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Ludmilla backt Stollen
Immer, wenn Ludmilla sich Anfang Dezember an den alljährlichen Christstollen machte, ging sie zuvor in die kleine Kapelle auf dem nahegelegenen Friedhof, um zu beten, dass ihr der Stollen auch dieses Jahr gut gelingen möge.
Sie wusste, dass sie viel von ihrem Schutzengel verlangte, denn es konnte eine Menge schieflaufen. Zum Beispiel, dass der Hefeteig nicht aufging und platt in der Schüssel schmollte oder dass sich ranzige Haselnüsse in den Teig mogelten, um sich vor dem grünen Tod auf dem Komposthaufen zu retten. Womöglich weigerten sich die in Rum getränkten Sultaninen, sich dekorativ zu verteilen, und sackten stattdessen auf den Boden des Stollens ab.
Ach, und die Puderzuckerschicht, nicht auszudenken, sie rutschte vom Stollen wie eine Lawine.
Um all diese Katastrophen zu vermeiden, betete Ludmilla mit Inbrunst zum Schutzengel der Christstollen.
Nach getanem Gebet machte sie sich himmlisch gestärkt und gegen alle Widrigkeiten gewappnet auf den Weg in den Supermarkt, um die Zutaten für ihr Backwerk zu kaufen. Nun konnte nichts mehr schief gehen. Dachte sie.
Das sah der Schutzengel der Fußgänger allerdings etwas anders, der sich just in dem Moment von Ludmilla löste und in die Lüfte erhob, als sie die Straße überqueren wollte. Plötzlich packte ihn jemand unsanft am Flügel und zog ihn mit kräftigem Nachdruck auf die Erde zurück.
„Sag mal, was soll das? Willst du sie vom LKW überfahren lassen?“, kreischte der Christstollenschutzengel mit sich überschlagender Stimme.
„Tja, hat diese backwütige Stollenexpertin etwa zu dir in der Kapelle Kontakt aufgenommen oder zu mir?“
„Bei dir ist doch das Gehirn umwölkt, seit wann verhängst du Todesstrafen, nur weil eine schlichte harmlose Frau mal nicht an dich denkt. Halt sofort den LKW an!“
„Pffft... darfst du Stollenwichtel mir überhaupt befehlen? Du bist niederster Rang. Einmal im Jahr ein kurzer Auftritt zur Adventszeit und sonst nix zustande bringen. Ich bin ganzjährig Tag und Nacht unterwegs, du fliegender Teilzeitschutz.“
„Wenn du nicht auf der Stelle, ... ich bring dich vor den Himmelsrat.“
„Haha, ich mach doch nur Spaß.“
Völlig auf ihre Zutatenliste konzentriert, Ludmilla befand sich auf der Straße nur vier Schritte vor dem Bordstein, hörte sie von rechts ein langgedehntes Quietschen und sah einen dunklen Schatten auf sich zurasen. Zehn Zentimeter neben ihr kam das LKW-Ungetüm dumpf schnaufend zum Stehen.
‚Komisch‘, dachte Ludmilla, ‚die Fahrbahn war doch frei, als ich sie betrat. Wo ist der denn nur hergekommen?‘
„Siehste? Nix passiert. Ich mach das öfter, dass ich eine Sekunde vor dem Aufprall den Wagen stoppe“, sagte der Fußgängerschutzengel mit blitzenden Augen und schiefem Lächeln.
„Du hast doch nicht mehr alle Federn am Flügel, solche Spiele zu spielen, was, wenn es mal schief geht? Du bist nicht der Allmächtige!“
„Du verstehst echt den Kick nicht, was das für’n Kitzel ist, das bis zur allerletzten Zehntelsekunde auszureizen. Ihr von der Backabteilung seid tatsächlich dröge wie Brot. Und hey, du schuldest mir jetzt was.“
Der Fußgängerschutzengel boxte den Christstollenschutzengel heftig in die Seite. Der stolperte nach vorne und schlug mit seinen Flügeln um sich, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, wobei sich ein paar Daunen aus seinem Gefieder verabschiedeten.
Besorgt blickte er auf die niedersinkenden weichen Flocken.
„Lass das gefälligst! Deinetwegen verliere ich wertvolle Federn. Du weißt selbst, dass die nicht nachwachsen, und dir schulde ich gar nichts.“
‚Ach guck mal‘, dachte Ludmilla fasziniert, ‚die ersten Schneeflöckchen treffen ein.‘
„Ohoho doch, du schuldest mir was. Ich hab grad deinem Backwahn in Frauengestalt das Leben gerettet. Und deine bekloppten Federkiele kannst du ja wieder ankleben, machen alle so.“
„Nee, du wolltest sie umbringen, schon vergessen? Dir bekommen die ewigen Abgase nicht und Federn ankleben, wie sieht das denn aus? So geflickt lauf ich nicht rum.“
„Ich sag nur eins: Deine Ludmilla ist noch lange nicht mit ihrem Gepäck zu Hause angekommen. Da gibt es noch ein paar interessante Straßen, die sie überqueren muss.“
„Was willst du?“, seufzte der Christstollenschutzengel.
„Spaß haben, bisschen mitbacken, na, dabei sein und so.“
„Dann komm, aber wehe, du tust ihr weh!“
Ludmillas Wohnküche hatte eine gemütliche Eckbank, vor der sich ein geräumiger Esstisch befand.
Sie wuchtete einen Einkaufsbeutel auf diesen Tisch, die Tasche mit dem ganz schweren Inhalt ließ sie zu Boden sinken und angelte aus ihm je eine Packung Zucker und Mehl.
„Lass mal spitzeln, was sie so eingekauft hat“, sagte der Fußgängerschutzengel und stibitzte den Hefewürfel, den er sich blitzschnell unter seinen Flügel klemmte.
Kopfschüttelnd betrachtete der Christstollenschutzengel das Geschehen. Ludmilla hatte bereits alle ihre Einkäufe auf einer Seite des Tisches gestapelt und sogar den Beutel umgekrempelt, um doch noch die Hefe zu finden. Nun blickte sie ratlos drein.
„Das finde ich nicht lustig“, sagte der Christstollenschutzengel zum Fußgängerschutzengel, „leg ihr sofort den Würfel auf den Tisch!“
„Nö, der Spaß beginnt doch erst, wenn sie ...“ Aber da hatte sich bereits der Christstollenschutzengel dicht vor ihm aufgebaut und geschwind mit zielgerichtetem Zeigefinger den Hefewürfel aus dessen Flügelbeuge gedrückt.
‚Ach, da liegt er ja‘, staunte Ludmilla und hob das Würfelchen vom Boden auf, tat es in eine kleine Schale, fügte etwas lauwarmes Wasser und einen Esslöffel aus der frisch geöffneten Zuckerpackung hinzu, die danach sofort an der Kante des Esstischs umfiel, so dass der Zucker munter auf den Küchenfußboden rieselte.
„Mann, sind deine Streiche dämlich. Jetzt wirst du gleich die Küchenbank mit Mehl bestäuben und Haselnüsse über den Boden kullern, stimmts?“, gähnte der Christstollenschutzengel gelangweilt an den Türrahmen gelehnt, „du kannst vielleicht auf die Zehntelsekunde Autos stoppen, aber hier gelingt dir nur langweiliger Kinderkram.“
Ludmilla hatte in einer großen Schüssel die Teigzutaten mitsamt dem Hefeansatz verrührt. Ihre Hausschuhsohlen knirschten beim Zertreten des Fußbodenzuckers. Zum Glück hatte die Restmenge in der Packung für den Stollen ausgereicht. Sie begann den Klumpen auf der bemehlten Tischfläche zu kneten. Ihre Fäuste flogen nur so in den Teig, den sie geschwind, wenn er plattgeboxt war, wieder zu einem dicken Paket zusammenklappte, um ihm wieder und wieder kräftige Püffe zu verpassen.
„Beleidigst du mich grad?“, fragte der Fußgängerschutzengel mit drohendem Blick zur Küchentür, „und willst behaupten, du hättest was drauf? Dann zeig doch mal was, du Windbeutel.“
„Ich könnte, wenn ich wollte, aber ich gebe Straßenbanditen wie dir nicht noch 'ne Vorführung.“
„Pah, wusst ich‘s doch, du bist nur eine hohle Teigtasche, nix kannste.“
Ludmilla hatte in der Zwischenzeit den Teig wieder in die große Schüssel gepackt und ein Handtuch drübergelegt, damit er keine Zugluft beim Aufgehen bekam. Die Küche hatte sie verlassen, denn der Stollen benötigte ihre Dienste in der nächsten Stunde nicht.
„Einen so aufbrausenden Typ wie dich hätte ich besser in der Gosse stehengelassen. Wenn du wüsstest, was ich hier alles anrichten könnte“, sagte der Christstollenschutzengel.
„Tja, wenn Mehlbeutel Andeutungen absondern, wird allenfalls die Sicht trübe, du abstürzender Tortenrand. Beweis es endlich. Aber du bist so unwichtig wie ein Kekskrümel am Mundwinkel.“
„So, jetzt reicht es mir, dir werde ich es zeigen und dir dein Lästermaul stopfen. Du wirst gleich sehen, was passiert.“
Und noch während der Fußgängerschutzengel sich vor Lachen schüttelte, was allerdings etwas hohl klang, denn so richtig Spaß hatte er grad nicht, hatte der Christstollenschutzengel wieder Position im Türrahmen bezogen, ein paar Formeln gebrabbelt und den Hefeteig in der Schüssel so kräftig in die Höhe wachsen lassen, dass das Handtuch zur Seite flog.
„Ist das alles? Ich bin schwer beeindruckt“, kicherte der Fußgängerschutzengel, nun hoch amüsiert, schlug sich vor Lachen auf die Schenkel und rutschte auf dem Zuckerteppich aus. Immer noch belustigt, saß er auf dem Küchenfußboden, seine Flügel links und rechts hinter ihm aufgestellt, als würden sie ihn stützen. Der Teig wuchs, hatte sich über alle Seiten des Tisches ausgebreitet und den Boden erreicht, wo er sich geschwind, wie eine in diesen Raum gekippte Betonladung, ausdehnte. Verdutzt blickte der Fußgängerschutzengel auf die Teigmassen, die über seine Beine zogen, seine Flügelspitzen bereits eingeteigt hatten und nun Kurs auf seine Hüften nahmen.
„Verdammt, willst du mich mit dem Zeug ersticken? Hör auf damit!“
Unwirsch griff er an seinen Bauch, um dort den Teig wegzuschieben, aber dieser stieg unbeirrt an ihm hoch, legte sich schwer auf seine Brust und überzog die Flügel, die sich unter dieser Last zusammenfalteten.
„Es reicht!“, wütete der Fußgängerschutzengel „ich hab’s kapiert, kannst aufhören, hörst du?“
Der Christstollenschutzengel reagierte nicht. Er hatte aus seiner Hosentasche einen Borstenpinsel gezogen, mit dem er in Seelenruhe sein Flügelgefieder säuberlich abbürstete.
Der Teig hatte den Hals des Fußgängerschutzengels erreicht und drückte unangenehm gegen seine Gurgel.
„Willst du mich umbringen? Ich krieg keine Luft mehr.“ Die Stimme des Fußgängerschutzengels klang panisch.
„Solange du noch was sagen kannst, hast du auch genügend Luft. Aber vielleicht solltest du nicht so viel reden, wenn sich der Teig erst mal in deinem Mund ausgebreitet hat, wird das mit dem Sprechen schwierig.“
Der Fußgängerschutzengel reckte seinen Hals, um etwas Abstand zum bereits vor dem Kinn befindlichen Teig zu erringen und keuchte:
„Stopp das! Mach endlich.“
„Das kann ich gar nicht. Ich hab es ja auch nicht herbei gerufen.“
„Was? Du lügst, du Windhund!“, stieß der Fußgängerschutzengel mit letzter Kraft hervor.
Er wusste, jetzt musste er sich beeilen, die Losung auszusprechen, wenn er aus dieser Lage befreit werden wollte. Jeder Schutzengel kannte sie. Wer die magischen Worte sagte, bekam garantierte rasche Rettung. Aber der Preis war eine gründliche Untersuchung des Vorfalls. Und dabei waren schon so manchem Schutzengel die Flügel gehörig gestutzt worden.
„Himmel hilf!“, röchelte der Fußgängerschutzengel und der Stollenteig schrumpfte augenblicklich und zog sich in seine Schüssel zurück.
Als Ludmilla nach einer Stunde wieder die Küche betrat, begrüßte sie ein gut aufgegangener Hefeteig unter dem Handtuch, der sogleich nochmals von ihr durchgeknetet wurde.
'Seltsam', dachte Ludmilla, 'wo kommen bloß die Federn her, ich ziehe schon die Dritte aus dem Teig.'