Lust auf ein Dessert
Es war ein Donnerstag im November und es fielen die ersten Regentropfen seit Wochen. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Schöner wurde der Herbst dadurch nicht. Es war grau, dunkelgrau – doch die Wolken zogen prallgefüllt immer weiter. Ich war gut angetrunken. Damit in guter Gesellschaft. Auf der anderen Straßenseite lachte eine Mädchengruppe schrill, die Jungs, die gerade dem Dönermann „keine Zwiebeln“ nachschrien schauten ihnen hinterher, tuschelten. Erstsemester. Ganz sicher. Ich schlenderte weiter. Tanzen wollte ich heute nicht. Den ganzen Tag habe ich über meiner Masterarbeit gesessen. Nerviger Mist. Die Universität ist einfach nichts für mich. Es kommt nicht darauf an, was man kann, sondern nur darauf, wie weit man mit dem Kopf in den Hintern des jeweiligen Dozenten steht. Wenn man Karriere machen will, ist es sogar noch schlimmer. Dann ist es entscheidend, immer bei dem Vorgesetzten im Darm zu wohnen, der zwei Stufen über einem ist – und bloß nicht dem Institutsdirektor auffallen. Dann bist du bei den älteren Mitarbeitern unten durch. Der Liebling vom Boss, dass sehen karrieregeile Theoretiker nicht gerne. Wissenschaftler sind nicht besser als andere Menschen. Politikwissenschaftler können dazu noch hervorragend Intrigen spinnen. Nein. Arbeit schreiben und raus.
Mein Handy klingelte. Jan rief an. Ich ließ es klingeln. Er wollte sicherlich ins E-Werk. Ich wollte nicht. Ich wollte einen fettigen, wenig sättigenden Burger – und dann noch einen. Ich hatte einen Coupon. Zwei Big Macs für einen. Das würde dann reichen, dachte ich.
Der Nieselregen wurde stärker. Ich zog mir die Kapuze über und ging zu der Filiale am Hugenottenplatz, in der Nähe vom Bahnhof. Das Publikum war das gleiche wie immer um diese Uhrzeit. Laut, dumm, mit tief fränkischem Akzent. Aufgepumpt, leerer Blick, aufgestellter Kragen, immer bereit für die nächste Schlägerei. Ich glaube bis heute nicht, dass das ein rein regionales Problem von Erlangen ist. So ist das in der gesamten Republik. Zumindest meine Stippvisiten in anderen Städten konnten das beweisen. In anderen Städten war es wegen eines niedrigeren Studentenanteils sogar noch schlimmer.
An einigen Tischen saßen aufgebrezelte Mädchen mit viel Glitzer. An anderen Jungs mit Kappen. Als ich in der langen Schlange stand, überlegte ich schon memorymäßig, wer in ein paar Stunden mit wem aus dem Zirkel torkelt und welches arme Mädel von später die Kotze von welchem Milchgesicht aus ihrer Bettwäsche wischen darf.
Die Angestellten hinter dem Tresen rotierten. Versuchten die teilweise unverständlich dahingellallten Bestellungen bestmöglich zu bearbeiten. Die Haare der Mitarbeiter waren schon fettig, die hohe Stirn des einen glänzte schon. Als einziger trug er ein weißes Hemd? War er der Manager. Vielleicht nur Schichtleiter. Er war größer als alle anderen. Seine Handgriffe saßen. Ich wechselte die Schlange, weg von dem dicken Mädchen mit den fettigen Haaren zu ihm. Er war schnell. Vielleicht waren aber auch einfach nur die Kunden angenehmer. An der Kasse von dem Mädchen ging es nicht weiter. Ein Stiernacken in Lederjacke stand vor ihr, laberte sie zu. Seine Jacke war offen. Sicher nicht freiwillig. Seine Wampe hätte sicherlich nur nicht druntergepasst. Er zeigte immer wieder auf seinen Coupon. Der Schichtleiter machte weiter seine Arbeit. Ich rutschte immer weiter nach vorne. Die Basecap-Jungs schauten zum Tisch mit den Glitzer-Mädchen. Sie redeten, machten sich Hoffnungen. Wohl nicht umsonst, dachte ich. Nur noch zwei einzelne Leute standen vor mir. Auch einsame Hungrige. Das gefiel mir. Der Stiernacken diskutierte weiter. Er hatte Aufnäher auf seiner Jacke. Rechtes Spektrum. Er kam wohl vom Dorf. Bestimmt musste er auf seinen Anschlusszug warten. Nachts konnte das eine lange Prozedur werden. Jetzt wollte er sich wohl mit etwas Gesundem stärken. TS oder so.
Der Mann vor mir in der Schlange bestellte gerade. Zwei Bigmac zum Preis von einem, mit Coupon. Er wollte wohl auch nur mit lauwarmen Burgern im Bett fernsehen. Vernünftig. Schnell bekam er, was er wollte. Die Leute in der Küche waren auch schnell. Auf der anderen Seite ging es noch immer nicht weiter. „Bist du nur bescheuert“, schrie der Stiernacken das Mädchen mit den fettigen Haaren jetzt an. Er kam doch nicht von irgendeinem Dorf. Klang nach Osten. Klischee erfüllt. Sie stammelte etwas, er brüllte wieder – und kam sich dabei nicht mal albern vor. Er hätte das rundliche, kleine Mädchen in einem Biss verspeisen können. Er selbst war locker zwei Meter groß, sein Kreuz nicht viel weniger breit. Auf dem harten, wulstigen Nacken, der bereits irgendwo an seinem schlecht rasierten Hinterkopf begann, prangte „Durch den Tod“. Ich wusste gar nicht, dass es im Jahr 2016 noch solche Nazis gibt. Es gab sie offenbar.
Der Schichtleiter kam dem Mädchen zur Hilfe. Meine Bestellung musste warten.
„Kann ich helfen“, fragte er arschkriecherisch.
„Ich will meinen Schokoshake“, brüllte der Stiernacken. Lauschen war bei der Lautstärke nicht nötig. Die anderen Gäste teilten sich derweil in drei Lager. Die, die wie ich interessiert zuhörten, die die beschämt wegguckten und die, die Gefahr witterten und plötzlich den Laden verließen. Die Glitzermädchen waren dabei. Dadurch gab es sogar eine vierte Gruppe: Die Basecap-Jungs, die erst interessiert lauschten, einer krämpelte sich sogar die Ärmel hoch und zeigte seine blassen Unterarme, und dann schnell den Mädchen hinterherliefen. Sie wollten schließlich noch bumsen.
„Wo ist denn das Problem Marie“, fuhr der Schichtleiter das Mädchen an.
„Er will es mit Coupon.“ Ihr kamen die Tränen. „Da gibt es nur ein Kaltgetränk.“
„Und ein Milchshake ist nicht kalt?“, polterte der Glatzkopf.
„Entschuldigen Sie“, sagte der Schichtleiter. „Ein Milchshake ist bei uns ein Dessert. Sie können eine Cola, eine Fanta, eine…“
„Hat mir die Fotze schon gesagt. Das ist Bödsinn.“ Das „Ö“ in Blödsinn versah er ganz nach sächsischer Manier noch mit einem „I“, sodass sich der Unfug, den er von sich gab, irgendwie lustig anhörte.
Der Mitarbeiter versuchte noch einmal sein Glück: „Mit Kaltgetränk sind leider keine Shakes gemeint.“
Das Tablett, auf dem Schon ein Bigmac und eine Portion Pommes lag flog in Richtung der Ablage, auf dem die Burger lauwarm gehalten wurden.
„Ich will meinen Schokoshake!“
Das Mädchen mit den fettigen Haaren zog sich immer weiter zurück, weinte. Dafür kam ein dicker mit Fettflecken auf dem braunen Hemd nach vorne. Der Gastraum war inzwischen viel leerer. Der Hunger war den Leuten wohl vergangen, die Sensationsgeilheit auch. Mein Hunger war geblieben und wurde größer. Ich wollte die Situation beenden.
„Ich glaube, ich rufe mal die Polizei, vielleicht haben die ja einen Schokoshake für dich“, sagte ich und versuchte, nachzumachen, wie er selbst seine Bestellung immer wieder durch den Laden brüllte. Schoggoscheeg.
„Halt dich da raus, du Waldschrat“, schrie er. Er schrie schon lange und wurde nicht rot. Er war wohl geübt. Immerhin hatte ich den Schichtleiter auf eine Idee gebracht: „Ich gebe Ihnen jetzt Ihr Geld wieder und dann verlassen Sie den Laden, sonst rufe ich die Polizei.“ Endlich wurde er strenger. Der dicke Nazi wurde aber immer böser.
„Alter, ehe du die Bullen gerufen hast, liegst du schon blutend in der Ecke.“
Ich wurde ungeduldig. „Und wie bekommst du dann deinen Milchshake?“
Er stürmte auf mich zu, drückte mir eine rein. Voll auf den Kiefer. Es war das erste Mal, dass ich geschlagen wurde. Es schmerzte. Ich taumelte zurück setzte mich hin. Von da unten sah der Kerl noch größer aus. Ich versuchte den Kiefer zu bewegen. Es funktionierte. Das war gut. Er schaute mich an. Ich hob die Hände über meinen Kopf und hielt meine viel zu große Klappe. Er riss seine aber auf.
„Halt endlich die Fresse“, schrie er und wandte sich glücklicherweise wieder dem Schichtleiter zu. „Ich bin hier Kunde und werde behandelt wie Scheiße. Der Kunde ist König“, brüllte er. Mir gingen viele Dinge durch den Kopf. „Führer“, murmelte ich. Er hatte es nicht gehört. Zu sehr fixierte er den Schichtleiter. Der Laden war inzwischen leer. Ich saß auf dem Boden, das Mädchen mit den fettigen Haaren war in den Küchenbereich geflohen, der Mann mit den Fettflecken und der Schichtleiter standen dem Stiernacken gegenüber.
„Ich spring gleich hier rüber“, drohte er wieder. Inzwischen war ich mir sicher, für einen Schokoshake würde er alles machen. Das sah der Schichtleiter auch so. Widerwillig befüllte er einen Becher mit dem braunen Gold.
„Hier und jetzt hauen Sie ab“, grummelte er.
„Jetzt willst du Penner mir auch noch meinen Burger unterschlagen. Ich hab‘ bezahlt. Nur beschissen wird man als Deutscher.“
Hoffentlich geht das nicht schon wieder los, dachte ich. Es ging nicht wieder los. Es gab den Burger, es gab die Pommes. Der Stiernacken brüllte noch „Geht doch“, trat dann die Tür auf. Alles blieb heil.
Ich stand auf, wie zuvor war ich der erste in der Schlange. Mit meinem Coupon holte ich mir zwei Big Macs und einen Schokoshake zum Kühlen meines Kiefers. Er war tatsächlich kalt.