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Luka

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02.04.2002
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Luka

Mit ausgestreckten Armen versucht sie ihm entgegen zu rennen. Spürt Gefahr. Weiß, dass sie bei ihm sein muss. Ihn beschützen. Aber es ist wie in einem Traum, ihre Füße im Nebel gefangen, eine dichte Wand aus, ja was ist es? Aus Watte? Sieht keine Wand, aber kann ihre Füße nicht bewegen. Läuft gegen diesen Widerstand an, ruft ihn, damit er sie sieht, zu ihr kommt. Muss bei ihm sein. Das ist alles was sie weiß. Sie muss jetzt bei ihm sein. Weil es sonst zu spät sein wird. Aber es ist wie im Traum. Ihr Hals brennt, ihr Rufen verhallt ungehört. Scheint nur in ihrem Kopf zu existieren. Mit aller Kraft versucht sie ihre Arme noch weiter nach vorne zu strecken, ihn zu berühren. Aber er sieht sie nicht. Hört sie nicht. Wie in Zeitlupe kommt das Auto auf ihn zu, erfasst seinen kleinen Körper, schleudert ihn durch die Luft. Und sieht wie sein Kopf – oh Gott nein, nein! Nicht! Kurz vor dem Aufprall dreht er ihr den Kopf zu, blickt ihr ein letztes mal in die Augen. Sie sieht die Anklage darin. Die Frage – warum bist Du nicht bei mir?

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Das Wochenende war vorbei, ihr Körper wollte es noch nicht wahrhaben. Sie fühlte sich wie gerädert, hatte das Gefühl, als hätte sie keine Minute geschlafen. Wie so oft war sie mitten in der Nacht aufgewacht. Tränenüberströmt, mit schmerzendem Hals. Sie hatte dem Bedürfnis, sofort in Lukas Zimmer zu laufen, widerstanden, sich lediglich ein Glas Wasser geholt und den Rest der Nacht versucht wieder einzuschlafen. Gegen Morgen war ihr das wohl auch gelungen, zumindest hatte der Wecker sie um halb sieben geweckt. Verschlafen streckte sie ihre schmerzenden Glieder. Sie wollte gerade aufstehen um Luka zu wecken, als ihr Blick auf den Stuhl neben ihrem Bett fiel. Dort lagen die Hose und der Pullover von gestern. Nein. Nein! Sie musste nur aufstehen und Luka wecken. Alles war in Ordnung. Sie versuchte die Panik zu unterdrücken. Nein! Alles um sie herum verschwamm, sie spürte wie sich tief in ihr ein Aufschrei seinen Platz suchte, ihr Körper versuchte sich gegen den Schmerz zu wehren.

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Ein wunderschöner Sommertag. Früh waren sie aufgestanden, hatten ihre Sachen gepackt und waren zum Baggersee gefahren, um diesen Urlaubstag zu genießen. Luka juchzte laut, als Jochen ihn immer wieder ins Wasser warf und sie saß am Rand des Sees und spürte das unfassbare Glück, das sie bei dem Anblick der beiden erfasste. Als sie sich später abgetrocknet hatten, war Luka zwischen ihnen eingeschlafen und sie hatten sich über seinen Rücken hinweg an den Händen gefasst. Sie wusste, dass dies nur ein Traum sein konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen, als Jochen ihre Hand ganz fest drückte. Er wusste es. Er wusste, wie sehr es schmerzte. Nach einer Weile stand sie auf, packte ihre Sachen und fuhr wieder nach Hause, weil sie die Einsamkeit nicht ertrug. Es war ein wunderschöner Sommertag.

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Sie konnte nicht glauben, was der Arzt ihr da sagte. Niemals würde sie ein Kind bekommen können. Nein. Das konnte nicht sein. So sehr wünschten sie und Jochen sich eine Familie. Da waren sie sich von Anfang an einig gewesen. Sie wollten eine Familie, Kinder. Und jetzt sagte dieser Arzt, sie würde keine Kinder bekommen. Wie sollte sie das Jochen sagen? Was würde aus ihnen werden? Was sollte aus ihr werden? Sie hat sich immer als Mutter gesehen. Immer schon gewusst, wie es sein wird Mutter zu sein. Leben in sich heranwachsen zu spüren. Der Arzt musste sich irren. Er konnte sich nur irren, sie wusste es besser. Sie würde Mutter sein. Sie war schon immer Mutter gewesen.

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Das Telefon klingelt, sie will den Hörer abnehmen, ihre Hand gehorcht ihr nicht. Das Klingeln wird lauter, fordernder, bösartiger. Sie weiß es. Es wird kommen. Sie hat es immer gewusst. Als sie Luka heute morgen im Kindergarten absetzte hat sie ihn lange im Arm gehalten, konnte ihn nicht gehen lassen. „Mami, ich muss jetzt gehen!“ Mit seinen ernsten, erwachsenen Augen hat er sie angesehen. Sie wollte nicht loslassen. Sie wusste es. Sie würde ihn nie wieder sehen. Sie hat es geträumt. Immer wieder. Und jetzt war es soweit. Sie wusste, warum das Telefon klingelte. Jochen und Luka hätten längst hier sein müssen. Seit Stunden wartete sie. Das Telefon klingelte noch immer. Warum war sie nicht bei ihm geblieben?

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Schreiend wacht sie auf, Schweiß und Tränen laufen ihr über das Gesicht. Glaubt zu hören, wie sich Jochen verschlafen zu ihr dreht, ihre Hand sucht und leise murmelt „Kleines, es ist alles gut. Es war nur ein böser Traum.“ Ja, ein böser Traum. Das Telefon hatte nicht wirklich geklingelt. Das war gestern. Luka und Jochen waren nach Hause gekommen. Sie hatten sich verspätet, vergessen sie anzurufen. Wieder unnötig Sorgen gemacht. Es war nur ein böser Traum. Das Telefon hatte nicht wirklich geklingelt. Langsam beruhigt sich ihr Atem. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Als sie sich zu Jochen drehen will, starrt sie auf seine leere Betthälfte. Die Kälte erfasst zuerst ihre Finger, breitet sich aus, lässt ihr Blut gefrieren.

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Als sie die ersten Wehen gespürt hatte, dachte sie ihr Herz solle stehen bleiben. So also war es. Sie dachte an die Worte des Arztes, musste lächeln bei dem Gedanken, wie sie sich aller wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit widersetzt hatte. Die Schmerzen in ihrem Unterleib, der lebende Beweis, für das was sie schon immer wusste. Sie war Mutter. Und sie würde immer Mutter sein. Die Tasche für das Krankenhaus gepackt. Das Kinderzimmer fertig wartend auf seinen kleinen Bewohner. Die Wiege liebevoll zurechtgemacht. Als sie Jochens Nummer wählte wusste sie, alles würde gut werden. Gemeinsam würden sie ihren Sohn zur Welt bringen. Sie würden ihn Luka nennen. Niemand würde je wieder sagen können, sie wäre keine Mutter. Als Jochen ans Telefon kam, hörte sie seine besorgte Stimme. „Liebes, bitte beruhig Dich. Ich bin gleich bei Dir. Du weißt was der Arzt gesagt hat. Du kannst keine Kinder bekommen.“

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Gestern Abend war sie zum erstenmal wieder aus gewesen. Es war ein Fehler gewesen. Sie hatte sich mit einer jungen Frau an der Bar unterhalten. Ganz harmlos hatte es begonnen, sie hatten über die Musik gelacht, wilde Musik aus den 70ern, eine Zeit aus der sie beide längst herausgewachsen waren. Die junge Frau wirkte ausgelassen. Sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, wirkte müde, aber fröhlich. „Ach wissen Sie. Das ist das erste Mal heute, dass ich wieder alleine weggehe. Mein kleiner Junge ist jetzt sieben Monate. Ich habe gerade abgestillt und genieße es jetzt mal wieder was für mich zu tun. Haben sie auch Kinder?“ Nur mühsam hatte sie es geschafft sich auf den Barhocker zu setzen, bevor sie zusammenbrach. Sie hatte nicht mehr mitbekommen, dass der Barmann, einen Notarzt rief. Auch nicht, dass sie eine Spritze bekam und im Krankenwagen durch die Stadt fuhr. Sie lag jetzt hier in diesem weißen Zimmer, starrte an die Decke, versuchte den Schmerz in ihrem Körper zu ignorieren. Der Spiegel. Immer wieder sah sie seine Augen vor sich. Augen, die fragten, „Warum bist Du nicht bei mir?“

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Schläfrig öffnet sie die Augen, sieht Luka vor ihrem Bett stehen. Muss gar nicht auf die Uhr schauen, weiß auch so, dass es sechs Uhr sein muss. Luka, ihr kleiner, wandelnder Wecker. Wie selbstverständlich kriecht er zu ihr ins Bett. Beide Arme schlingt er um ihren Hals. „Mama, Haare haben“. Und schon hat er eine Hand in ihren Haaren vergraben, verknotet sie, so dass sie wieder Stunden brauchen wird, sie auszukämmen. Mit seinem ganzen Körper kuschelt er sich nah an sie. „Mama, ich hab Dich lieb“, murmelt er und schläft wieder ein. Sie genießt diese halbe Stunde, bevor sie selber aufstehen muss, damit sie es rechtzeitig zum Kindergarten und zur Arbeit schaffen. Jochen ist längst aufgestanden. Diese halbe Stunde gehört nur ihnen beiden. Sie sieht ihn an. Streicht ihm sanft über die blonden Haare, küsst seine kleinen Finger. Und weiß, dass sie niemals loslassen wird. Niemals wird sie ihn loslassen.

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Als sie an diesem Morgen wach wurde, fühlte sie sich zum erstenmal seit langem wieder wirklich ausgeruht. Sie wollte gerade aufstehen um Luka zu wecken, als ihr Blick auf den Stuhl neben ihrem Bett fiel. Dort lagen die Hose und der Pullover von gestern. Nein. Nein! Sie musste nur aufstehen und Luka wecken. Alles war in Ordnung.

 
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Hallo Kristin, hallo Schlachpaulchen,

danke für Eure Kritiken! Es freut mich sehr, dass Euch die Geschichte gefällt und berührt - und Kristin hat genau auf den Punkt gebracht, was ich erreichen wollte. Es sollte drei Möglichkeiten geben, die Geschichte zu lesen oder zu verstehen - und es macht glaube ich auch keinen Unterschied, welche der drei Möglichkeiten die "richtige" ist. Freut mich echt, dass das genau so angekommen ist.

Aber eine Frage hätte ich da noch: Ist das irgendwie surreal?? Tue mich trotz Beisieltexten etc. schwer mit diesem Challenge-Thema ... :)

Lieben Gruß
Kay

 

Tach Kay ! Die Geschichte gefällt mir gut. Ich hab dabei aber ehr an eine Mischung aus "und täglich grüßt das Murmeltier" und "beatyful mind" denken. Also nicht nur ein Traum, sondern schizophrene Warnvorstellungen. Vielleicht hat die Frau deshalb wirklich ein Kinderzimmer eingerichtet. Denn sie spricht ja auch im wachen Zustand vom Kindergarten, Kinderzimmer ect. Die Nachricht, dass sie keine Kinder bekommen kann, löst das ganze aus. Es ist halt der Tod des Wunschkindes. Zum Thema surrealistisch oder nicht:

http://www.phil.uni-mannheim.de/R1/Avantgarden/Surrealismus.htm

Bedeutung des Traums:
Traum als Katalysator zur Vereinigung zweier Welten, einer inneren und einer äußeren. Auch die Romantiker hatten den Traum schon zu ihrem Thema gemacht, jedoch unter anderen Vorzeichen. Der Surrealismus sieht den Traum mit dem Lustprinzip verbunden als Möglichkeit zur Wunscherfüllung. Im Unterschied zur wissenschaftlichen Anwendung richten die Surrealisten ihr Traumprogramm auf ein poetisches Ziel: dabei geht es nicht um die Erhellung des Bewußten durch das Unbewußte, sondern um den ausdrücklichen Vorrang des Unbewußten.

Vorrang des Unbewussten... also daher schon ;) Aber ich kenn mich da eigentlich nicht aus...

 
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Hallo Kay!

Eine Super-Geschichte!
Ich möchte sie einfach nur so verstehen, daß die Frau erst als unfruchtbar galt, dann doch schwanger wurde und jetzt unbewußte Ängste um ihr Kind hat. - Diese Ängste hast Du für mich so realitätsnah geschrieben, als wärst Du selbst die Mutter (aber das geht ja wohl kaum... ;)). Ich kenne sie in ähnlicher Form, wie sie hier stehen.

Ob surreal oder nicht: Ich meine doch, ja. Jedenfalls die dargestellten Ängste.


Ein paar (wenige) Beistrichfehler sind in Deiner Geschichte, die herauszuklauben ich aber jetzt angesichts der Uhrzeit zu faul bin. Einen das-Fehler unterschlage ich Dir aber nicht:

"das unfassbare Glück, dass sie bei dem Anblick der beiden erfasste." - ...Glück, das sie...

Alles liebe
Susi

 
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Hallo Häferl, hallo hastdunmotto,

danke für das Lob und die Kritik!!

@ Häferl So wie Du sie verstehen willst - das ist bestimmt eine Möglichkeit die Geschichte zu verstehen - und wie ich schon weiter oben geschrieben habe, denke ich auch nicht, dass es so sein soll, dass ich vorgeben, wie die Geschichtee zu verstehn ist. Allerdings vernachlässigt diese Art die Geschichte zu lesen natürlich ein paar Absätze - denn wie würdest Du bei dieser Art die Geschichte zu verstehen z.B. die Szene am See oder in der Bar einordnen? Ich würde das ganze daher auch eher in die Richtung einordnen wie hastdunmotto - aber das sind ja wie gesagt alles nur "Möglichkeiten" ohne richtig und falsch.

Was die Realitätsnähe angeht - gerade hier hatte ich eben Bedenken, dass das dem Surralismus widerspricht...
Danke hastdunmotto für das Zitat - aber ich war und bin mir einfach nicht sicher, ob eine surreale Geschichte eben nicht auch sprachlich "abgedrehter" sein sollte, weniger realitätsnah und mit viel mehr "plastischen" Bildern arbeiten sollte/müßte.

Danke auch für die Fehlersuche - ich korrigiere das sofort. Und was meine Zeichensetzung angeht, muss ich leider gestehen, dass ich hier eine echte Niete bin.

Lieben Gruß

Kay

PS @ Häferl: Kay steht für K. (englisch gelesen) und ist die Abkürzung für Katja - was dann auch ein Mutterdasein zuläßt und evtl. etwas die Realitätsnähe erklärt ... :)

 

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