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Málaga
Der Name lockt. Dreimal A. Triple-A. Man denkt an Eis. Heißt nicht auch dieser schwere Wein so? Nein, das ist Madeira. Höchste Zeit, sich schlau zu machen. Ich fläze mich auf der Rückbank des klapprigen Passats und schnappe mir den Städteführer. Draußen huscht die Landschaft vorbei. Irgendwo in Frankreich auf der Süd-Autobahn. Der Motor dröhnt. Mein Freund Alex sitzt vorne am Steuer. Ich bin froh, dass er so lange fahren kann. Er ist zuverlässig. Manchmal etwas zu sehr. Ich lese. Früher erkannten die Seefahrer Málaga schon viele Kilometer, bevor der Hafen sichtbar wurde – an dem Duft der Jasmin- und Orangenbäume. Schön. Und heute? Wahrscheinlich wie in jeder spanischen Stadt. Viel Verkehr und Mopedgeknatter. Im August steht Málaga ganz im Zeichen der Fiesta. Vier Wochen lang kommt die Stadt nicht zur Ruhe. Was haben wir? Schon September. Egal.
Der erste Tag. Wir gehen einkaufen. Es ist erst 10, aber die Sonne knallt herunter. Wir wohnen am Hang. Das Zentrum ist unten am Wasser. Ich hänge mir die Handtasche um. Die ganze Stadt ist unterwegs. Wir arbeiten uns die Straße hinunter. Mein Freund hält mich an der Hand. Ein wenig zu fest. Plötzlich lösen sich unsere Hände voneinander. Er wird weiter nach vorne geschoben. Ich pralle gegen zwei Männer mit Dreitagebart. Sie müssen nichts sagen, denn ein Messer blitzt in der Morgensonne. Ich kann kein Spanisch. Ich recke mich kurz und schaue nach vorne, doch meine Freund ist nicht zu sehen. Die Männer verschwinden im Getümmel. Meine Handtasche ist weg.
Ich dränge mich weiter nach unten, um Alex wiederzufinden, um aufzuholen. Die Menge drückt mich immer mehr zur Seite. Ich bleibe am Straßenrand stehen und verschnaufe. Ich schwitze. Ein Mann steht in einem Hauseingang und starrt mich an. Ist es einer der Räuber? Oder gehört er nur zur Äquivalenzklasse der Menschen, die so aussehen wie dieser Räuber? Egal.
Ich habe keine Angst. Was will er noch? Seine andalusischen braunen Augen scheinen nichts zu verraten. Ich spüre, dass sich etwas öffnen könnte, was immer verschlossen war. Davor habe ich Angst. Ich möchte schnell weggehen. Stattdessen gehe ich langsam auf ihn zu. Er dreht sich um und öffnet die Tür. Ich folge ihm. Die meisten andalusischen Häuser haben einen Innenhof, den sogenannten patio. Durch ihn kommt frische Luft und etwas Licht in das Haus. Drinnen ist es dunkel und angenehm kühl. Ich folge dem Mann eine Treppe hinunter, drehe mich unten um 180 Grad und gehe in einen Raum, der kein Fenster hat. Wir sind im Souterrain. Nur am oberen Ende der gegenüberliegenden Wand dringt durch einen waagerechten Schlitz etwas Licht und Rumoren von der Straße hinein. Isaac Albeniz schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts das Stück „rumores de la caleta“, in dem er gekonnt folkloristische und virtuose Elemente vereinigte. Wir stehen uns dicht gegenüber. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Ich studiere seine Gesichtszüge und erkenne, dass nicht er eine Gefahr darstellt. Er lächelt, nicht verlegen, aber freundlich wartend, was als nächstes passieren würde. Plötzlich nimmt er meine Hand. Ich spüre etwas Kaltes darin. Es ist ein Schlüssel.
Zurück in der Ferienwohnung werfe ich meine Handtasche aufs Bett. Mein Freund fragt gar nicht richtig, wo ich gewesen bin und ich antworte nicht richtig irgendwas. Ich bereite uns einen Gazpacho zu. Tipp: Wenn man Gurke und Tomatensaft gekühlt verwendet und zwei bis drei Eiswürfel in den fertigen Gazpacho gibt, ist er in ca. 1 Stunde servierbereit. Er sitzt zufrieden auf dem Bett und liest. Etwas zu zufrieden. Ich döse vor mich hin. Ich greife in meine Hosentasche. Da ist der Schlüssel. Mein ganzer Körper fängt an, heiß zu glühen. Ich werde morgen früh shoppen gehen und das mache ich lieber alleine.
Der zweite Tag. Es ist Neun. Die Morgensonne brennt. Ein beliebter Kommentar der malagueños zur tagelangen Hitze ist „Qué calor!“. Ich dringe in das kühle Haus ein und haste die Stufen zur Höhle hinunter. Er lächelt nicht, als er mich sieht. Er weicht einen Schritt zurück, um mir den Eintritt zu gewähren. Ich zögere. Dieses Mal schaue ich mich richtig um. Rechts am Rand des Zimmers liegt eine Matratze mit Kopfkissen und einer quietschgelben Baumwolldecke darauf. Neben der Matratze steht ein tragbares Kassettengerät auf dem Boden. Links an der Wand steckt eine Elektro-Heizung in der Wand. Davor ist ein dunkles, gusseisernes Gitter als Verkleidung angebracht. In der Mitte des Zimmers bildet ein kleiner runder Holztisch mit Stuhl das ganze Mobiliar. Falls hier jemand haust, kann es noch nicht lange sein und alles andere könnte noch in den herumstehenden Kisten und dem schwarzen Koffer liegen. Auf dem Koffer liegen Handschellen. Aus dem Lichtschlitz zur Straße lässt ein Sonnenstrahl sie aufblitzen. Lassen Sie sich verführen von dem einzigartigen Ambiente dieser Stadt. Zögern Sie nicht und nutzen Sie die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich Ihnen hier bietet. Ich wende mich ihm zu. Er weicht gleich einen Schritt zurück. Ich schaue ihn an: Hinter seinem Schweigen und seinem festen Blick verbirgt sich etwas, dass mich beunruhigt – und reizt. Eine Schwäche, eine Sehnsucht. Wieder geht er einen Schritt zurück und steht jetzt an die Wand gelehnt. Ich folge ihm und versuche wieder, hinter seine Augen zu schauen. Dann, für die Zeit eines Augenschlags, wird mir etwas klar und die Macht dieser Erkenntnis lässt nun mich zurückweichen.
Der Tag vergeht nicht. Er verharrt in Bewegungslosigkeit. Seit heute früh drehen sich meine Gedanken im Kreis. Ich sitze auf der Mole und schaue aufs Meer. Ich träume. Der Augenblick der Erkenntnis, seine Augen und das blitzende Sonnenlicht verschmelzen mit meinem Traum, ohne eins zu werden, ohne dass es eine Auflösung gibt. Ich muss morgen wieder hin. Nur so kann ich diesen Zustand der Lähmung abschütteln. Bis dahin ist absolut nichts zu tun. Vollkommene Lähmung. Weder kann ich mich aufraffen, zur Wohnung heimzukehren, noch meinen Freund in den Cafes zu suchen. Lesen ist möglich, die Sätze nehme ich wohl auf, doch der Sinn bildet sich nicht in meinem Hirn. Nach der Rückeroberung der Stadt durch die katholischen Könige am 18. August 1487 wurde die alte muslimische Moschee der Heiligen Maria der Menschwerdung geweiht. Den folgenden Urlaubstag in Gedanken durchzudenken und zu planen, wie ich dies gerne mache - vergeblich! Meine Zeit strebt auf diesen Punkt morgen früh zu, doch in zermürbender Langsamkeit.
Am dritten Tag wache ich früh auf. Ich lasse Alex links liegen, ziehe mich an und stürme hinaus. Die Spanier haben ein eigenes Wort für den sehr frühen Morgen: madrugada. Die aufgehende Sonne leuchtet mir auf der Straße entgegen. Es ist keine freundliche, kühle Sonne am hellblauen Himmel, sondern eine mächtige; ihr Himmel von einem wüsten Wolkenmeer durchsetzt, taucht sie ihn in ein wildes Orange-Rot, ein Feuermeer. In den Gesichtern der wenigen Passanten spiegelt sich diese Röte, hinter den sonst unbeteiligten Gesichtern entdecke ich mal aufgeregte Freude, mal stummes Entsetzen, vor allem aber Verwunderung über dieses Schauspiel. Zitternd stehe ich vor der Eingangstür. Hier findet etwas statt, dass ich nicht zu fassen vermag, das gewaltig ist und mich ganz in Anspruch nimmt. Mein Leben und die Welt, alles ist reduziert, nein, komprimiert in diesem Zimmer. Körperhitze steigt in mir hoch. Die Dunkelheit nimmt mich auf, die Tür fällt spröde ins Schloss. Er steht in der Mitte des Zimmers. Der einsame Sonnenstrahl verwandelt ihn in einen Schatten, einen Scherenschnitt. Ich betrachte die feinen Härchen, die von seinem Hals abstehen. Ich sehe nicht sein Gesicht, als ich mich ihm nähere. Er weicht langsam zurück zur Heizung. Ich entdecke die Handschellen in seiner Hand.
Ich sitze am Steuer und starre auf die Straße. Mein Freund liegt zusammengekauert auf dem Rücksitz und schnarcht. Etwas zu laut. Ich rufe den letzten Tag in meine Erinnerung. Es ist nicht kalt im Wagen, aber ich beginne zu zittern. Mein Körper ist in Unruhe. Was ist geschehen? Eine Episode, getrennt von meinem normalen Leben, ein Stück Chaos inmitten meines geordneten Lebens. Ich hatte von diesen Dingen bisher nur am Rande gehört und ihnen nicht viel Beachtung geschenkt. Manchmal mutmaßte ich sogar, dass es so etwas nicht gäbe oder dass man eine Art Krankheit haben müsse, um so etwas zu tun. Ich schüttele den Kopf. Ich sehe ihn vor mir und spüre die Mischung aus Angst und Überlegenheit, die mich befällt. Ich betrete unbekanntes Terrain und kenne die Regeln nicht. Doch bin ich fähig, mich meinen Gefühlen ganz zu überlassen. Das Zimmer erlaubt mir, mein ganzes Leben zu vergessen und eine neue Rolle zu spielen. Das Drehbuch war schon lange geschrieben, das Lied ruhte schon seit Jahren in mir, ungesungen. Nun summe ich es, verpasse hier und da noch einen Ton, fange mich aber schnell, verstehe die Harmonien, variiere die Melodie, senke meinen Körper in den Rhythmus. Ich bestimme. Die Erinnerung daran lässt mich nun ruhig werden und ein warmer Schauer steigt aus meinen Beinen über den Rücken hoch in meinen Nacken. Ich sitze am Steuer und summe mein Lied.
Eine rasselnde Gitarre. Flamencoklänge. Wir berühren uns nicht. Nie. Er brüllt zwar und reißt an den Handschellen, doch das gusseiserne Gitter sitzt bombenfest. Ay, ay, ay! Süßer Schmerz. Que no te mueras sin ir a España! Ich genieße meinen Körper und die sanften Bewegungen. Meine Hände gleiten elegant durch die Luft und finden ihre Bahnen auf meinen Kleidern und dann auf meiner Haut. Ich habe die ganze Zeit der Welt für mich. Ich genieße seine Ungeduld, sein Sehnen, seine Wut. Nach und nach fallen meine Kleider. Manche halte ich ihm mit einem spöttischen Lächeln hin, bevor sie in die Ecke fliegen. Ich zeige mich ihm von allen Seiten und sehe dabei in seine Augen, deren Blicke sich in mir vergraben. Ich komme ganz nah an ihn heran, so, dass mein Geruch ihn umhüllt. Er biegt seinen Körper nach vorne, doch er kann mich nie erreichen. Ich weiche jedem seiner Versuche aus, drehe mich um und wälze mich lustvoll auf dem Boden.
Die Bremse kreischt. Ich schaffe es im letzten Moment, das Steuer herumzureißen. Der Wagen macht eine Vierteldrehung nach links und kommt kurz danach zum Stehen. Mein Freund schaut verstört aus der Wäsche. Ich sage ihm, dass alles in Ordnung sei und bitte ihn, mich am Steuer abzulösen. Er grummelt etwas Unverständliches und steigt aus. Ich klettere nach hinten und versuche, mich in eine gemütliche Position zu bringen. Mein Freund lässt den Motor an und spielt mit dem Gaspedal. Vielleicht etwas zu doll, aber ich nehme es ihm nicht übel, denn bei ihm weiß ich mich in guten Händen. Málaga – Eine Stadt zum Träumen. Lassen Sie sich verzaubern! Wer einmal dort war, kehrt immer wieder zurück.