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Luk und das Wasser

Beitritt
15.08.2002
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Luk und das Wasser

Luk hatte an diesem Nachmittag nicht mit den anderen Kieselklimpern, 8-Finger-Tasten oder eins der anderen "Schwarzen Spiele" gespielt, mit denen man sich die schwarze Zeit vertrieb, sondern hatte in der Werkstatt eins der großen Granitmesser mit Kobaltpulver geschliffen. Wie an den meisten Nachmittagen hatte er seine Lider geschlossen gehalten, sich seiner unterbewussten Sorge um seine Augen gebeugt. Wenn er allein war malte er sich oft vorgestellte Bilder auf die Schwärze seines Sichtfeldes, um sich selbst zu unterhalten. Meist, um den Werken eine Dynamik zu geben, stark Einsturz gefährdet erscheinende Haufen aus aufeinander gestapelten Felsblöcken aber auch irreale Phantasieformen und -gestalten. Auch die meisten anderen hatten Methoden, sich das Warten auf's Licht zu verkürzen: Tara z.B. verließ oft das Dorf und sang ins Dunkel, und Solem dichtete in Gedanken Balladen, die dann immer eine willkommene Abwechslung für alle waren.
Luk blies den Kobaltstaub sehr sacht von der Klinge, überprüfte mit behutsamen Fingerspitzen ihre glatte Granitschneide und beschied sich selbst, seine Arbeit getan zu haben. Er stand auf, bückte sich auf dem Weg zur Tür unter dem großen Quarzpulversieb hindurch, von dem er wusste, dass es dort hing, und lief draußen, den glatt geschliffenen Kalksteinplatten folgend, die seine nackten Fußsohlen erfühlen konnten, zum Fuß des Silikonpulvergebirges am Rand des Dorfes. Er machte an der richtigen Stelle einen großen Schritt über den Granitblock, der mitten auf dem Weg aus dem Boden ragte und über den er als Kind in der schwarzen Zeit so oft gestolpert war. Bei dem unangenehmen Hindernis handelte er sich um den obersten Teil eines riesigen, unterirdischen Granitfelsens, weswegen Versuche, ihn auszugraben, gescheitert waren. Da es nichts Härteres als Granit gab, hätte man ihn höchstens mit Kobaltpulver abschleifen können. Eine Mühe, die sich niemals jemand gemacht hatte. Der Granitblock wurde statt dessen wie so vieles in dieser Welt als unabänderbar akzeptiert.
Luk befreite sich mit dem reinen Silikonpulver vom Kobaltstaub, der überall an ihm haftete und öffnete im Aufstehen von einem Gefühl der Erleichterung geleitet, das ihn erfüllte, nun da er sich wieder sauber fühlte, seine Augen. Er tat es, ohne zu erwarten, dass sich dadurch etwas ändere, doch genau das geschah. Mehrmals öffnete und schloss er sie, doch die Erscheinung blieb. Es gab Licht. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen konnten ihm zwar weder verraten, was er sah, noch wie weit es entfernt war, nur dass er sah, doch Luk wusste sehr genau, worum es sich handelte. Schon morgen würde das Dorf wieder von jener zwielichten Helligkeit und dem beschwörenden Summen erfüllt sein, das die Glühwürmchen mit sich brachten, die hier über'm Pulverberg die Zeit zwischen den Wanderungen verbrachten. Und mit ihnen und ihrem Licht würden die Erwachsenen wiederkommen, erschöpft von der langen schlaflosen Zeit der Rückwegs vom Salzsee und dem anstrengenden Ziehen der Karren, auf denen sie 231 Blöcke frisches Toku mitbringen würden - genau so viel Nahrung wie das Dorf in einem Zyklus benötigte.
Er lief mit der frohen Botschaft so schnell es ihm die Finsternis gestattete zu den übrigen Alten und Kindern, die die schwere Wanderung zu den Gewächsen nicht durchhalten könnten, zurück ins Dorf und löste aus, was diese Nachricht in jedem Zykluss auslöste: Alle gingen an den Rand des Dorfes und blickten in die Richtung, in die die Glühwürmchen mit ihrem Licht vor langer Zeit verschwunden waren, und wollten sehen. Es ging nicht darum, etwas oder jemanden zu sehen. Sehen des Sehens wegen.
Der nächste Abend wurde wegen der Kombination aus Wiedersehensfreude, frischem Toku und dem Licht der Abertausend Glühwürmchen zum schönsten Ereignis des Zyklusses. Es war immer so gewesen und würde immer so sein, die Frage nach dem Warum, dem Woher, dem Sinn dieser Welt war in sich schon sinnlos, weil eine Antwort weit außerhalb des Radius' menschlicher Vorstellungskraft lag, und wurde deshalb so gut wie nie gestellt.
Für Luk war es der letzte Zykluss gewesen, in dem er zu jung für die Wanderung war, der letzte in dem er zu schwach war, dem Licht der Glühwürmchen zu den Gewächsen auf dem Salzsee zu folgen, von denen er schon so viel gehört hatte, der letzte in dem sein Verstand für die lange Zeit der Wanderung ohne seine Augen zu Recht kommen musste.
Die folgende Zeit bis zu seiner ersten Wanderung verbrachte Luk mit den anderen Jugendlichen seiner Altersklasse, die auch schon lange nicht mehr zur Schule mussten. In dieser Welt gab es nicht viel zu lernen, sie war einfach und statisch: Da waren die Glühwürmchen, die von hier am Silikonpulvergebirge die kleinen Silikonpartikel zu den Gewächsen auf dem Salzsee brachten und so den Menschen, die auch dorthin mussten, den Weg leuchteten. Dann die Gewächse, von denen es noch 231 gab. Sie bestanden aus einem durchsichtigen, etwa 2 Meter breiten und hohen Zylinder, der mit einer zähflüssigen, klaren Flüssigkeit gefüllt war, durch die sehr langsam Sauerstoffbläschen aufstiegen, die sich die Gewächse von einem riesigen Lager an flüssigem Sauerstoff mit ihren Wurzeln aus unvorstellbarer Tiefe holten. Jeweils fünf Säulen aus durchsichtigem, steifen Gel standen in einem Kreis um die Gewächse, und die Aufgabe der Menschen, wenn sie den Salzsee erreichten, war es, die Metallkugel, die unten aus jeder der Gelsäulen ausgetreten war, wieder oben drauf zu legen. Die Kugeln sanken dann während eines Zyklusses langsam durch das Gel, bis sie unten wieder herausgedrückt wurden. Sie stießen sich alle gegenseitig ab jedoch unterschiedlich stark bis auf jeweils zwei, die zueinander neutral erschienen. Es war auf Grund dieser komplizierten Interaktion unmöglich, Kugeln zu vertauschen, da sich sonst alle Kugeln gegenseitig von den Säulen stoßen würden. In der richtigen Kombination auf die Säulen gelegt, standen alle fünf Kugeln miteinander im Gleichgewicht, verhielten sich zueinander absolut neutral und erzeugten in dem großen Zylinder der Gewächses ein Kraftfeld. Wenn die Glühwürmchen die Gewächse erreichten, plazierten sie das Silikon, das sie hierher transportiert hatten auf die Oberfläche der großen Zylinder und fraßen dabei die Essenz, die sich dort während ihrer Abwesenheit gebildet hatte. Die Gewächse bezahlten das fliegende Heer ihrer Arbeiter prompt und fair.
Die Silikonpartikel verteilten sich gleichmäßig in der zähen Flüssigkeit und wurden auf Höhe der Metallkugeln zu einem bläulichen Leuchten angeregt, unter dem das begehrte Toku entstand, das am Ende des Zyklusses als Block unter aus dem Gewächs fiel. Die einzige Aufgabe des Dorfes war es, dafür zu sorgen, dass es genug Erwachsene gab, um die Metallkugeln auf die Säulen zu heben und das Toku mit ins Dorf zu bringen.
Vor langer Zeit hatte einmal Überfluss an Nahrung geherrscht und man hatte aus Faulheit die Kugeln einiger Gewächse liegen lassen, was das Ende deren Lebens und später den Hungertod vieler Dorfbewohner zur Folge hatte. Seitdem war die Bevölkerungszahl auf etwa 860 beschränkt.
Wie gewöhnlich kam der Tag der Abschieds plötzlich, wenn auch nicht unerwartet. Die Wolke der Glühwürmchen begann, sich in Richtung Salzsee auszustrecken, und die Helligkeit wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Die 16 Karren standen am Dorfausgang bereit, man verabschiedete sich und machte sich auf den Weg. Alles lief in gewohnter Routine ab, nur Luks Aufregung schien seine Brust sprengen zu wollen. Nun sollte er zum ersten Mal das Dorf verlassen. Bisher waren seine Expeditionen um das Dorf herum immer vom Schein der Glühwürmchen beschränkt worden, weil es sehr gefährlich war, sich zu weit von ihrem Licht zu entfernen. Die Finsternis hatte in der Vergangenheit schon mehrere Bewohner für immer verschluckt.
Luk wurde von Tempo und Ernst der Wanderung überrascht. Die zeitlose Leichtigkeit, mit der er sein Leben bislang gelebt hatte, wurde nun von Selbstüberwindung und Druck ersetzt, denn ein Zurückbleiben hinter den Glühwürmchen würde das Ende der gesamten Bevölkerung aber auch allen Lebens dieser Welt bedeuten. Die frische Konversation auf dem ersten Abschnitt vorbei an markanten, schwarzen Granitfelsen wurde nach der ersten schlaflosen Nacht vom Knirschen der roten Wüstensands des zweiten Abschnittes und dem Keuchen der ungeschickt nach festem Tritt Suchenden ersetzt. Sie liefen in den Spuren all ihrer Vorfahren, denn in ihrer windlosen Welt stand es allein in der Macht der Lebewesen, Dinge zu verändern und zu bewegen. Die Räder der Karren, die sie im Wechsel jeweils zu viert zogen, hatten sie mit speziell für diesen Zweck hergestellten Matten aus Menschenhaar verbreitert, um zu verhindern, dass sie im Sand einsanken.
Zwei durchwanderte Nächte später verliefen sich die letzten Wüstenausläufer an einem flach abschüssigen Hang schließlich, markierten so die Grenze der Wüste mit dem Salzsee, und gaben den Blick frei auf dessen scheinbar endlose, weiße Fläche, die alles ausfüllet, was vom Schein des Glühwürmchenheeres sichtbar gemacht wurde. Nur weit links schien sich, vom gelben Licht gerade noch beleuchtet, ein Felsmassiv aus dem Weiß zu erheben.
Im Näherkommen konnte Luk die weit verstreuten Gewächse ausmachen. Die meisten hatten ihren Tokublock bereits ausgestoßen, andere befanden sich kurz davor im Endstadium und erstrahlten noch in einem blauen Leuchten von einer Reinheit, die weit über Luks Vorstellungsvermögen hinaus ging. Die restlichen waren tot.
Die erschöpften Wanderer errichteten sich ein kleines Lager am Rand des Salzsees, während die ersten der Glühwürmchen bereits aus ihrer normalen Flughöhe herunterkamen und im Tausch gegen ihre Siliziumkörner ihren Hunger an der hellgrünen Essenz an der Oberfläche der Zylinder stillten. Das Summen wurde lauter, das Licht greller als je zuvor in Luks Leben, doch der völlig Entkräftete bemerkte diese Veränderung auf Grund der Müdigkeit, die schnell die Oberhand über sein Bewusstsein gewann, nur interesselos.
Nach dem erholsamsten Schlaf, den er je geschlafen hatte, begann er mit den anderen, die Metallkugeln auf die Gelsäulen zu heben und die Tokublöcke auf die Karren zu laden. Es faszinierte ihn, die Gewächse mit seinen Fingern zu berühren, ihre flexible, elastische Oberfläche zu ertasten, die sich so sehr von der der Steine seiner Welt unterschied. Zum ersten Mal konnte er die Glühwürmchen aus der Nähe betrachten und stellte fest, dass ihr Glimmen erlosch, während sie die Essenz aufnahmen.
Wie gewöhnlich war die Arbeit der Menschen einige Tage abgeschlossen, bevor sich alle Würmchen ihrer Last entledigen konnten und statt einfach nur da zu sitzen und zu warten, brach Luk eines Morgens zu jenem Felsmassiv auf, das kaum wahrnehmbar in schwer abschätzbarer Entfernung auf seine Existenz aufmerksam machte. Als er am späten Nachmittag dort ankam und aus mittlerer Höhe auf das friedlich-kooperative Zusammentreffen der drei Lebensarten dieser Welt zurückblickte, ruhte er eine Weile aus und musste daran denken, was wohl sein würde, wenn das ganze Silikopulver beim Dorf aufgebraucht sein würde. Wer würde sich an all dies noch erinnern, wenn die Finsternis alle Spuren von Leben ausgelöscht hatte? Da wurde er auf ein großes Loch im Fels aufmerksam und erkannte im Näherkommen, dass es sich um einen Gang ins Innere des Massivs zu handeln schien. Luk hatte nie zuvor eine Höhle gesehen und tastete sich langsam vorwärts. Tiefer und tiefer ging der Dunkelheiterfahrene weiter, achtete stets darauf, dass sich die Höhle nicht gabelte, um sich auf dem Rückweg nicht im Felsen zu verlieren. Nach etwa einer Stunde gelangte er in eine größere Halle, wie ihm das Echo seiner Stimme verriet, von der aus es nicht weiter zu gehen schien. Luk tastete sich vorsichtig an der Wand entlang, hoffte, doch einen weiterführenden Gang zu finden, da berührten die Finger seiner linken Hand eine erschreckend unbekannte Substanz, die an ihnen kleben zu bleiben schien und seine Hand zurückzucken ließ.
Kälte von solch durchdringender Art hatte er bislang nicht gespürt, doch war es kein Schmerz, der ihn erschreckte. Es war der menschliche Instinkt, der ihm äußerste Vorsicht gebot. Und sein Instinkt war es auch, der ihn dazu veranlasste, die Substanz an der Wand noch einmal zu berühren. Dieses Mal empand er die kühle Empfindung bereits als angenehm und sein unruhig pochendes Herz beruhigte sich langsam. Er war hier auf etwas Angenehmes, Besonderes gestoßen, fragte sich, welche Farbe die Substanz wohl haben mochte und auch sein Geruchsinn konnte ihm nicht weiterhelfen. Außer einer belebenden Frische nahm er nichts wahr.
Die Substanz ließ sich zwar ähnlich wie Pulver auf seinen Händen verteilen, doch blieb sie kleben und Luk begann sich Sorgen zu machen, wie er sich wieder von ihr befreien konnte. Doch trieb ihn die Neugier zur Unvorsicht und er entdeckte, dass die Substanz aus der Wand kam, die auffallend gleichmäßig horizontal und vertikal gefurcht war - es schien sich um Mauerwerk zu handeln - und sich dann daran hinabbewegte, so wie sie seinen Arm hinunterkroch, wenn er seine Hand hob. Unten angekommen verschwand sie und Luk fand heraus, dass sie auch von seinen Händen nach einiger Zeit verschwand, sich einfach mehr und mehr in Luft aufzulösen schien, eine Feststellung, die ihm höchst unheimlich war.
Die erregenden Eindrücke fesselten Luk etwa zwei Tage in der dunklen Höhle und er begann, sich zu überlegen, was passieren könnte, wenn er versuchte, die Furchen zwischen den Steinen der Wand auszukratzen, um mehr von der Substanz durch die Wand hindurchströmen zu lassen. Als er einen Stein der Mauer gelockert hatte und ihn ein wenig bewegte, wurde dieser ganz heraus gedrückt und der Wasser schoss ihm in einem dicken Strahl auf die Brust, was ihn veranlasste, panikartig zu versuchen, seine Tat rückgängig zu machen. Nachdem er den Ausgangszustand der Wand endlich wieder hergestellt hatte, entdeckte er eine Pfütze in der Höhlenhalle, die auch nicht verschwand, sich nicht in Luft auflöste, so wie er es erwartet hatte.
Er rieb sich die Stelle auf der Brust, die der Strahl getroffen hatte und begann, zu realisieren, dass die Kraft der Substanz die Mauer auch eindrücken und die Höhle füllen könnte.
Was, wenn sie ihn wie ein Felsen am Boden zerdrückte?
Was, wenn sie höher stiege als er groß war? Wie sollte er weiteratmen können? Luk sah ein, dass die Mauer ein Garant für ein friedliches Zusammenleben zwischen ihm und der Substanz war, doch war sie gleichzeitig ein Hindernis, das ihn davon abhielt, die Frische nicht nur auf den Händen sondern am ganzen Körper zu spüren, in die Substanz einzutauchen.
Luk verließ die Höhle unbefriedigt, erregt, hatte den kleinen Finger und wollte die ganze Hand. Gerade noch rechtzeitig erreichte er die anderen, um sich mit ihnen auf den erschöpfenden Heimweg zu machen, dessen Anstrengungen er kaum realisierte, da ihm seine Entdeckung, die er für sich behielt, ständig durch den Kopf ging. Obwohl er um die Gefahr wusste, stand für ihn schon jetzt fest, dass er die Mauer eines Tages einreißen musste. Er könnte sein Leben nicht gelebt und diese Chance verstreichen lassen haben.
Luk dachte während dieses Zyklusses viel über die Substanz und ihre erfrischende, belebende Wirkung auf ihn nach, vor allem wenn er sich im Silikonstaub säuberte. Er begann, diese Trockenheit unangenehm zu finden, hasste seine staubigen Haare und konnte doch nichts an ihnen ändern. Was immer er berührte hatte dieselbe, langweilige Temperatur.
"Wofür" fragte er sich "kann ich kalt, heiß, frisch und belebend erfühlen, wenn nichts in meiner Welt so zu sein scheint?"
Als man den Glühwürmchen wieder zum Salzsee folgte, war Luk fest entschlossen, diesmal bei der Rückkehr zum Dorf allein zurückzubleiben. Er stahl, während die anderen schliefen, genug Toku für einen Zykluss und sich zum Felsmassiv davon. Man würde den Heimweg zum Dorf auch ohne ihn schaffen.
Er wartete bis die Glühwürmchen mit den Wanderern und ihrem Licht in der Wüste verschwunden waren und man nur noch das schwache, blaue Leuchten der aktiven Gewächse aus der Ferne sehen konnte, und tastete sich durch den Höhlengang mit seinem Toku bis in die Halle vor, wo sich seine Befürchtungen, das Wasser könnte aufgehört haben, die Wand herunter zu rinnen, in Überwindungsängste zum nächsten, unvermeidbaren Schritt auflösten.
Nach der ersten Nacht in der Halle, während der mehrere Stimmen gleichzeitig auf ihn einredeten, mit völlig unterschiedlichen Meinungen, verließ er sie wieder. "Tu es, zerstöre die Mauer, deswegen bist du hier, du willst wissen, was dahinter kommt." -
"Ein normales Leben ist auch nicht so schlecht, jetzt da du alt genug bist, musst du auch nicht mehr in der Dunkelheit zurückbleiben und Granitmesser schleifen." -
"Tu's jetzt. Tu's einfach. Ohne nachzudenken. Und all die Ungewissheit wird ein Ende haben." -
"Du kannst nicht mehr leben wie die anderen. Dein Wissen um die Substanz macht es dir unmöglich."
Er musste die Halle verlassen, um nicht im Affekt erwas Unüberlegtes zu tun, musste sich aus der Gefahrenzone bringen, in der er selbst die Gefahr war. Draußen setzte sich Luk, sich von der frischen Luft beruhigen lassend, auf einen Stein und blickte auf seine Welt. Der bläuliche Schein am Horizont verriet, dass die Gewächse dort stur ihre Tokublöcke produzierten, wie sie's schon immer getan hatten. Immer? Wie bedeutungslos dieses Wort hier war. Bedeutungslos vielleicht wie das "hier".
Das blaue Schimmern war auch das einzige Anzeichen von Leben. Die Stille war vollkommen, der Fels so bewegungslos wie die Luft. Aus der Entfernung betrachtet erkannte Luk deutlicher als je zuvor, wie ihn diese Welt beschränkte. Er fühlte sich so lebendig und steckte doch lebendig in einem riesigen, dunklen Sarg.
Luk ging den Höhlengang zurück in die Halle und saß lange, dunkle Nächte vor der Mauer, genoss die Kühle der Substanz, den Granitblock in greifbarer Nähe und hatte Angst. Angst vor seiner Gier, vor seinem Leben, Angst vor seiner Zukunft. War mehrmals kurz davor, es einfach zu tun. Ohne nachzudenken. Die Folgen verdrängend. Dann wieder hoffend, die Kraft der Substanz möge die Mauer zerdrücken, ihm die schwere Entscheidung, die schon lange gefällt war, abnehmen.
Dumpf wurde der Aufprall des Granitblocks auf die Mauer von den Hallenwänden zurückgeworfen, dann konnte Luk das Wasser strömen hören, erst leise, doch dann plötzlich zerbarst die Mauer mit einem Mal und gleißend helles Licht erfüllte alles, blendete Luk selbst durch seine geschlossenen Augen. Und es wärmte ihn. So unglaublich angenehm war diese Wärme auf seiner Haut, als er da stand, die Helligkeit durch seine geschlossenen Augen genießend, während das klare Wasser an seinen Beinen emporstieg. Um nichts in der Welt würde er diesen Ort, diesen Augenblick eintauschen. Jede Pore saugte gierig dieses helle, weiße Licht in sich auf.
Das Wasser hob ihn an, die Hallendecke zwang ihn zu tauchen, er fühlte sich unendlich leicht, begann, sich darin zu bewegen. Schwerelosigkeit. Er spürte wie sich der Staub aus seinem Haar löste.
Luk lächelte, glücklich und unbekümmert, als er mit noch immer geschlossenen Augen dem Licht folgend, mit zwei Schwimmzügen durch die Pforte in der Wand schwamm, wo ihm einst eine Mauer den Weg in seine neue Welt verwehrt hatte...

 

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