- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Luigi
Plitsch, macht es ganz leise. Auf seinem rechten Oberschenkel entsteht ein kleiner, dunkler Fleck. Ein zweites mal, Plitsch. Luigi weint. So wie immer, wenn er an seine Eltern denkt. Hoch oben, auf einem Holzstapel sitzend, lässt er die Beine über den Rand baumeln. In Gedanken reist er zurück in die schöne Zeit, als der Rautenhof, am Fuße der Karpaten, noch voller Leben war. Sein Vater betrieb seinerzeit Holzwirtschaft. Zum Hof gehörte, damals wie heute, ein nahegelegenes Waldgebiet, das von allen einfach nur Bei den Nebelkiefern genannt wird. Der Vater schlug dort sein Holz und brachte es mit Pferd und Wagen zur Sägemühle am Karauschenbach.
Davon konnten sie alle gut leben, denn der Vater war fleißig und die Mutter sparsam. Mischa, die Großmutter, war damals noch gesund und stark. Alle vier lebten sie auf dem Rautenhof und waren mit ihrem Leben zufrieden.
Bis zu dem Tag, als Vater von einer Kiefer erschlagen wurde. Brausewind, ein kräftiger Haflinger Fuchs mit weißer Mähne, kam am späten Abend allein auf seine kleine Koppel am Haus. Obwohl es schon dunkelte, machte sich Luigi mit seiner Mutter sofort auf den Weg, den Vater zu suchen. Mischa lief derweil runter nach Köhlershütten, um Hilfe zu holen. Luigis Vater war beliebt in dem kleinen Dorf und so kamen fast alle zu Hilfe. Mit Fackeln und Hunden eilten sie zu seinem Holzplatz. Sie fanden ihn schließlich zerdrückt unter einer mächtigen, am Boden liegenden, Kiefer. Sein linkes Bein steckte bis zum Knie in einem Fuchsbau. Man vermutete damals, dass der Vater im letzten Moment dort hineingetreten war, und so nicht mehr vom fallenden Baum fort kam. Wochen später starb die Mutter an gebrochenem Herzen.
Seither lebt Luigi mit Großmutter Mischa allein auf dem Rautenhof, wo er des Vaters Tagewerk fortführt.
"Luigi!", ruft es von unten, "He Luigi! Wo steckst du Holzdieb!"
Luigi beugt sich vor und sieht von oben auf die gelbe Dienstmütze seines Freundes Konrad, dem Briefräger.
"Hier oben, du Posträuber. Liest du schon wieder meine Briefe?"
"Seit wann bekommst du denn Post? Du kennst doch niemanden außerhalb des Aubachtales."
"Sei nur still, du bekommst sonst noch eine grüne Verzierung auf deinen gelben Hut. Ich hätte gerade einen guten Rotzfladen für dich übrig!" Beide lachen laut und schlagen sich auf die Schenkel. Luigi klettert den Holzstapel hinunter. Konrad wartet auf ihn, dann schiebt der Postbote sein Fahrrad zum Hühnerstall und Luigi geht schlurfend nebenher. Sie setzen sich auf eine alte Holzbank, die vor dem Stall in der Sonne steht. Konrad entnimmt seiner Ledertasche ein Käsebrot und einen Apfel, den er Luigi anbietet. Sie essen schweigend, Luigi den Apfel, und Konrad das Käsebrot. Zu ihnen gesellen sich ein paar Hühner, die zwischen ihren Füßen herumpicken. Nach dem Essen lehnen sich beide zurück und lassen sich mit geschlossenen Augen die Sonne ins Gesicht scheinen.
"Gell Konrad, hast du keine Post?", kommt Mischa mit einer halbvollen Schnapsflasche um die Ecke.
"Naa, woher dann! Ihr habt doch noch nie Post bekommen!"
Mischa holt zwei Gläschen aus ihrer Schürzentasche und schenkt den beiden ein. "Ja, Recht hast du, wer soll uns wohl schreiben", seufzt sie, "Wir kennen doch nur die Aubachtaler, sonst niemand."
"Doch!", ruft Luigi, "den Papst aus Italien!" Alle drei biegen sich vor Lachen. Als sie sich wieder beruhigen, erhebt sich Konrad schließlich.
Da sagt Mischa: "Gell, Konrad, du fährst schön vorsichtig."
"Freilich Mischa, einen Fuß am Boden, den anderen auf der Pedale", er grinst. Die Großmutter versteht den Wink und schenkt lächelnd noch mal ein. Dann nimmt sie die Gläser und geht in Richtung Haus. Die beiden jungen Männer aber schleichen ihr leise nach. Hinter der Ecke vom Hühnerstall erwischen sie die Großmutter, wie sie stehen bleibt, die Flasche ansetzt und einen kräftigen Zug nimmt. Als sie das schallende Gelächter hinter sich hört, verschluckt sie sich fast, läuft schimpfend zum Haus und verschwindet in der Küche.
Konrad hat schon ein Bein über den Sattel geschwungen, als er mit dem Mützenschirm in Richtung Holzstapel deutet. "Luigi, sag einmal, wie hoch willst du den denn noch bauen? Er ist schon arg hoch, dein Holzturm."
Luigi wendet seinen Blick zu dem Holzstapel auf dem kleinen Hügel hinter dem Haus. "Freilich, diesmal will ich ihn besonders hoch bauen, so dass man ihn bis nach Köhlershütten sehen kann."
"Und dann?"
"Dann", erwidert Luigi, "dann noch höher, bis man ihn auch im ganzen Aubachtal sehen kann."
Konrad staunt: "Und weiter?"
"Am Ende wird selbst der Papst in Italien meinen Holzturm sehen können."
Konrad staunt noch mehr. Im Wegfahren hebt er nachdenklich die Hand zum Abschied, ohne sich noch mal umzudrehen. Klappernd biegt er auf den schmalen Weg ein, der ins Tal nach Köhlershütten führt.
Luigi ist wieder allein. Er schaut zum Holzstapel und lächelt. Wenn ich eines kann, denkt er bei sich, dann ist es Holz stapeln. Bei mir kippt nichts um. Tatsächlich hatte er dieses Talent schon als Kind gehabt. Immer schon, wenn der Vater heimkam und Holz mitbrachte, welches der Sägemühlenbauer vom Karauschenbach nicht brauchen konnte, wartete Luigi ungeduldig, bis Vater es gesägt und gehackt hatte. Dann nahm sich der kleine Luigi das Scheitholz und stapelte wie ein Künstler.
Luigi geht zur Pferdekoppel und macht einen kurzen Pfiff. Brausewind wirft den Kopf hoch und kommt wiehernd angetrabt. Luigi öffnet das Gatter, führt das kräftige Tier zum Wagen und spannt ein. Er sitzt auf den Bock auf und greift nach den Zügeln, als Mischa mit einem Essenspäckchen herbeieilt und es ihm hoch reicht.
"Luigi, versprich mir, dass du vorsichtig bist." Sie schaut mit sorgenvoller Miene zu ihm hoch.
"Freilig Großmutter, Vater und Mutter passen vom Himmel aus auf mich auf." Seine Stimme klingt ernst, aber auch beruhigend. Sie tritt zwei Schritte zurück und Luigi fährt an. Sägen, Keile, Äxte und Hämmer klappern während der ganzen Fahrt auf der Ladefläche.
Brausewind kennt den Weg, so dass Luigi sich entspannt die schöne Landschaft anschauen kann. Es geht am Bach entlang etwas bergauf über Wiesen bis in den Wald hinein, der den Bergen zugewandt, schon etwas höher liegt. Nach etwa drei Viertelstunden kommt er am Holzplatz an und wendet den Wagen geschickt. Brausewind wird ausgespannt und weidet etwas abseits zwischen den Bäumen.
Luigi wählt eine schön gewachsene Kiefer aus. Sie ist etwa 100 Jahre alt und weist einen makellosen Stamm auf, bis hoch oben zur Krone ist sie ganz gerade. Der Sägemüller vom Karauschenbach nimmt nur Holz an, welches man zu Brettern und Balken verarbeiten kann. Luigi beginnt zu sägen. Er ist ein kräftiger gesunder Mann und am frühen Nachmittag liegen drei gute Stämme und ein Krummer für Scheitholz auf dem langen Wagen.
Als Kind schon hatte er vom Vater gelernt, wie man die schweren Stämme auf die Ladefläche bekommt. Dazu postiert er den Wagen vor den am Boden liegenden Stamm, verbindet dann das ausgespannte Pferd mittels Seilzuges mit dem vorderen Ende des Langholzes und lässt anziehen. Dabei keilt er geschickt ein kurzes, stabiles Holz so unter das Stammende, dass dieses angehoben wird und auf die Wagenfläche gleiten kann.
Luigi spannt das Pferd ein und die Rückfahrt beginnt. Das Tier zieht kräftig an, aber weil es jetzt bergab geht, fällt es ihm leicht. Luigi zweigt zum Karauschenbach ab. Nach einer Weile ist die Sägemühle in Sicht, und der alte Holzmüller Eigenfeldt läuft wie immer geschäftig ums Gebäude.
"Mach mal schnell!", ruft er Luigi zu, "Der Brusberg Michael ist schon unterwegs und muss gleich hier sein mit seinem Holz. Ich helf' gleich mit."
Das kennt Luigi schon, von wegen. Er positioniert seinen Langholzwagen über dem Rollenweg und befestigt die hinteren Stammenden mit Seilen an einem dafür vorgesehenen Balken. Dann lässt er Brausewind anziehen. Dabei rutscht der Wagen unter den fixierten Stämmen durch und sie fallen auf den Rollenweg, der direkt durch ein Tor ins Sägewerk führt. Den krummen Stamm behält er auf dem Wagen. Kaum ist die Arbeit getan, kommt der alte Eigenfeldt um die Ecke: "Schon fertig? Man, du hast es aber heute wieder eilig, schön, schön", er betrachtet die Stämme kritisch, "Zweihundert!"
Luigi lacht auf: "Zu wenig, dafür geb' ich dir höchstens den krummen August, vierhundert müssen es schon sein."
"Dreihundert, und Ende des Palavers, komm, schlag ein!", versucht Eigenfeld ihn zu überrumpeln.
"Nene", kontert Luigi, "dreihundertfünfzig ist ein Spottpreis für so schöne Nebelkiefern." Der Holzmüller wirft die Arme hoch und dreht sich weg: "Du bist schuld, wenn meine Alte mich erschlägt, lass dich drinnen auszahlen."
Die Taschen voller ehrlichem Geld kommt Luigi zu Hause an. Es ist noch früh, und er kann den krummen Stamm noch zu Scheitholz verarbeiten. Dann gibt es Abendbrot. Großmutter und Luigi sitzen gemeinsam am Tisch.
"Hat der Wald denn auch noch schön viele Bäume?"
"Nu freilich, deshalb ist's ja ein Wald."
"Frechdachs!"
"Unser Wald ist so groß, da kannste dich verlaufen."
Mischa seufzt: "Ich war schon so lang nimmer oben, ja, früher ... ", ihr Blick verklärte sich. Aber dann wieder gefasst, " Sag mal Luigi, was ist denn das mit deinem Holzturm, wie hoch ... "
"Ja, so hoch wie es eben sein muss!", ruft Luigi ungehalten, "Brennholz kann man nie genug haben, erst muss es trocknen, dann kommt ein harter Winter und man braucht viel, oder es bleibt bei einem milden Winter zulange liegen, so dass der Wurm alles wegfrisst. Oder die Hexe schießt, und ich kann kein Holz machen und und und. Man braucht Reserven Großmutter."
Mischa zuckt zurück: "Ja, ja, ist ja schon gut, dann mach nur."
Sie weiß, wenn sich ihr Luigi etwas in den Kopf gesetzt hat, kann ihn niemand davon abhalten.
Am nächsten Morgen füllt Luigi seine Kiepe mit langen Holzscheiten, schnallt sie auf den Rücken und klettert auf den Holzstapel. Er lässt in gewissen Abständen die Holzscheite etwas herausgucken. So hat er immer festen Halt an den Händen und festen Stand mit den Füßen. Eine Leiter anstellen reicht schon lang nicht mehr aus. Der Stapel überragt bereits alle Gebäude und Bäume des Hofes. Drei Kirchtürme hoch schätzt Luigi, und er kennt nur den hohen Köhlershüttener Turm. Oben angekommen, genießt er den Ausblick über das weite Tal mit dem Dorf auf der einen, und die Berge mit dem Wald auf der anderen Seite. Selbst dem Habicht ist die Spitze schon zu hoch, so kann Luigi ihn von oben Kreise ziehen sehen. Hier, in luftiger Höhe, weht stetig eine stramme Brise, aber der Holzturm wankt kein bisschen. Geschickt verwebt Luigi die extra langen und krummen Holzscheite, so dass alles fest miteinander verbunden ist, wie bei einem Korbgeflecht.
In diesem Moment kommt Konrad, ein Liedchen pfeifend, auf den Hof geradelt und ruft nach Luigi.
"Hier oben!", brüllt Luigi so laut er kann. Hätte er Konrad nicht zufällig gesehen, gehört hätte er ihn wohl kaum.
Konrad schaut auf und wäre vor Schreck bald umgefallen: "Mei o mei, Luigi! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Von da heroben kommen Blitz und Donner, steig lieber herab, sonst gibts am Ende noch ein Unglück!"
"Alter Angsthase, pass du nur auf, dass du nicht vom Radl fällst!" Luigi steht breitbeinig am Rand, stemmt die Hände in die Hüften und lacht. Konrad kann seinen Freund gerade noch ganz klein erkennen, da verdeckt eine Wolke die Turmspitze und Luigi verschwindet darin. Dann, ganz klein wie einen Sandfloh, sieht er Luigi herabsteigen aus der Wolke. Ihm wird bang. Aber nach einer Weile hat sein Freund wieder festen Boden unter den Füßen.
Während die beiden schweigend auf ihrer Bank sitzen, dreht sich Konrad immer mal wieder zu dem Holzstapel um und schüttelt ungläubig den Kopf. Da unterbricht Luigi das Schweigen:
"Groß und mächtig,
schicksalsträchtig.
Um seinen Gipfel jagen,
Nebelschwaden."
Luigi schaut mit glitzernden Augen zur Turmspitze, und dann zu Konrad. Konrad mit gerunzelter Stirn zu Luigi. "Das ist von dem großen Dichter Wolfgang Ambros", bemerkt Luigi. "Das mussten wir früher in der Schule auswendig lernen."
"Was sagt denn deine Großmutter dazu?"
"Zu dem Vers?", fragt Luigi mit Unschuldsmiene.
"Na, du weißt schon, man Luigi das ist gefährlich! Und eine Sünde ist es auch."
"Hört, hört", entgegnet Luigi, "einer ehrlichen Arbeit nachzugehen und im Schweiße seines Angesichtes hart zu arbeiten, ist also eine Sünde."
"Nein, das nicht, aber ... "
"Nichts aber. Stell dir vor, es gibt einen harten Winter, und ich falle aus, weil ich zum Beispiel einen Hexenschuss habe und nicht arbeiten kann."
" ... dann klettert Großmütterchen Mischa bis in die Wolken und holt trotz Regen trockenes Holz für eine warme Stube - genial!"
So streiten sie eine Weile, bis Mischa mit Schnaps kommt und schlichtet. "Ja, über seinen Turm lässt er Nichts kommen, unser Luigi, den Stolz hat er von seinem Vater." Luigi horcht auf.
Konrad entgegnet: "Selbst im Dorf kann man den Turm sehen, die Leute haben Angst, dass er ihnen auf den Kopf fällt." Luigi horcht noch mehr auf, er strahlt vor Stolz.
Mischa sammelt die Schnapsgläschen ein und wendet sich zum Haus. Hinter der Bretterwand vom Hühnerstall verhalten ihre Schritte einen Moment, es gluckst leise, dann wieder Schritte.
"Übertreib' s nicht!", Konrad sieht seinen Freund ernst an.
Luigi lacht: "Warts nur ab, morgen schaffe ich es bis zum Mond."
Konrad erschrickt, schaut noch einmal auf den Turm und fährt zurück ins Tal nach Köhlershütten.
Im ganzen Aubachtal gibt es nur ein Thema: den Turm vom Rautenhof.
Luigi kann schon lange nicht mehr Gottes Erdboden sehen, so hoch ist er inzwischen gekommen. Nicht einmal auf den Steinadler kann er noch herunterschauen, wenn dieser majestätisch seine Kreise zieht. Selbst die Wolkendecke ist nur eine Zwischenstation auf seinem Weg nach oben.
Und ganz am Ende kann er selbst den Mond nur noch sehen, wenn er sich weit über den Turmrand beugt und in tiefschwarzer Nacht nach unten blickt. Keinem Menschen vor ihm war jemals ein solcher Anblick erlaubt ...
Luigi lehnt sich zurück, lauscht auf den Wind und fühlt sich wie ein Gott. Er genießt in vollen Zügen die absolute Einsamkeit.
"Was hast du hier zu suchen!", die Stimme dröhnt wie ein Erdbeben.
Luigi fährt so zusammen, dass er beinahe herunterfällt. Niemals zuvor ist Schreck und Angst dermaßen in seine Glieder gefahren. Er wirft den Kopf herum und starrt ungläubig auf diesen alten Mann, in einem langen, weißen Gewand. Sein zornrotes Antlitz wird umrahmt von langem, schneeweißen Haar und einem ebensolchen langen Bart.
Er steht groß und breitschultrig fast über ihm und sieht bewegungslos auf Luigi herab. Auf dem Kopf trägt er eine merkwürdige, ziemlich große, weiße Kochmütze mit goldenen Verzierungen. Die Haare lugen unter der Mütze hervor, und wehen im Wind. In der Hand hält er einen Knüppel aus Kienspan. Luigi fällt ein, dass er zuletzt Kienspanscheite eingebaut hatte, ein ganz besonders trockenes und leichtes Holz. Auf dem langen Weg nach oben kam ihm das gut zu Pass.
" ... nichts ... ich ... ", kommt es leise aus Luigis trockenem Mund. Der alte Mann kneift die Augen zusammen. Er steht als helle Lichtgestalt vor dem nachtschwarzen Sternenhimmel und deutet mit dem Knüppel auf Luigi.
Luigi weint:" Ich wollte nur ... ich dachte ... ich hätte ... ", da fängt der Turm an zu wanken, erst ganz sachte, aber zunehmend stärker, es gibt jetzt Geräusche im Holz. Luigi hat Angst, er war sich bis jetzt ganz sicher gewesen, das der Turm niemals umstürzen könne. Und jetzt das.
"Soll das dein Lebenswerk sein?"
Dabei deutet der Fremde mit dem Knüppel auf den Turm. "Ja", spricht der arme Luigi. Ist es Dummheit oder Ehrlichkeit, er kann bei aller Angst, ein gewisses Maß an Stolz nicht verbergen.
Der Alte kneift noch mehr die Augen zusammen, beugt sich hinunter und kommt mit seinem Gesicht ganz nahe an Luigis: "Du armer Tor willst womöglich noch höher hinaus?", die Stimme klingt verschlagen.
"Ja!", entfährt es Luigi laut", und immer weiter, und immer, immer weiter!" Luigi schreit es heraus. So laut er kann, schreit er es der Gestalt ins Gesicht.
Der alte Mann mit der seltsam großen und weißen Mütze holt aus, und will mit voller Wucht den Kienspanknüppel auf Luigis Kopf schleudern. Aber Luigi kann gerade noch den Kopf einziehen, und der Scheit pfeift über ihn hinweg.
Da richtet sich der alte Mann langsam auf, rafft sein weißes Gewand hoch, geht in die Hocke, und lässt Donner und Blitz aus seinem Unterleib fahren. Mit einer solchen Wucht, dass der obere Teil des Turms wie eine Pusteblume im Sturm in seine Einzelteile auseinanderstiebt. Von oben nach unten bläht sich der Turm auf und zerfällt. Überall Holz, es wirbelt mit donnerndem Getöse wild durcheinander. Alles ist im Fallen begriffen. Luigi weiß nicht wo oben oder unten ist. Er fällt und fällt mit Gebraus durch die Sphären, und die Holzscheite schweben um ihn herum wie Schneeflocken. Luigi sieht sein Ende nahen. Er denkt ein letztes Mal an seine Eltern. Und zu den Holzscheiten, um ihn herum, gesellen sich dicke Tropfen von Tränen.
Mischa schaut mit besorgter Miene nach oben, wo der Turm in den dunkeldrohenden Wolken verschwindet. Ein Sturm zieht auf. Der Turm macht seltsame Geräusche, er stöhnt und ächzt, hier und da fallen einzelne Scheite heraus. Der Boden beginnt zu dröhnen, als der Orkan durch die Holzscheite jault. Die Tiere sind längst fortgelaufen. Großmutter steht nun angstvoll da, und weiß nicht was sie tun kann.
Wie ein rettender Engel kommt Konrad auf seinem Fahrrad angebraust. Völlig aus der Puste steht er vor der Großmutter.
"Er ist doch wohl jetzt nicht dort oben?", Mischa fällt auf die Knie und schluchzt hemmungslos. Sie wirft sich zu Boden.
Konrad hält sich einen Moment die Hände vor das Gesicht und hält inne," Ich hab's geahnt!"
Da kommt der erste Donnerschlag. Er ist so heftig, dass beide zusammenzucken. Konrad nimmt die Großmutter an die Hand und zerrt sie vom Turm fort. Kurz darauf beginnt ein Regen von Holzscheiten, ein Prasseln und Dröhnen, wie es kein Ohr aushalten kann. Konrad schafft es mit Müh und Not mit der Großmutter ins Haus und in den Keller. Durch ein winziges Fensterchen sehen sie zum Turm.
Da sieht Mischa ihren Luigi fallen.
Zusammen mit den letzten Holzscheiten, schießt Luigis Körper zu Boden. Dabei schleudern Kopf, Arme und Beine, wie bei einer Schlenkerpuppe, wild herum, bevor er aufschlägt. Mischa stößt einen grausigen, langen Schrei aus, bevor sie zusammenbricht.
Eine beklemmende Stille tritt ein. Nach einer Weile suchen die beiden die Stelle, wo Luigi aufgeschlagen sein muss. Aber nichts ist dort zu finden. Vage Hoffnung auf ein Wunder kommt auf, aber da nimmt Konrad einige Holzknüppel zur Seite und deutet auf ein Mauseloch an besagter Stelle im Boden. Die Großmutter kniet nieder und sieht, wie gelblich weißer Qualm aus dem Mauseloch strömt. Sie beugt sich vor, riecht daran.
Da schaut sie gen Himmel, und hört lange nicht auf zu schreien:" Schwefel! Der Satan hat meinen Luigi in die Hölle geholt!"
Konrad nimmt Mischa in den Arm, und versucht sie so gut er kann, zu beruhigen. Er führt sie zum Hühnerstall, räumt Scheite fort, so dass sie sich auf die lädierte Bank setzen können. Mischa starrt teilnahmslos über das Tal.
Da plötzlich entsteht ein Lichtstreifen, der sich längs des Horizontes ausbreitet und sich zwischen Erde und Himmel drängt. Er wird immer breiter und schiebt die Erde nach unten, und den Himmel nach oben. In dieser hellen Lichtfläche verschwindet das Bild des Tales, und es entsteht allmählich ein ganz neues. Das Bild des Fensters in Luigis Schlafstube. Die rote Morgensonne blinzelt hindurch. Vögel zwitschern und Mischa klappert emsig in der Küche.
Luigi reibt sich die Augen, steht auf und begibt sich auf den Hof.
"Guten Morgen Mischa!", ruft er ihr zu, als er an der Küche vorbeikommt.
"Guten Morgen Luigi!", antwortet sie fröhlich," Hast du gut geschlafen?"
Luigi antwortet nicht, sondern schaut nachdenklich auf den hohen, unfertigen Holzstapel auf dem kleinen Hügel hinter dem Haus.
Da radelt Konrad auf den Hof, ganz aufgeregt.
"Habt ihr schon gehört? In Italien soll dem Papst, bei einem seiner schlechten Gedanken, ein Kienholz direkt vom Himmel auf seinen Kopf gefallen sein!"
Schallendes Gelächter. Da nimmt Großmutter Mischa die Schnapsflasche aus dem Schränkchen und geht nach draußen.