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Luchsaugen
Das Schaf blökte noch einmal auf, als der graue Schatten wie ein Blitz auf es zuraste, dann röchelte es und verstummte für immer.
Der Wolf leckte sich nach dem ausgiebigen Mal die Lefzen. Endlich mal wieder satt. Blieb sogar noch was übrig. Na schön. Und in der Nacht, unter sternklarem Himmel, begrub er die Reste des Schafes beim Hollerbusch. Später würde er wieder kommen, nahm er sich vor und trabte mit vollem Bauch davon.
Vier Augen beobachteten den Vorgang. Gelbe Luchsaugen zwinkerten im Dunkeln. Eine Schlange bewegte den Kopf hin und her. Da kam schnüffelnd ein verwilderter Hund vorbei. Hier gab es etwas Leckeres, das konnte er deutlich riechen. Die Schlange zischelte vor sich hin und schlängelte sich so schnell sie konnte zum Bären ...
„Hohes Gericht.“ Die Schlange zischelte zwiespältig. „Ich habe es deutlich gesehen, der schändliche Mord an dem Schaf, der entgegen dem ausdrücklichen Gebot des Hohen Rates der Tiere in frechem Übermut begangen worden ist und der die Menschen wahrscheinlich zu einer grausamen Vergeltungsaktion verleiten wird, wurde von diesem ... diesem ...Subjekt begangen, welches das Wort „Tier“ nicht verdient!“
Ihr Kopf schnellte in Richtung Anklagebank, wo winselnd der Hund hockte und bei den Worten der Schlange den Schwanz einzog.
Der Richter, eine betagte Eule, sagte: „Ihr Zeuge, Herr Verteidiger.“
Der Dachs zuckte die Achseln. Die Beweislage war aber auch zu eindeutig. Vom Bären beim Auffressen des Opfers ertappt und gestellt. Außerdem die Blutspuren an seiner Schnauze und jetzt noch ein Tatzeuge.
„Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.“
Die Schlange verließ den Zeugenstand, nicht ohne noch einmal einen schrägen Blick auf den Hund zu werfen. Der würde keines ihrer Eier mehr stehlen. Mochte er in der Hölle schmoren.
Gelbe Luchsaugen zwinkerten.
Der Graue lehnte sich zurück. Nun konnte eigentlich nichts mehr passieren.
Tatsächlich war der Rest der Verhandlung nur noch Formsache. Die Elster, welche den Hund sowieso noch nie hatte leiden können, legte sich als Anklägerin mächtig ins Zeug, flatterte mit den Flügeln und listete in unwiderlegbarer Logik noch einmal die Beweiskette auf. Danach mühte sich der Dachs zwar redlich, aber was konnte er schon tun.
Gelbe Luchsaugen zwinkerten.
Die Eule verkündete das Urteil.
Tod durch den Strang.
„Gnade“, jaulte der Hund, als ihn die Schergen wegschleppten, „ich bin unschuldig.“
Doch seine Worte beeindruckten niemanden.
Niemanden?
Gelbe Luchsaugen zwinkerten. Der Luchs wollte rufen, nein schreien: Haltet ein! Er ist unschuldig. Er hat recht.
Er öffnete den Mund, doch nur ein leises Schnurren entrang sich seiner Kehle. Er konnte es nicht.
Dazu war die uralte Feindschaft zwischen Katze und Hund einfach zu stark.