufzend auf dem Sofa aus und starrt verträumt zur Decke.
„Ines ist stinkreich“, murmelt er und nimmt den nächsten Zug. „Ich sag dir, eines Tages..., aber nicht grad heute oder morgen.“
Simon beginnt zu Kichern, und das leitet das Ende der ernsten Unterhaltung ein.
Janina ist im Gespräch mit einer Kollegin, als sie Simon am Ausgang des Fitness-Centers bemerkt. Er sieht – wie immer – fantastisch aus. Am liebsten würde sie sich durch den Hinterausgang verdrücken, um seiner gefährlichen Anziehungskraft zu entkommen. Aber der Bruder ihres Freundes hat sie längst entdeckt und winkt. Sie verabschiedet sich von ihrer Kollegin und strebt zum Ausgang, den Blick misstrauisch auf Simon gerichtet, bis sie ihn schließlich erreicht hat.
„Was willst du hier?“
„Begrüßt man so den kleinen Bruder seines Lebensgefährten?“ Er küsst sie auf beide Wangen und umarmt sie dabei mit viel Körperkontakt. „Hat Jürgen schon mit dir gesprochen?“
„Worüber?“
„Über das Projekt.“
„Ich weiß nichts von einem Projekt. Und Jürgen ist ein paar Tage verreist.“
„Es geht um ein Filmprojekt, in dem du die Hauptrolle spielen sollst. Kohle gibt es auch. Ich bin auf die Idee gekommen, weil du mich letztens nach einem iPad gefragt hast. Wegen der Kosten und so. Hast du eins gekauft?“
Sie nickt.
„Aber ihr seid im Moment etwas klamm, oder nicht?“
Sie kramt aus ihrer Sporttasche ihre Sonnenbrille heraus und setzt sie auf, als müsste sie sich irgendwie vor Simon schützen. „Du willst mit mir hier auf der Straße über solche Dinge reden? Findest du das nicht etwas ...“
Simon breitet unschuldig die Arme aus. „Scheiße, wo kann man denn hier in der Nähe mal einen Kaffee trinken gehen?“
„Da drüben“, sie nickt mit dem Kopf in Richtung eines Cafes gegenüber dem Fitnesszentrum. Dort erörtert ihr Simon dann die Einzelheiten des Filmprojekts, spricht allerdings von einem niveauvollen Erotikfilm und übertreibt die finanziellen Möglichkeiten.
Die ganze Zeit über schüttelt Janina immer wieder den Kopf.
„Ich weiß, was ihr für Filme dreht. Und du denkst, ich mache da einfach so mit? Du bietest mir ernsthaft diesen … Schmutz an?“
„Warum nicht? Es ist nur ein Geschäft. So dicke habt ihr das doch im Moment nun wirklich nicht. Ihr musstet doch gerade kürzlich sogar euren Wagen verticken. Da wäre so ein kleiner Geldregen zwischendurch nicht schlecht, oder?“
„Ein vorübergehender Engpass bei Jürgens Geschäften.“
„Ach so. Vorübergehend. Na dann ...“
„Ich lasse mich auf keinen Fall von irgendwelchen Männern ...“
„Ich kann mich da aber noch an ganz andere Zeiten erinnern.“
„Du weisst genau, dass die für immer vorbei sind. An wen verkauft ihr solche Filme eigentlich? Wo landen die. Wer braucht so was noch?“
„Da mach dir mal keinen Kopf.“
„Und was denkst du, was Jürgen sagt, wenn er davon erfährt?“
„Baby, er weiß es doch längst. Jetzt hängt alles nur noch von dir ab. Du kannst ja wohl für dich selbst entscheiden.“
„Genau! Und ich mach das nicht. Für mich gibt es nur noch Jürgen, verstehst du?“
„Und was ist mit mir? Ich weiß bis heute nicht, warum du von einem Tag auf den anderen einfach von mir abgehauen bist. Doch nicht wegen Jürgen! Okay, er ist mein Bruder, aber ich bin die Luxusausführung von uns beiden.“
„Ich habe dich deinetwegen verlassen. Und das war genau richtig!“
„Erzähl keinen Quatsch! Du hast Jürgen nie geliebt. Jetzt hat er nicht mal mehr Kohle. Eine wie du ohne Geld, wie soll das funktionieren?“
Sie mustert ihn nachdenklich. „Und du bist plötzlich mal wieder obenauf. Wie machst du das nur?“
Simon ergreift entschlossen ihre Hand und sie lässt ihn gewähren. Er zieht sie näher an sich heran, und sie lässt ihn immer noch gewähren. Seine Lippen dicht an ihrem Ohr, seine Worte leise und eindringlich. Sie lässt ihn gewähren, gewähren, gewähren, atmet ihn, fühlt ihn, spürt wie seine Nähe ihre Sinne benebelt, erschauert innerlich, sehnt sich nach ihm, und möchte doch am liebsten aufspringen und davon laufen.
„Wir gehören zusammen“, sagt er leise. „Wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Eines Tages wirst du Jürgen das Herz brechen, so wie mir. Aber ich werde mit so was fertig. Jürgen geht daran kaputt, verstehst du? Mit mir kannst du Spielchen spielen. Aber Jürgen meint es ernst. Der hängt dir ein Leben lang am Hals.“
„Vielleicht will ich genau das“, sagt sie und ihre Stimme zittert leicht.
Simon schaut sie eindringlich an, als versuche er, ihre Gedanken zu manipulieren. Ihre Augen schwimmen in Tränen weil sie spürt, wie leicht er sie immer noch verwirren kann. „Bitte lass mich frei“, flüstert sie. „Ich bin so glücklich mit Jay.“
„So glücklich, wie du es damals mit mir warst?“
„Simon ...“ Aber sie weicht seinen Worten nicht mehr aus, lässt sich endgültig in seine Arme ziehen, sich küssen, gibt jeden Widerstand auf. „Lass uns zu dir gehen“, flüstert sie und schiebt ihn wieder von sich weg. „Ich will nicht, dass man uns hier so zusammen sieht.“
„Jetzt gleich?“, fragt er und zwinkert ihr zu. „Ich wollte eigentlich noch meinen Kaffee austrinken.“
Janina ist lange nicht mehr in Simons Wohnung gewesen. Alles hier scheint nur auf ihre Rückkehr gewartet zu haben. Hier haben sie eine herrliche Weile unbeschwerte und kindische Pläne geschmiedet - bis Simons altes, schmutziges Leben die Träume zunehmend begrub. Heute führt nach langer Zeit wieder einmal ihre Kleiderspur ins Schlafzimmer.
„Ich werde jedenfalls in keinem Pornofilm mitspielen“, sagt Janina entschieden. Da hockt sie auf Simon, seinen vertrauten Schwanz tief in sich drin, genießt mit zurückgelegtem Kopf seine Hände auf ihren Brüsten und steigert nur ganz langsam Rhythmus. Simon grinst träge und blinzelt unauffällig in eine der versteckt positionierten Kameras, die Victor und er hier vor einiger Zeit installiert hat.
„Fick mich, Baby“, fordert er Janina auf. „Und lass uns nicht mehr über den blöden Film reden!“
Epilog
Jürgen starrt in die Zeitung, traut seinen Augen nicht, ist fassungslos. Der Name. Das Foto. Das Gesicht. Eindeutig. Es gibt keine Zweifel. Es ist Patrick Hinze. Sein ehemaliger Mannschaftskamerad aus glorreichen Fußballzeiten, der begnadete Mittelfeld-Stratege, der Kopf der Mannschaft, aber auch gefürchtet für seine Aussetzer und Tobsuchtsanfälle, die so manche rote Karte zur Folge hatten. Patrick ist tot. Sein Schicksal platziert auf Seite eins, ermordet von seiner Frau Kristina. Nachts, während er schlief, hat sie ihm erst mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen, und dann ein Messer so lange in seinen Leichnam gerammt, bis sie nicht mehr konnte. Todesengel im Blutrausch textet die Boulevard-Presse. Geschäftsmann von Ehefrau zerfleischt! Das Gesicht der Ehefrau kommt Jürgen trotz Balken irgendwie vertraut vor, ohne dass er es wirklich einer ihm bekannten Person zuordnen kann. Er ist noch immer wegen des Schicksal seines alten Weggefährten aufgewühlt, als Janina den Raum betritt, ihren im Sessel sitzenden Freund umschlingt und liebevoll küsst. Sie ist gerade nach Haus gekommen, duftet nach einem herrlichen Sommertag und strahlt selbst wie die Sonne.
„Rate Mal“, sagt sie zärtlich und lässt ihre Lippen an seinem Ohr entlang gleiten.
„Du hast neue Schuhe zu Schnäppchenpreisen ergattert“, rät er.
„Viel besser“, sagt sie. „Ich bin endlich schwanger.“