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Luisa - Ein Fall

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09.11.2015
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Luisa - Ein Fall

„Das war leider sehr unbedacht von dir. Ich ziehe Springer e6 und hole mir im nächsten Zug die Dame.“
„Was habe ich falsch gemacht?“
„Du hast es versäumt, rechtzeitig d6 zu ziehen, weil du unbedingt meinen Läufer attackieren wolltest. Hochmut war die erste Sünde des Menschen.“
„Können wir das Spiel einräumen? Ich habe keine Lust mehr auf dieses Krankenhausschach. Wahrscheinlich haben wir schon längst Milzbrand von den Spielfiguren bekommen“, und ohne das Kopfnicken ihres Gegenübers zu beachten, fegte Luisa von ihrem Bett aus die Figuren mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch zurück in ihren Karton.
„Diese Variante stammt von Bobby Fischer, dem exzentrischsten Genie der Schachwelt. Es ist keine Schande, einem Großmeister in die Hände zu fallen. Im Gegenteil: man kann viel daraus lernen. Zumindest wenn man noch jung ist.“
„Haben Sie das auch jedes Mal Ihren Patienten gesagt?“
„Was ist heute mit dir los? Das Spiel war doch deine Idee“, sagte Kurt in einem Tonfall eindringlicher Güte.

Luisa schwieg, nahm ihre Lesebrille von der Nase und betrachtete die weiße Zimmerdecke über ihnen. Dann blickte sie auf die graue Schiene an ihrem linken Knie und auf die Bettdecke in beige, die halb über ihren Körper lag und der ätzende Geruch von Desinfektionsmittel, der ihr schon seit einer Ewigkeit in die Nase stieg, verband sich in einer synästhetischen Verirrung mit dem Eindruck von Farblosigkeit und sie dachte an die weißen und grauen und farblosen Wochen des Krankenhausalltages, die ihr Leben seit ihrem Sturz zeichneten.

„Ich dachte, ich hätte Lust auf Schach weil ich vergessen habe, wie sehr ich Schach eigentlich hasse“, sagte sie gelassen und ihr Blick wanderte wieder zurück zu der Zimmerdecke.
„Du hast gestern Nacht im Zimmer geraucht. Dachtest du, ich würde es nicht bemerken? Ich gehe nachts ein dutzend Mal zur Toilette.“
„Ja, ich habe geraucht. Was glauben Sie, könnte mir passieren? Glauben Sie ernsthaft ich werde wenige Stunden vor meiner Entlassung aus dem Krankenhaus fliegen? Als ob es irgendjemand außer Ihnen interessiert, wo ich rauche… Nein, tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los ist.“
„Ich kann mir vorstellen, dass es einem mit der Zeit sehr langweilig werden kann in der Klinik. Du bist ja schon viel länger hier als ich und du musst dich dazu noch überwiegend im Bett aufhalten. Aber so ein Krankenhaus gibt einem auch eine feste Struktur vor, in die man sich doch im Guten oder Bösen mit der Zeit einfügt. Man wird morgens pünktlich zum Frühstück geweckt, bekommt seine Tabletten und muss sich auch sonst den Rest des Tages nicht weiter um irgendetwas bemühen. Der Ablauf ist wie in Stein gemeißelt und falls man abends nicht zeitig zur Ruhe kommt, gibt es auch wieder Tabletten dafür. Da fällt eine Menge von einem ab und vielleicht ist es beunruhigend zu wissen, dass man das alles mit einem Male wieder selbst aufnehmen muss?“, mutmaßte Kurt und hatte dabei seine Hände über den Bauch gefaltet und zog mit seinem rechten Daumen die alterszerfurchte Haut seiner anderen Hand glatt.

„Nein, ich freue mich natürlich darauf, wieder nach Hause zu kommen“, sagte Luisa. „Es wäre doch komisch, wenn nicht. Mein Freund vermisst mich sehr und außerdem muss ich wieder zurück zur Uni. Es wird an der Langeweile liegen und daran, dass ich Schach hasse.“ Sie lächelte.
„Als meine Frau gestorben war, dachte ich auch es wäre die Langeweile, die mich umbringen würde. Wir waren bei weitem den Großteil unseres Lebens miteinander verheiratet und es ist in dieser glücklichen Zeit nur selten vorgekommen, dass wir eine Nacht nicht zusammen verbracht haben. Und dann ist sie gegangen. Plötzlich war ich einsam.
Seit der Rente sind wir in die Vorstadt gezogen und ich konnte einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus anlegen, mit Erbsen und Bohnen und Karotten und meine Enkel haben mit geholfen das Unkraut zu jäten, als sie noch klein waren und wir haben zusammen geerntet und meine Frau hat gekocht mit dem Frischen Gemüse…“, Kurt machte eine Pause, es wirkte als müsse er sich sammeln um den Faden seiner Erzählung wieder aufzunehmen und Luisa fragte sich, weshalb die Bilder der verlorenen Heimatidylle gerade jetzt so stark auf ihn wirken konnten. Dann hörte sie auf einmal die schnellen, leichten Schritte einer Person auf dem Flur und war sich sicher, sie einer Pflegerin der Station zuordnen zu können.

„Es ist schon erstaunlich“, hob Kurt wieder mit seiner Rede an, “dass uns heute gerade dasjenige als luxuriös erscheint, was unsere Vorfahren als selbstverständliche Lebensgrundlage betrachtet haben. Jedenfalls, habe ich das Interesse am Garten verloren, als meine Frau starb und er ist verwildert. So wie viele Dinge um mich herum verwildert sind, weil ich an allem das Interesse verloren habe. Ich war wie du an mein Bett gefesselt, nur dass es nicht aufgrund einer ärztlichen Anordnung geschah, sondern meine gebrochene Seele sich selbst das Rezept zu ihrer Genesung verschreiben wollte. Ich war depressiv, auch Psychiater sind davon nicht befreit.“

Es herrschte Stille in dem kleinen Zimmer, nachdem Kurt mit dem Sprechen geendet hatte und Luisa spürte einen Druck auf ihrer Brust und wusste, dass sie sich nur davon befreien könnte, wenn sie die Worte aussprach, die sie in diesem Moment nicht finden wollte.
Dann klopfte es und die Tür sprang auf, beinahe im selben Moment. Es wirkte als wäre das kurze, harte, zweischlägige Klopfen in eine Determinationsabfolge mit dem Öffnen der Tür verbunden, als wäre es der Grund dafür gewesen, dass sich der Schließmechanismus der Tür überhaupt erst überwinden ließ. Ein hoch aufgeschossenes, hageres Mädchen mittezwanzig trat ein und zog einen Behandlungswagen hinter sich mit in das Zimmer, der mit seinen drei untereinanderliegenden Schubladen und den medizinischen Instrumenten auf der Ablagefläche aus Metall den Eindruck einer zweckentfremdeten Kommode auf Rädern machte.

„Ich muss wieder ihre Vitalwerte überprüfen, Herr Doktor“, wand sich die Pflegerin an Kurt und nahm eine winzige Sanduhr aus der oberen Schublade des Wagens.
Sie gehörte nicht zu Luisas Lieblingen unter den Krankenschwestern und daher hatte sich Luisa auch nie die Mühe gemacht, ihren Namen von dem Schildchen ihrer Pflegerinnen-Uniform abzulesen. Das Mädchen wäre beinahe hübsch zu nennen, wenn nicht ihr Nasenbein soweit aus ihrem schmalen Gesicht hinausgewachsen wäre. Dafür hatte sie lange, gesunde braune Haare in der rötlich schimmernden Farbe von Kastanien, die sie offen trug und ihr Parfüm duftete nach Rosen.
Luisa kam sich in ihrer Gegenwart wie verwahrlost vor. Schon seit ihrer Einlieferung hatte sie es aufgegeben, ihr orange-blondes Haar, das sie so sehr hasste weil es widerspenstig von ihrem Kopf herunterhing wie Stroh, täglich zu waschen und aus ihrer Jogginghose hat sie sich, sie wusste nicht wie lange schon nicht mehr herausgeschält, dass sie davon ausging, es könnte nicht mehr lange dauern bis sie endlich mit ihrem Körper verwachsen würde.

„Ich kann ihren Puls nicht finden“, sagte die Pflegerin und tastete weiter suchend nach der Arterie an Kurts linken Handgelenk.
„Ich meine mich daran zu erinnern, dass das nie ein gutes Zeichen ist“, erwiderte Kurt und lächelte dabei so herzenswarm, dass sich unter seiner schlaffen Haut an den Wangen noch leichte Grübchen abzeichneten.
Die Pflegerin lächelte ebenfalls aber auf Luisa wirkte dieses Lächeln giftig und verlogen.
„Jetzt habe ich ihn!“, rief das Mädchen aus. Dann dreht sie Sanduhr in ihrer anderen Hand und begann innerlich zu zählen. Ihre Lippen bewegten sich dabei und führten lautlos Protokoll. „Zweiundneunzig. In Ordnung.“, sie notierte den Wert in Kurts Patientenakte.
„Es riecht hier so eigenartig heute“, brach es plötzlich aus ihr hervor und sie schaute Luisa ins Gesicht. „Hast du im Zimmer geraucht?“
„Nein, das hätte ich bei meiner Nykturie bemerkt“, machte sich Kurt sofort für seinen Schützling stark. „Ich bin die ganze Nacht zur Toilette geeilt und habe den ganzen Tag mit ihr in diesem Zimmer verbracht. Wir haben allerdings am Morgen länger das Fenster offen gelassen, weil ich so schlecht Luft bekommen habe und ich bin mir sicher, dass das Krankenhauspersonal heute unter dem Fenster geraucht hat. Wahrscheinlich ist ihr Zigarettenqualm hier heraufgezogen.“

Die Pflegerin hatte ihre Augenbrauen zusammengeschoben, aber dann überwog bei ihr doch so etwas wie ein Schamgefühl und sie entschuldigte sich bei Luisa.
Sie fuhr schließlich damit fort Kurts Blutdruck zu messen und dieser Wert viel ebenfalls in ihre Kategorie für „in Ordnung“. Allerdings waren Kurts Beine angeschwollen und ihm musste dabei geholfen werden, sich aus seinem Stuhl aufzurichten und ins Bett zu legen, damit die Wassereinlagerungen wieder abebben konnten.
„Jetzt brauche ich nur noch etwas Blut von dir, Luisa“
„Schon wieder?“, entgegnete diese. „Langsam bekomme ich die Vermutung, dass du einfach Spaß daran hast, mich zu nerven.“
„Du weißt, dass du nicht eher nach Hause kommst, bevor sich dein Leukozytenwert wieder normalisiert hat.“
„Mir wurde aber versprochen, dass ich heute Abend gehen kann!“, insistierte Luisa.
„Das entscheidet der Arzt. Warte erstmal das Labor ab“, schloss die Pflegerin das Gespräch und bereitete die Spritze vor. Als sie ging schloss die Tür hinter ihr mit einem eiligen Knall.

„Danke, dass Sie mich nicht verraten haben“, sagte Luisa und statt einer Antwort richtete Kurt ein sanftes Kopfnicken an sie. „Sie sind wegen einer Herzinsuffizienz hier, richtig? Das liegt auch in meiner Familie. War Bluthochdruck der Grund dafür?“
„Der Grund, ja ‒ aber nicht die Ursache“, sagte Kurt. „Die Ursache war eine Herzschwäche ganz anderer Art.“
„Der Tod Ihrer Frau?“
„Genau. Gerade in unseren qualvollsten Momenten ist die Trennung von Körper und Geist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Man zerbricht immer als ganze Person.“
Wieder lag Stille im Raum als Kurt seinen letzten Satz ausgesprochen hatte. Aber dieses Mal wirkte sie nicht unangenehm auf Luisa. Sie war notwendig und gesund.

Luisa griff nach der Lesebrille, die sie in ihr Bett gelegt hatte und fuhr mit einem Pinzettengriff aus Zeigefinger und Daumen die Konturen des dicken, schwarzen Nasenstegs entlang. „Erzählen Sie mir von Ihrer Frau“, bat sie schließlich Kurt, der nun selbst an die Zimmerdecke starrte und in Gedanken verhangen schien.
„Sie war meine einzige Liebe. Damit ist das Wesentliche gesagt. Wir haben jung geheiratet, jung Kinder bekommen und waren alt, als wir auseinandergingen. Wenn man miteinander altert, entschwinden allmählich alle Augenblicke der Leidenschaft und die Erinnerungen an alle großen Gefühle verblassen ebenfalls. Stattdessen stellt sich eine tiefe, fast mythische Stimmung von Vertrautheit ein, die man in der Jugend nicht für möglich gehalten hätte.“
„Wenn sie so glücklich waren, müssen sie ihre Frau ja sehr vermissen“, sagte Luisa ernsthaft bewegt.
„Es war ein großer Schock, aber langfristig trauert man leichter nach einer glücklichen Zeit. Irgendwann ist einem möglich, loszulassen… Warum bist du hier?“, wandte sich Kurt nun erschreckend direkt an Luisa. „Ich weiß, dass der Grund für die Beinorthese und deine Rupturen ein Sturz aus dem Fenster war. Aber was ist die Ursache? Wie ist es dazu gekommen?“
Luisa war verlegen und wusste nicht recht, wie sie darauf antworten sollte.

„Ich war bei meinem Freund zuhause und wir haben gestritten“, äußerte sie vorsichtig. „Dann habe ich mich auf die Fensterbank gesetzt, um eine zu rauchen weil ich so angepisst von ihm war und bin dabei herausgefallen. Aus dem ersten Stock auf die Straße.“
„Einfach so?“, fragte Kurt erstaunt.
„Ja, ich weiß nicht, wie ich es erklären kann. Ich bin einfach ungeschickt“, ihre Lippen malten ein schüchternes Lächeln in ihr Gesicht.
„Kannst du mir sagen, wie du die Beziehung wahrnimmst? Wie fühlst du dich, wenn du dich mit deinem Freund triffst?“
„Die Frage ist für mich komisch. Ich bin es nicht gewohnt, so über mich selbst zu reden. Irgendwie lässt es sich immer leichter über andere sprechen.“
„Du darfst gerne über andere sprechen, das ist schließlich keine Therapiestunde“, gestand ihr Kurt zu. Er wunderte sich selbst darüber, wie schnell er sich von einer alten Gewohnheit bemächtigen ließ. „Häufig gibt man dabei mehr Auskunft über sich selbst.“
Luisa zögerte und nahm das Bügelende ihrer Brille in den Mund um Gedanken nachzugehen, die sich leichter mit Stimulation denken ließen. Wieder hörte sie die schnellen Schritte der namenlosen Schwester auf dem Gang. Nur dass sie dieses Mal an ihrer Zimmertür vorbeizogen.

„David ist wirklich sehr klug und er kann sich gut in andere Menschen hineinversetzen. Aber man muss ihn erst richtig kennenlernen um das zu sehen. Zuerst sieht man nämlich nur seine Probleme“, Luisa stockte.
„Versuch dich zu lösen“, ermahnte sie Kurt freundlich. „Ich denke, da hat sich viel bei dir angestaut und dir würde es guttun einmal offen darüber zu reden. Du kannst mir vertrauen, hab keine Angst davor.“
„Ich liebe ihn sehr, aber es fällt mir häufig schwer ihn zu verstehen. Er kann unglaublich abweisend sein, sich tagelang nicht melden, ohne dass er einen Grund dazu bräuchte. Und dann sucht er doch wieder fast verzweifelt nach Intimität. Er gehört zu diesen Menschen, die das eine sagen, um das andere zu tun. Am Anfang wollten wir zum Beispiel eine offene Beziehung führen. Wir haben beide mit unseren letzten Partnern schlechte Erfahrungen gemacht ‒ er wurde betrogen ‒ und ich weiß nicht, vielleicht wollten wir uns so einfach davor schützen, dass es mit uns zu schnell geht. Es ist ungewöhnlich, so etwas jemanden wie ihnen zu erzählen. Das klang jetzt falsch…“
„Auch in meiner Generation gab es eine Gegenbewegung zum Spießbürgertum. Du brauchst dich vor mir wirklich nicht zu schämen“, beruhigte sie Kurt.

„In Ordnung. Wir waren dann auf einer Party bei Freunden zuhause“, fuhr Luisa fort, „und David war ziemlich betrunken. Er hat angefangen mit einem anderen Mädchen zu flirten und ich bin davon ausgegangen, dass er mich damit nur eifersüchtig machen wollte. Das tut er öfter, um herauszufinden, ob er mir etwas bedeutet. Es gehört wohl zu seiner Auffassung von Liebe, dass man den anderen ganz besitzen möchte.“
„Warum dann die offene Beziehung?“
„Das weiß ich auch nicht. Jedenfalls ist er zu mir gekommen und wollte, dass ich mit ihm und dem Mädchen schlafe. Sie hatte er bereits gefragt. Ich wollte mich auch darauf einlassen, wahrscheinlich weil ich es für einen großen Wunsch hielt, den alle Männer irgendwie teilen. Als wir aber in seiner Wohnung angekommen sind, gab es ein Riesentheater wegen irgendeiner Kleinigkeit. Ich weiß nicht mehr, worum genau es ging. Es hatte wohl etwas damit zu tun, dass er das Taxi bezahlen musste, weil ich kein Geld dabei hatte und er sich irgendwie von mir ausgenutzt gefühlt hat. Damit hat er das Mädchen schnell vergrault und als wir dann alleine waren, hat er sich soweit in die Sache hineingesteigert, dass er davon geredet hat sich von einer Brücke zu stürzen, um sich umzubringen.“
„Spricht dein Freund öfter von Suizid?“, fragte Kurt in einem für Luisa ungewohnt bitteren Ton.
„Ja, ab und an. Besonders, wenn er getrunken hat. Aber meistens lässt er sich dann auch schnell wieder beruhigen. Ich glaube, dass er das nur tut, wenn er sich ungeliebt fühlt. Das war übrigens auch der Abend, an dem wir die offene Beziehung aufgegeben haben und fest zusammengekommen sind.“
„Das klingt fast so, als ob er dich dazu erpresst hätte. Hast du dich mit dieser Entscheidung wohl gefühlt?“
„Die Frage ist für mich nie aufgekommen“, antwortete Luisa. „Es war für mich einfach natürlich, dass ich für ihn das tue, was ihm hilft. Aber es stimmt vielleicht, dass er jemand ist, der alle anderen um sich herum mitreißt, wenn er sich ins Unglück stürzt.“

„Wollte sich dein Freund auch wieder ins Unglück stürzen an dem Tag, an dem du aus dem Fenster gefallen bist?“
„Es kam zum Streit, wie gesagt. Aber anders, als sie vielleicht denken. Es war nämlich das erste Mal, dass ich wirklich sauer auf ihn gewesen bin. Ich wollte mich sogar von ihm trennen! Wir haben gemeinsam zu Abend gegessen. Ein richtiges Dinner mit Rotwein und allem. Danach hat er sich einfach an seinen Laptop gesetzt und mit seiner Ex-Freundin geschrieben! Er dachte, ich würde es nicht bemerken, weil er mir gegenüber am Tisch gesessen hat und ich den Bildschirm von seinem Laptop nicht sehen konnte. Aber es hat sich in seiner Brille gespiegelt. Nachdem ich alles für ihn getan habe, um seine verdammten Eifersuchtsanfälle zu beruhigen, hat er es gewagt ohne irgendeinen Grund in meiner Gegenwart mit ihr zu schreiben. Ich war unglaublich wütend aber er ist wirklich an die Decke gegangen, als ich gesagt habe, dass ich ihn verlasse. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er hat sich wirklich in seiner Rage verloren.“
„Luisa, hat dir dein Freund etwas angetan?“
„Sie verstehen nicht“, brauch es noch aus ihr heraus, bevor das Schluchzen die Überhand gewann und ihre Stimme verschluckte. Warme Tränen quollen dabei über ihr Gesicht.
Kurt stand aus seinem Bett auf, um ihr seine Taschentücher zu reichen. Sie hat lange gebraucht um sich wieder zu beruhigen.

Das Abendbrot wurde von der Schwester aufs Zimmer gebracht und sie teilte Luisa mit, dass ihre Blutwerte gut waren aber der Arzt noch ein MRT von ihrem Knie haben wollte, bevor er sie entlassen würde. Nach dem Essen machte sich Luisa mit ihren Krücken auf dem Weg zu ihrer letzten Untersuchung.
Für Kurt war es bedrückend nun alleine zurückgelassen zu sein. Gerne hätte er noch weiter mit Luisa gesprochen bis sich das Bild, das sich noch in einer schwachen, undeutlichen Komposition vor seinem inneren Auge abzeichnete, vervollständigen konnte. Aber sie hatte genug gesagt und sie brauchte schließlich seine Nähe ohne ihre Worte.

Es verging viel Zeit, bis sich die Tür wieder nach einem vorsichtigen Klopfen öffnete und ein junger Mann hineintrat. Er richtete einen nüchternen Gruß an Kurt und erkundigte sich sogleich nach Luisa. In seiner grauen Latzhose hing noch der Geruch von frischem Holz. Es schien als wäre er direkt von der Arbeit ins Krankenhaus gekommen.
„Sind sie David?“, fragte Kurt.
Der junge Mann bejahte und zeigte sich nicht sonderlich darüber verwundert, dass ein fremder seinen Namen kannte. Kurt hatte sich eine andere Vorstellung von ihm gemacht. Er schien eine natürlich Ruhe auszustrahlen, die nicht zu Luisas Beschreibungen passen wollte. David begann damit Luisas Taschen zu packen, ihren Nachtschrank auszuräumen und ihre Kleidung aus dem Schrank zu nehmen. Seine Bewegungen waren sicher und kontrolliert. Er hatte eine Entzündung an seinem rechten Auge, die ihm nicht sehr zuzusetzen schien. Geschwollene Blutgefäße griffen tief in seinen Augapfel hinein und färbten ihn rot.
„Waren sie mit ihrem Auge schon bei einem Arzt?“, erkundigte sich Kurt.
„Noch nicht, aber wenn es vereitert, könnte ich ihr neuer Zimmernachbar werden. Ich hatte bei der Arbeit keine Schutzbrille auf und mit ist ein Splitter reingeflogen.“
„Und eine normale Brille ist als Schutz wohl nicht ausreichend?“
„Nein“, gab David verwundert zur Antwort. „Aber ich trage auch sonst gar keine Brille.“

Mit einem Schrecken wurde Kurt klar, dass er von Luisa belogen wurde. Sie stand plötzlich selbst im Raum und starrte wie gelähmt mit einem panischen Blick auf ihren Freund.
‚Sie hat von sich selbst gesprochen, als sie von ihrem Freund geredet hat. Nicht er sondern sie war suizidal!‘, dieser Gedanke stach mit glühender Spitze in Kurts Bewusstsein. Ihm war, als hätten alle Zeichen dafür vor ihm gelegen. Als hätte er sie in jüngeren, sensibleren Jahren noch aufzufinden und richtig anzuordnen verstanden. Aber ihm war diese Vitalität aus den Händen gefallen und fast freudig hatte er sich von seiner altmännerhaften Gutherzigkeit blenden lassen. Er brachte kein Wort mehr hervor, als Luisa ihre Taschen nahm und ging. David richtete noch eine Abschiedsformel an ihm, bevor er ihr nacheilte und die Tür sanft ins Schloss fallen ließ. Für Kurt fühle es sich so an, als würde das Bett unter seinem Körper verschwinden und er läge ohne Halt in einem freien Raum.

 

Hey Cosmo

Nur ganz kurz, einfach weil es mich juckt. Ich schreib mal den Anfang, so wie das ein echter Schachspieler sagen würde: ;)

„Das war leider sehr unbedacht von dir. Ich ziehe Läufer g5 und hole mir im nächsten Zug deine Dame.“
„Was habe ich falsch gemacht?“
„Du hast es versäumt, rechtzeitig d6 zu ziehen, weil du unbedingt meinen Läufer attackieren wolltest. Hochmut war die erste Sünde des Menschen.“
„Können wir das Spiel einräumen? Ich habe keine Lust mehr auf dieses Krankenhausschach. Wahrscheinlich haben wir schon längst Milzbrand von den Spielfiguren bekommen“, und ohne das Kopfnicken ihres Gegenübers zu beachten, fegte Luisa von ihrem Bett aus die Figuren mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch zurück in ihren Karton.
Diese Variante stammt von Bobby Fischer, dem exzentrischsten Genie der Schachwelt.

Man verwendet also nur für Züge, die man ausführt, die Feldbezeichnung, kaum aber, wenn man auf Figuren verweist, denn der Gegner weiss ja, wo die stehen. Bei Bauernzügen verzichtet man dabei auf "Bauer".
Der letzte Satz ist noch immer etwas grenzwertig, weil das nach einer Eröffnungsfalle klingt und Fischer keine Neuerungen auf diesem Niveau gebracht hat, da gab's das alles schon. Das heisst, um auf eine Variante hereinzufallen, die Fischer als Erster gespielt hat, muss man selber schon ziemlich gut spielen, sonst kommt man gar nicht so weit. Sorry wegen dieser :teach: Intervention, aber ich musste einfach ... Übrigens: Die Schachnovelle ist für einen Schachspieler kaum zu ertragen, ist also schon anderen passiert.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

danke für deine schnelle Antwort und die Korrekturen! :)

Ja, du hast mich erwischt: ich habe keine Ahnung vom Schach und die Spielzüge einfach im Internet recherchiert. Dabei bin ich irgendwie auf Bobby Fischer gestoßen und auf diese Eröffnungsfalle, die angeblich von ihm stammen sollte :D

Das wird wohl auch der Grund dafür sein, dass sich in "Die Schachnovelle" keine Feldbezeichnungen finden lassen.

Liebe Grüße,
Cosmo

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich nochmal. Ah, ja, hab's gefunden. Dann also am besten: "Ich ziehe Springer e6 und hole mir im nächsten Zug die Dame." Und ja, es ist einigermassen denkbar, dass auch ein Anfänger zu dieser Position gelangt, also eine gute Wahl und man kann den Satz gut so stehen lassen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Cosmo,

hach, ich turne hier seit Ewigkeiten hoch und runter (im Text) und suche nach dem einen kleinen Detail, das mir beim Lesen etwas seltsam ins Auge stieß. Aber irgendwie find ich's nicht mehr. Grmpfh.

Egal jetzt. Vielleicht kommt's mir später nochmal unter.

Die Geschichte gefällt mir jedenfalls gut. Es ist interessant, wie sie ping-pong-spielend von der einen zur anderen Person wechselt und sukzessive eine immer schärfer werdende Charakterzeichnung betreibt. Der Schluss ist ein wenig beunruhigend (aber er kommt mit Anlauf, weil sich ja schon einige Andeutungen in der Story finden lassen) - denn ich frage mich nun beispielsweise, wie es mit diesem Menschen weitergeht, ob ein weiterer Fenstersturz folgen könnte, etc.

Inhaltlich finde ich die Geschichte also spannend, mitunter auch berührend, vor allem, wenn es um das geht, was dem Psychiater noch bleibt.

Etwas habe ich mich daran gestört, dass es in jenem Krankenhaus geschlechtergemischte Zimmer zu geben scheint. Wird es hier wohl nie geben. Gibt's das irgendwo tatsächlich? Wenn ja, dann wohn ich wohl irgendwo auf einem stadtgroßen katholischen Friedhof oder so ...

Ah, und mir haben so leicht poetisch anklingende Sequenzen in diesem Text sehr gut gefallen. Eine ist z. B. diese hier:

Luisa schwieg, nahm ihre Lesebrille von der Nase und betrachtete die weiße Zimmerdecke über ihnen. Dann blickte sie auf die graue Schiene an ihrem linken Knie und auf die Bettdecke in beige, die halb über ihren Körper lag und der ätzende Geruch von Desinfektionsmittel, der ihr schon seit einer Ewigkeit in die Nase stieg, verband sich in einer synästhetischen Verirrung mit dem Eindruck von Farblosigkeit und sie dachte an die weißen und grauen und farblosen Wochen des Krankenhausalltages, die ihr Leben seit ihrem Sturz zeichneten.

Da steckt viel drin, nicht nur sprachliche Schönheit, sondern auch inhaltliche Brisanz. Sehr schön!

So, das war's erstmal. :)

LG

 

Hallo Alltagsschleife,

vielen Dank für die nette Kritik. Das ist eine meiner ersten Kurzgeschichten und ich schätze, dass man gerade noch am Anfang sehr sensibel für nette Worte ist. Ich habe mich zumindest sehr darüber gefreut :)

Ja, bei der Zimmerbelegung habe ich mir ein wenig künstlerische Freiheit gelassen (ich wüsste auch von keiner Krankenhausstation, die sich sowohl einer Herzinsuffizienz als auch einem Kreuzbandriss annimmt). Mich hat einfach die Kombination junges Mädchen, alter Mann interessiert, die ja auch in der bildenden Kunst als "Der Tod und das Mädchen" sehr weit verbreitet ist.

Viele Grüße,
Cosmo

 

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