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Lubov - Nadezhda - Vera
"Denn wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr sagen zu diesem Berge: Heb dich dorthin!, so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein."
Matthäus 17, Vers 20
Lubov’.
Ein Gespräch? Vielleicht nur ein kurzes Angaffen. Skype! Mit seiner Mutter und seiner Familie. Schon vorbei, aber noch in seinen Ohren! Auf seiner Netzhaut! Nicht ganz verklungen. Zur schweren "Verdauung" verpflichtend: diese von der gnadenlosen Kälte und Hunger geplagten Blicke der Kinder, der alten Mutter und der Ehefrau, die ihm jetzt nach so langer Zeit so fremd vorkam. Die Blicke gingen ihm tief unter die Haut, nagelten ihn schmerzhaft an das längst verblasste Holz der Stuhllehne fest. Dann weiter! Pressten ihn gegen die kargen Tapeten. Alles - jeder Gegenstand im Raum, jede Tüte, jedes Kleidungsstück, jeder Krümel auf dem Tisch - wurden von den gefräßigen Blicken aus dem Bildschirm gnadenlos zerteilt, zerstückelt und verschlungen.
Sie lächelten ihn müde an. Sie flüsterten leise oder riefen laut „Wir lieben dich! Wir vermissen dich! Wir warten auf dich!“ Er hörte aber nur: "Wir brauchen dich und dein Geld, ein Opfer - dein ganzes Leben! Für uns! Die dich so lieben!"
Er lächelte noch sein schwaches „Ich liebe euch auch!“ zurück, sein Blick würdigte aber keinen einer Berührung, außer eines vertrauten Gesichtes. Ganz unten links - am Bildschirm. Ein Gesicht, auf den nervös zuckenden Lippen die Worte „Ich liebe euch auch...“ wie einen Fluch ausstoßend.
Nun saß er da. Der Gang seiner Gedanken erlahmte. Ins Zimmer stürmten seine Zimmernachbarn. Bunthäutig, buntzungig , laut, mit Angst und Hass, mit tiefen Wunden und geballten Fäusten, mit Flüchen und Spucke im Kopf und auf der Zunge. Sie riefen weder durstig noch hungrig nach ihm „Wir lieben dich!“. Nicht mal „Wir brauchen dich!“. Die Spucke und die vertrockneten magensaftträchtigen Pfützen auf dem Boden, der Hass in den Herzen hatten nichts mehr zu sagen.
Nadezhda.
Er fluchtete. Weg, nach draußen, in die frische Luft. Er hatte niemanden und nichts im Leben! Nur die hungrigen Schnäbel zu Hause. Fern und doch so nah: dank Skype! Und noch sein Leben!
Plötzlich. Er wusste es. Was zu tun war! Er lief und lief. Angsterfüllt, vom dunklen Schatten der Realität verfolgt. An den unzähligen Geschäften, durch die vollen Gassen und Straßen, an bunten und leuchtenden Werbungsschildern vorbei, die ihm alles versprachen: Glück und Reichtum, Gesundheit und Liebe, weiße Zähne und schwarze Haare! Die Zukunft - und vor allem die Vergesslichkeit! Die Vergeßlichkeit gegen den Schatten der Realität! Gegen seine Vergangenheit! Doch er wollte sie nicht!
Er blieb vor einem Spielzeuggeschäft stehen. Ging hinein! Kaufte ein Spielzeug - eine Faschingspistole! Für sich! Für seine Familie!
Vera.
„Sein“ Zimmer war leer. Nur die Spucke auf dem Boden und die dicke, von der Hoffnungslosigkeit durchtränkte Luft waren geblieben.
Die Bettkante, schart wie eine Rasierklinke. Er saß da. Mit seinem Blick einen unbestimmten Punkt auf der Decke fixiert. Wie im Gebet! Aus seinem Mund kam nur das Wort Vera geflüstert.
V E R A!
Das war sein Lösungswort. Keine Spur vom Schatten der Realität, von den hungrigen Schnäbel zu Hause, von der fremden Ehefrau, von der sterbenden Mutter. Nur das vertraute freundliche Gesicht mit mehr Sicherheit in den Augen und den Worten „Ich liebe euch auch!" Er stand abrupt auf, verließ entschieden das Zimmer, das Haus.
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Nun stand er da! Seine Hosentaschen, seine Jacke, eine handliche Sporttasche auf der Schulter - mit Geldscheinen erschwert!
Er stand da, als würde er sich noch etwas überlegen. Sein inneres Auge rang mit frischen Bildern - voll angsterfüllter Blicke! Ein Damenstrumpf über sein Gesicht gezogen. Seine vierte Tankstelle - heute.
Mit dem Wort VERA auf der Zunge - routiniert - stürmte er hinein! Vorbei an den unzähligen Zeitschriften mit Zukunft, Gesundheit, Hoffnung und käuflicher Liebe, an den belegten Brötchen und Würstchen, Motorölen und Kühlflüssigkeiten! Direkt zum Berg! Zum neuen Berg, den er jetzt versetzen wird, mit seiner Wunderwaffe und dem Wort Vera wie ein Fluch ausstoßend.
Er zielte auf den Kopf! Vorbei an der verschlissenen Lederjacke, an den vielen Tätowierungen am Hals - direkt auf die Augen! Auf die Augen - direkt! So wirkte es besser! Sie kamen ihm überraschend sehr vertraut vor. Wie die Augen dieses vertrauten Gesichtes vom Bildschirm mit den Worten "Ich liebe euch auch", ohne Hoffnung, großzügig vermengt mit einer Ladung Angst und Panik.
Er brüllte etwas, zielte erneut auf das fremde Gesicht! Warf die Tasche auf den Tresen. Schaute zu, wie der Berg in Bewegung kam, und das Geld - routiniert - aus der Kasse in die Tasche wanderte. Wieder auf die Augen zielen! Dann noch einen kurzen Blick in die Tasche hineingeworfen… Da sah er plötzlich Sterne!
Eine tätowierte Faust traf ihn erneut am Kopf und entriss ihm anschließend seine Waffe.
Er konnte noch stehen. Spürte aber den Boden unter den Füßen nicht mehr. Alles bebte in und um ihn herum. Er fiel trotzdem nicht um. Sein Blick tastete sich langsam vom Boden zum bärtigen Mann hinter dem Tresen, der jetzt die Pistole auf ihn gerichtet hielt und brüllte: Jetzt, Freundchen, Hände hoch, wir warten nun auf die Polizei!
Taumelnd blickte er in die Augen seines Gegenübers und schien dort zu seiner Überraschung nicht mehr Angst und Panik, sondern Mitleid zu sehen, vermengt mit einer großen Ladung Hoffnung und!..
Sein Atem stockte! Er zitterte am ganzen Körper wie auf dem elektrischen Stuhl. Ohne nachzudenken, riss er beide Hände hoch und blieb wie angewurzelt stehen… mit dem automatisch entsprungenen Wort VERA auf den Lippen!