Mädchen sind
Es gibt zwei Arten von Wochenenden. Die, an denen du niemanden interessierst und die, an denen plötzlich die ganze Welt etwas von dir möchte. Dieses Wochenende, beziehungsweise dieser Samstag, zählte eindeutig zu der zweiten Kategorie. Zugegeben, eine Feier und ein Freund, die beide zur gleichen Zeit etwas von dir wollen, sind jetzt nicht unbedingt die Welt. aber es ist doch mehr, als man erfüllen kann. Da besagte Feier schon seit Monaten stand und besagter Freund sich erst am selbigen Nachmittag gemeldet hatte, wurde er von mir elegant nach hinten beordert. Ich versprach ihm also, dass wir uns spätestens um ein Uhr in der Nacht treffen könnten und verließ pfeifend das Haus in Richtung der nächsten Busstation.
Das Sommerfest des FSC war jedes Jahr eines meiner sportlichen Highlights, gleich wenn der einzige sportliche Teil wohl in dem Wettkampf um die meisten geleerten Biere bestand. Doch damit lockte nun mal die Menschen und zweitens war das Trinken ja bei Weitem nicht die einzige Beschäftigung. Vorher würden wie immer die Jahreserfolge jeder einzelnen Abteilung geehrt werden (wenn es denn da welche gab) und anschließend würde man bei einem meist exotisch gestalteten Buffet inklusive Getränken zusammensitzen und den Verlauf des anstehenden Jahres, sowie die offensichtliche Überlegenheit des eigenen gegenüber anderen Vereinen diskutieren. Und erst dann, wenn die jüngeren Mitglieder samt Eltern in Richtung Ausgang abgezogen waren, erst dann würde man das andere, undiszipliniertere-aber bei Weitem nicht minder lustigere-Gesicht dieses Vereins sehen können. Die Diskussionen blieben zwar die selben, nur der angesprochene Wettkampf würde zusätzlich Feuer in unsere Argumentationen pumpen.
Ich kam-laut Marvin wie immer-zehn Minuten zu spät. Nicht dass es der Sache irgendeinen Schaden angetan hätte, ich verpasste lediglich das erste Radler der Truppe, aber Marvin ging es ums Prinzip. Marvin ging es sowieso wahnsinnig oft ums Prinzip und das konnte manchmal ganz schön nerven. So bestand die erste Diskussion, die ich im Außenbereich unseres kleinen, mit Pokalen und Wimpeln geschmückten Clubhaus führen durfte, nicht etwa in der Frage der Überlegenheit des eigenen Vereins, sondern darin, warum ich denn immer zehn Minuten zu spät käme. Das Gespräch fand sein Ende schließlich in meinem ersten Bier. Ein anderer Vorteil des Sommerfestes. Die Getränke waren bis elf Uhr abends gratis.
Da selbiges auch für das dieses Jahr mexikanisch gehaltene Buffet galt, kehrte nach den Ehrungen der neusten sportlichen Erfolge und einer kleinen Diablo-Show durch einen FSJler die berühmt-berüchtigte gefräßige Stille ein. Auch ich langte ordentlich zu, wusste ich doch schon, was mich im Anschluss erwarten würde. Die ersten Kinder hatten die Fressorgie immerhin schon hinter sich gebracht und verließen langsam das Gelände, die Eltern im Gepäck. Der Wettkampf würde bald beginnen.
Wie es nun mal oft mit Wettkämpfen dieser Art ist, kann ich nicht sagen, ab welchem Zeitpunkt ich meine volle Konzentration dem Sieg gewidmet habe. Nach einer Weile war die Stimmung auf jeden Fall wie erwartet aufgehellt, um uns herum wurde gelacht, geredet und-vor allem-getrunken. Zwar musste man inzwischen wieder bezahlen, so wirklich interessieren tat das aber niemanden. Schließlich bestanden die jährlich vergebenen Ehrungen in Gutscheinen für das Clubhaus, sodass man auch nach elf Uhr noch mehr oder weniger kostenlos trinken konnte. Zuzüglich der Gutscheine, die man letztes Jahr vergessen einzulösen hatte. Die Stimmung wurde also besser und besser und ich wurde dementsprechend voller und voller. Doch auch die Zeit machte vor unserer geselligen Runde keinen Halt und so riss mich ein Anruf Timos mitten aus dem muntersten Wettkampf.
Selbst wenn man betrunken ist-oder vielleicht gerade dann-hütet man sich, Versprechen nicht einzuhalten. Ich kippte also eiligst den noch ausstehenden Vodka-Shot hinunter, schob schuldbewussten Blickes das Bier vor mir in Richtung Tischmitte und feuerte ein wohl ziemlich lautes „Ich geh dann mal“ in die Runde. Ohne wirklich die Reaktionen abzuwarten, stolperte ich aus dem kleinen Garten unseres Clubhaus und verließ das Vereinsgelände. Ein kleiner Anfall von Orientierungslosigkeit überkam mich. Was hatte Timo noch gemeint?
Das Problem ließ sich lösen, indem ich einmal nach links schaute und nichts als die nächste Straßenkurve, die leere Bushaltestelle und unzählige Straßenlaternen erblickte. Der anschließende Rechtsblick war da nämlich schon deutlich gewinnbringender: An der Pizzeria hinter der kleinen Kreuzung nahe des Eingangs, den ich gerade verlassen hatte, beanspruchte eine mittelgroße, etwas dickere Silhouette mit kurzem Haarschnitt einen Platz auf der kleinen Steinmauer, über die eine Treppe den Weg zum Restaurant möglich machte. Das konnte nur Timo sein dachte ich und setzte glücklich meinen Stolpergang fort.
Meine Einschätzung hatte mich nicht getrogen. Als ich die Kreuzung überquerte , setzte sich der Schatten, der nun langsam auch in der Dunkelheit scharfe Konturen annahm, in Bewegung und begrüßte mich schon von Weitem mit einem herzlichen „Jo dikka“
„Moinsen“, erwiderte ich. Inzwischen stand ich direkt vor dem Schatten, der jetzt keiner mehr war. Ich schlug in die ausgestreckte Hand ein und ergriff sofort danach das mir angebotene Bier.
„Danke, haste ne Kippe?“, bedankte ich mich und langte in meine Tasche, um die Flasche mit meinem Schlüssel zu öffnen.
„Ne, sorry Bruder. Aber dafür hab ich ordentlich was zu erzählen“, antwortete Timo.
„Na dann schieß los. Kannst mich ja nach Hause begleiten, bin ziemlich hacke und will schnell ins Bett. Außerdem flieg ich morgen“, forderte ich ihn auf. Er nickte verständnisvoll und setzte zu seiner Erzählung an:
„Also, hab dir doch von dieser WG erzählt, die unsere Schule organisiert hat. Eine Woche in so nem Haus mit nen paar Mitschülern zusammenleben“
„Das, wo du dich nur eingschrieben hast, um Lara näherzukommen?“ unterbrach ich ihn.
„Genau“, nickte er, „aber hör zu, um die geht es jetzt nämlich auch: Kurz vor Start hab ich halt noch so mit ihr geschrieben, von wegen, was wir brauchen und so. Und plötzlich hat sie mich einfach gefragt, ob ich mir mehr als Freundschaft zwischen uns vorstellen könnte“
„Uhh, Jackpot alter“, erhellte sich mein Gesicht.
„Warte“, sagte Timo, „das ist noch nicht alles“ So schnell wie mein Grinsen gekommen war, verflog es auch wieder. Irgendwas stimmte hier nicht. Ich kannte Timo seit mehr als fünf Jahren.
„Was los?“, fragte ich.
„Na ja. Ich hab natürlich Ja geschrieben und dann… dann meinte sie, es tue ihr total leid und ich wäre ein klasse Junge, aber… aber sie stehe nun mal nicht auf Jungs“, antwortete er. Verblüfft starrte ich ihn an. Und in dem Moment fasste ich einen Beschluss.
„Können wir kurz zu Macces?“, erwiderte ich. Jetzt war Timo der Verwirrte , schließlich waren die tröstenden Worte ausgeblieben.
„Na gut, die Geschichte geht eh noch weiter“, ließ er meine Idee gewähren.
„Aber sowas muss verdammt bitter sein. Da schreibst du vier Monate mit ihr und dann so ein undankbares Ende“, wagte ich dann doch einen Vorstoß in Richtung Trost.
„Ist es auch“, stimmte er mir zu, „aber wie gesagt, das ist ja noch nicht alles“
Jeder weitere Satz von Timo bekräftige mich nur noch in meinem Vorhaben. Während wir an der Bushaltestelle auf den wie immer verspäteten Nachtbus warteten, erzählte er, wie er fast sein Bett kaputtgeschlagen hatte und wie er Lara doch vorgespielt hatte, dass das alles kein Problem sei. Während wir mit dem Bus den Kudamm hochfuhren, erzählte er, dass er im Anschluss eigentlich gar keinen Bock mehr auf die WG gehabt und zu Schwänzen überlegt hatte. Und während wir ausstiegen und die letzten Meter zu der Mac-Donalds-Filliale bewältigten, erzählte er, wie er in der WG unerwartet ein anderes, viel tolleres Mädchen getroffen hatte und dass sie sich beide ineinander verguckt hätten. Kurz um gesagt stand ich neben einem 17jährigen Jugendlichen, der seinem komplett besoffenen Kumpel sein gesamtes Sexualleben offenlegte. Während der ganzen Geschichte rasten meine Gedanken, Adrenalin und Alkohol brachten meine Beine zum Zittern. Ich würde. Er hatte es verdient.
Eigentlich sind es nicht viele Worte. Aber es gibt Dinge, die umschreibt man in bestimmten Situation lieber. Dinge, von denen man will, dass der andere sie versteht, man sie aber doch nicht beim Namen nennen möchte. Man, war ich betrunken.
„Also“, setzte ich an. Timo legte den Hamburger hin und schaute mich nachdenklich an.
„Erzähl“, meinte er.
„Stell dir mal vor, ein komplett normaler Junge fährt mit 13 Jahren auf Konfafahrt und küsst dort sein erstes Mädchen. Und jetzt stell dir vor, über die Jahre fällt diesem Jungen auf, dass Mädchen eigentlich voll die Hurensöhne sind“, schloss ich meinen ersten Versuch. Timo schaute mich verwirrt an.
„Mädchen sind Hurensöhne“, wiederholte ich.
„Hä“, erwiderte er.
„Ach egal, ich fang noch mal anders an. Also ich hab dir doch von diesem einen Mädchen erzählt, das ziemlich offensichtlich etwas von mir will. Diese gutaussehende Polin. Wo du meintest, ich soll mir gönnen“, begann ich erneut. Timo nickte.
„Na ja, es hat nen Grund, warum ich mir nicht gönne“, sprach ich weiter, „Mädchen sind Hurensöhne“
„Was?“, kam es von der anderen Seite des Tisches zurück.
„Na ja, Mädchen sind Hurensöhne“, lallte ich erneut. Timo schaute mich immer noch verdutzt an.
„Ach egal, den Rest kannst du dir denken, wenn du schlau bist“, gab ich es auf. Timo schaute mich kurz noch verwirrter an, ehe er in Gelächter ausbrach.
„Digga, du kommst hier hin, laberst irgendeinen davon Mädchen seien Hurensöhne und den Rest könnte ich mir denken. Was los?“, gluckste er. Ich fing ebenfalls an zu lachen, teils wegen des enormen Alkoholpegels, teils weil er Recht hatte.
„Du hast mir doch von Lara erzählt“, startete ich meinen letzten Versuch, „und dass sie nicht auf Jungs steht“
„Ja“, antwortete Timo.
„Weil…weil ich schon“, drückte ich in einem Ausatmen raus. Timos Lachen verschwand und seine Gesichtszüge wurden binnen Sekunden hart.
„Du stehst auf Jungs?“, hakte er nach. Ich nickte. Merkwürdigerweise war es mir sogar egal, was jetzt kommen würde. Es war drei Uhr morgens, ich saß komplett hacke bei Mac Donalds, würde in ein paar Stunden in den Urlaub fliegen und hatte mich gerade bei meinem besten Kumpel geoutet. Genauso objektiv nahm ich meine Situation in dem Moment wahr, ohne sie dabei in irgendeiner Weise als negativ oder positiv einzustufen. Gelassen beobachtete ich die zwei Männer, die sich gerade mit ihrem Tablett an den Tisch neben uns setzten.
„Scheiß egal, du bist einfach ein Bruder“, beendete Timo die Stille und hielt mir die Faust hin. Ich schaute kurz ihn und dann den ausgestreckten Arm an, bevor ich meine gegen seine Faust drückte.
„Ich hab nur eine Frage“, löste Timo unseren Freundschaftsbeweis auf und fragte anschließend: „Wo findet man ein schwules Date?“ Noch bevor ich zu einer Antwort kam, mischten sich die zwei Männer am Nebentisch ein.
„Ein was?“, fragte einer von ihnen. Timo schaute ihn lange und eindringlich an, hob seinen Colabecher, zog einmal am Strohhalm und wiederholte ganz ruhig und bestimmend seine Formulierung: „Ein schwules Date“
Der Mann erwiderte für einen kurzen Moment seinen Blick, ehe er sich hastig abwandte. Glücklich lächelnd betrachtete ich Timo.
„Man, haben wir schon viel Scheiße zusammen erlebt“, lachte ich.