Lucy
Die leichte Sommerbrise strich einzelne Haarsträhnen in ihr Gesicht und zog sie aus dem Knoten hinter ihrem Kopf. Antonia strich sie sich hinter ihre Ohren. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, die Hitze klang in einem warmen Abend aus, der Himmel war wolkenlos und strahlend blau, die Luft war erfüllt von Vogelgesang und dem Lachen der Kinder unten am See. Doch das alles war nicht wichtig, war nur Hintergrundmusik zu der wahren Schönheit des Gartens. Es war Antonias engste Freundin, die den Abend wahrlich schön machte und ihre Nächte schlaflos.
Lucia, ihre Lucy, mit ihren kastanienbraunen Wellen und glitzernden Augen. Sie ließ sich von Antonias jüngeren Schwestern gespielt widerwillig zu einem übermütigen Tanz überreden, hüpfte mit den Mädchen im Kreis, bis sie schließlich zu viel bekam und sie lachend wegscheuchte. Antonia saß auf einem flachen Hügel nur wenige Meter von der Terrasse des Landhauses entfernt, und beobachtete das Spiel mit einem wehmütigen Lächeln.
Sie wusste schon lange, eigentlich seit sie denken konnte, dass sie niemals einen Mann würde lieben können, auch wenn sie es immer wieder versucht hatte. Ihre Aufmerksamkeit galt immer Frauen, aber das wusste niemand außer ihr. Sie wollte es Lucy erzählen, wollte ihr Geheimnis mit jemandem teilen, doch jedes Mal, wenn sie es versucht hatte, hatte sie der Mut verlassen. Sie fürchtete, dass sie ihre Freundin verlieren würde, und dass sie erraten würde, was für Gefühle sie hegte. Sie seufzte. Sie fürchtete auch, nie wahre Liebe, glückliche Liebe, zu erfahren, dass sie für immer allein sein würde, oder schlimmer noch, heiraten würde und eine Lüge würde leben müssen.
Lucy hatte die Kleinen nun endgültig abgeschüttelt und kam nun den Hang hinauf, ließ sich neben ihrer Freundin ins Gras fallen und stützte sich auf die Ellenbogen. Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken und schloss die Augen. Ihr Haar war offen und floss in glänzenden Wellen auf den nahen Boden. Lucy war immer neidisch auf Antonias goldenes Haar gewesen, fand ihr eigenes langweilig, doch Antonia konnte sich kaum etwas schöneres, wärmeres vorstellen als das rötliche Braun und die dazugehörenden schokoladenfarbenen Augen. Lucy sah sie nachdenklich an und riss sie aus ihren stummen Schwärmereien.
„Du bist so still in letzter Zeit… Ist alles in Ordnung?“
Antonia öffnete den Mund, spielte wie so oft mit dem Gedanken, ihr die Wahrheit zu sagen, oder zumindest einen Teil, aber dann schüttelte sie nur den Kopf. „Es ist nichts, wirklich.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. Lucy setzte sich auf und sah sie eindringlich an.
„Das glaube ich dir nicht, sag schon!“ Drängte sie, „Ist es ein Junge? Bist du etwa verliebt?“ Sie rückte aufgeregt näher, und Antonia konnte nicht anders als nervös zu lachen. Lucys Gesicht war zu nah an ihrem, sie könnte sie küssen wenn sie wollte. Antonia senkte den Kopf und versteckte ihr Gesicht. Natürlich verstand Lucy es falsch. Für einen Moment schwieg sie, dann lehnte sie sich wieder zurück. „Warum erzählst du mir nichts mehr? Vertraust du mir etwa nicht?“ Sie klang aufrichtig verletzt, und Antonia sah sie erschrocken an.
„Doch, natürlich vertraue ich dir! Aber ich kann es einfach nicht sagen…“ Sie biss sich auf die Lippe. Lucy seufzte, „Na schön.“ Ihr Gesicht hellte sich wieder auf als sei nichts geschehen, „Essen sollte bald fertig sein, lass uns rein gehen, wir müssen uns noch frisch machen.“ Sie rappelte sich auf und strich ihre Röcke glatt, bevor sie Antonia die Hand hinhielt und ihr aufhalf. Lucy hatte ein gutes Zeitgefühl; als sie die Terrasse betraten kam ihnen Antonias Mutter entgegen um ihnen zu sagen, dass es bald Essen gäbe. Sie tadelte die Mädchen, dass sie die Kleinen alleine am See gelassen hatten und schickte sie streng nach oben um sich fertig zu machen.
Antonia ging in ihr Zimmer und Lucy in das Gästezimmer das daneben lag. Sie blieb über den Sommer bei Antonias Familie während ihre Eltern und ihr älterer Bruder nach Amerika gegangen waren, um ihren Vater auf diplomatischer Mission zu begleiten. Das Meer war eines der wenigen Dinge die ihr Albträume bereiteten, und so hatte sie ihre Familie überzeugen können, sie zurück zu lassen; es war ja nur für wenige Monate. Antonia war froh, ihre beste Freundin bei sich zu haben, doch mit jedem Tag schienen ihre Gefühle und ihre Frustration stärker zu werden und sie hatte zunehmend Schwierigkeiten, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Zumal sie normalerweise mit all ihren Problemen zu Lucy ging.
Sie setzte sich vor den Spiegel ihres Schminktisches und genoss es, als ihre Zofe ihre Frisur löste und vorsichtig ihr Haar bürstete. Durch den Spiegel sah die ältere Dame sie besorgt an. „Was ist nur los Kind?“ Antonia begegnete kurz ihrem Blick und schlug dann die Augen nieder. Maria hatte sich fast seit ihrer Geburt um sie gekümmert und war ihr eine zweite Mutter, vielleicht sogar ein wenig mehr als ihre eigentliche Mutter, die sehr um Status und den Ruf der Familie besorgt war. Wie zuvor bei Lucy schüttelte Antonia nur den Kopf, aber dieses Mal spürte sie erschrocken, wie ihr Hals sich zuschnürte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte sich zu beherrschen, doch die sanften mütterlichen Berührungen Marias machten sie emotional.
Die Frau sagte nichts, legte nur die Bürste ab und drückte Antonia an sich, strich ihr beruhigend über den Kopf. Antonia schniefte und schmiegte sich in die weiche Umarmung.
„Kannst du es mir denn wirklich nicht sagen?“ Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf und begann zu schluchzen, konnte sich nicht mehr beherrschen jetzt, wo der Wall einmal gebrochen war. Für eine Weile saß sie nur da und ließ sich von der fülligen Frau halten und trösten, dann sammelte sie sich langsam wieder. Maria nahm ein frisches Taschentuch und trocknete Antonias Tränen.
„Bestimmt wird alles gut werden…“ sagte sie sanft und seufzte, als Antonia wieder vehement den Kopf schüttelte.
„Das wird es nicht, ganz sicher nicht!“
„Woher willst du das denn wissen?“
„Ich weiß es einfach.“
Maria schnalzte mit der Zunge, „Na, wer wird denn so pessimistisch sein! Du bist so ein hübsches Mädchen, ich bin mir sicher, wer auch immer dir solchen Kummer bereitet würde dich gerne glücklich machen, wenn du es nur zulässt.“ Antonia sah überrascht zu ihr auf, und die Frau lachte. „Glaubst du wirklich ich erkenne ein gebrochenes Herz nicht wenn ich eins sehe? Was immer du für dich behältst, ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass andere ähnliche Geheimnisse haben könnten?“ Woher wusste sie…? Oder war es Zufall? Während Antonia noch versuchte, die Situation einzuschätzen, drehte Maria sie mit sanfter Bestimmtheit in ihrem Stuhl herum und begann wieder, ihre Haare zu ordnen.
Sie verbrachten die restliche Zeit ohne ein weiteres Wort zu sagen. Antonia war in Gedanken versunken. Natürlich hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn Lucy ihre Gefühle erwiderte, hatte nach Zeichen gesucht, doch sie hatte es nie für eine echte Möglichkeit gehalten. Warum auch? Sie wusste von niemandem außer sich selbst der solche Gefühle für ein Mitglied des eigenen Geschlechts hatte. Sie wusste nicht, ob es normal war, oder ob es mehr Menschen wie sie gab, oder warum sie so empfand. Sie bemerkte kaum, dass sie fertig war bis Maria ihr bedeutete aufzustehen. Bevor sie das Zimmer verließen legte sie eine Hand auf die Wange des Mädchens.
„Man ist oft nicht so allein wie man meint.“, Antonia schluckte und nickte tapfer.
Im Flur kam ihnen Lucy entgegen. Sie hatte ihre Haare nun ebenfalls hochgesteckt und besser gebändigt als sonst. Sie trug sie gerne offen, auch wenn ihre Mutter immer wieder betonte nur junge Mädchen trugen sie so, für eine Frau gehöre es sich, ihre Haare zusammenzubinden. Sie lächelte Maria zur Begrüßung zu und gemeinsam gingen sie die breite Treppe herunter. Die Dienerin verschwand in die Küche um dort zu helfen und später ebenfalls zu essen, und Lucy hakte sich bei Antonia ein als sie in das Esszimmer gingen. Antonias Familie war gerade im Begriff sich zu setzen, sie kamen gerade pünktlich.
Kaum das sie sich gesetzt hatten wurde das Essen gebracht und man wartete geduldig, bis alles verteilt war. Sie hatten gerade begonnen zu essen als Antonias Mutter sich räusperte und die Aufmerksamkeit ihrer Tochter auf sich zog.
„Antonia, Liebling, du wirst bald neunzehn…“ Antonia nickte heftig und leerte schnell ihren Mund bevor sie sprach, „Darf ich wieder einen Ball haben? Es war so schön letztes Jahr!“ Ihre Mutter nickte und machte eine unbestimmte Geste mit der Hand.
„Ja, natürlich. Aber das ist eigentlich nicht worauf ich hinaus möchte.“ Sie warf einen kurzen Blick auf Lucy; die Mütter beider Mädchen waren ebenfalls eng befreundet, und so störte sie sich nicht daran, dass sie anwesend war.
„Du bist kein Kind mehr. Es wird langsam Zeit, dass du dein eigenes Leben und deine eigene Familie beginnst.“ Antonia ließ ihre volle Gabel sinken und starrte ihre Mutter entgeistert an. Sie sollte heiraten?
„Erinnerst du dich an Wilhelm? Er ist gerade einundzwanzig geworden und ihr habt euch doch so gut verstanden, ganz abgesehen davon, dass er ein wirklich gutaussehender junger Mann geworden ist… Wie ich höre reißen sich die Mädchen geradezu um ihn.“ Antonia erinnerte sich gut an ihn, er war wirklich gut aussehend und freundlich, intelligent… Doch ein Leben mit ihm? Ihr Blick fiel auf Lucy; nein, das konnte sie nicht, niemals. Alles was sie wollte saß neben ihr, ein wenig peinlich berührt, und warf ihr mitleidige Blicke zu.
„Dein Vater und ich haben mit seinen Eltern gesprochen, sie waren nicht abgeneigt. Und ihr Anwesen ist nicht weit von ihr, es ist wirklich ideal.“ Sie pausierte und sah ihre Tochter eindringlich an. Antonia hatte inzwischen ihr Besteck abgelegt und wischte sich mit einer Stoffserviette über den Mund, warf sie ungehalten auf den Teller. Ihr war der Appetit vergangen.
„Nein.“ Sie sah ihrer Mutter fest in die Augen.
„Antonia, denk doch darüber nach, du musst dich ja nicht sofort entscheiden. In drei Wochen kommt er aus Frankreich zurück, dann kannst du ihn besuchen, vielleicht gefällt er dir ja!“
„Nein!“ wiederholte Antonia nachdrücklich. „Ich habe mich jetzt entschieden. Ich werde ihn nicht heiraten.“ Sie schob schwungvoll ihren Stuhl zurück und ignorierte die Rufe ihrer Eltern als sie aus dem Raum stürmte. Der bloße Gedanke an Heirat erfüllte sie mit Panik. Sie rannte die Treppen hoch und in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich ab. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und sie war außer Atem, ihr Brustkorb drückte sich gegen die Enge des Korsetts. Sie zog umständlich ihr Kleid aus und bekam Krämpfe in den Armen als sie mit den Schnürungen kämpfte. Normalerweise machte sie das nicht allein.
Nun nur noch mit ihrem Unterkleid bekleidet atmete sie tief ein und ließ ihre Lungen sich mit Luft ausdehnen als sie das Korsett endlich zu Boden fallen ließ. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und warf sich schluchzend auf das große Bett in der Mitte des Zimmers. Antonia hatte immer gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, aber bisher hatte sie den Gedanken daran immer schnell verdrängt. Wie konnte sie jemals einen Mann heiraten? Seine Kinder tragen, sie… zeugen? Es gehörte sich zu heiraten; wenn sie ledig blieb würde man denken, dass mit ihr etwas nicht stimmte, sie würde ihrer Familie schaden…
Sie vergrub den Kopf in dem Berg von Kissen am Kopfende des Bettes als ein leises Klopfen an ihrer Tür ertönte.
„Antonia?“ Es war Lucy, scheinbar waren ihre Eltern zu dem Schluss gekommen, dass es besser sei, wenn sie erst einmal ein wenig Abstand zu ihr hielten.
„Antonia, mach bitte auf.“ Sie zögerte, dann kletterte sie aus dem Bett und öffnete die Tür. Lucy schlüpfte durch den Spalt und drehte hinter sich wieder den Schlüssel um. Sie schloss ihre Freundin in die Arme, dann führte sie sie zum Bett und die Mädchen setzten sich. Lucy nahm Antonias Hand in ihre und sah sie mitleidig an.
„Meine Eltern reden auch vom Heiraten… Zum Glück haben sie noch niemanden gefunden der meinem Vater gut genug ist.“ Sie zögerte. „Ist es das was dich in letzter Zeit so bedrückt?“ Antonia sah sie an und erinnerte sich an die Worte Marias. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und brachte ein wenig Abstand zwischen sie beide.
„Ja… und nein. Ich wusste nicht, dass meine Eltern schon so genaue Pläne hatten, aber natürlich war mir klar, dass es nun jeden Tag so weit sein musste. Aber…“ Sie atmete tief durch und merkte wie sich ihr Hals wieder zuschnürte, „Wenn ich dir sage warum ich wirklich so unglücklich bin wirst du bestimmt nicht mehr meine Freundin sein wollen.“ Sie brach nun doch wieder in Tränen aus, „Und ich möchte dich nicht verlieren!“ Lucy sah sie schockiert an.
„Ich verspreche dir, was immer es ist, ich werde immer deine Freundin bleiben!“ Lucy drückte zur Bekräftigung noch einmal ihre Hand und Antonia wollte ihr so gerne glauben. Sie nahm ihren Mut zusammen und legte sich die Worte vorsichtig zurecht.
„Der Grund, warum ich nicht heiraten möchte ist, dass ich niemals einen Mann lieben könnte.“ Lucy umfasste ihre Hand mit beiden Händen, „Aber das weißt du doch nicht! Nur weil du dich nicht vorher in ihn verliebst, bedeutet das doch nicht, dass ihr euch nicht lieben lernen könnt!“
Antonia schüttelte den Kopf und entzog ihr ihre Hand. „Du verstehst nicht. Ich werde niemals einen Mann lieben können… Ich… habe immer nur Mädchen geliebt.“ Sie hielt die Luft an und wagte nicht von dem geblümten Muster ihrer Tagesdecke aufzuschauen. Die Stille zog sich, ohne dass eines der Mädchen sich bewegte und schließlich hielt Antonia es nicht mehr aus. Sie suchte ihren Blick, „Sag doch was!“ Lucy sah sie lange an. Dann atmete sie zitternd aus und es war an ihr, unsicher zu sein.
„Gibt es denn… jemanden?“ Antonia schluckte und nickte langsam. Sie beugte sich zögerlich vor und hielt inne. Ihr Herz raste in ihrer Brust und ihr Magen flatterte als sie sah wie Lucy ebenso vorsichtig den Abstand zwischen ihnen verringerte.
Sie verharrten beide, unsicher, dann legte Antonia eine Hand an Lucys Gesicht und zog sie zu einem scheuen Kuss zu sich heran. Instinktiv schlossen sich ihre Augen und sie legte den Kopf schief um sie besser zu erreichen. Sie spürte, wie Lucys Lippen sich gegen ihre bewegten und rückte näher an sie heran ohne den Kuss zu unterbrechen. Sie hatte oft von diesem Moment geträumt, aber selbst in ihren Gedanken war es nie so rein, so wunderschön gewesen wie diese Realität. Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch und ihr Atem stockte, sie fühlte sich leicht und frei und war zugleich mehr denn je an ihr körperliches Umfeld gebunden.
Sie löste den Kuss um Lucy in die Augen zu sehen. Sie wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Sie strich ihr über die Wange und küsste sie wieder, etwas stürmischer dieses Mal. Sie lehnte sich nach vorne um ihr näher zu sein und rutschte prompt die Bettkante herunter. Die Mädchen lachten, und Lucy krabbelte rückwärts zum Kopfende des Bettes, zog Antonia wieder zu sich. Sie schloss ihre Freundin in die Arme und versiegelte ihre Lippen zu einem erneuten Kuss. Antonia stützte sich mit einem Ellenbogen auf der Matratze ab und hatte den anderen Arm um Lucy gelegt, spielte mit ihren Haar und strich an ihrem Hals und ihrer Schulter entlang.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so selig gewesen war. Sie war nicht allein, Lucy empfand wie sie. Es fühlte sich so richtig an, ihre Lippen aufeinander, in den Armen der anderen, es war alles, was sie jemals brauchte.
Sie wünschte sich, dass dieser Moment nie enden würde.