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Lotto
Heinrich traute seinen Augen nicht. Er putzte sich seine Brille zum zweiten Mal. Kein Zweifel, die Zahlen stimmten überein. Er hatte gewonnen. Hektisch legte er die Zeitung weg und nahm sie wieder auf - las erneut die Zahlen. Unruhig stand er auf und lief in die Küche. Dort kramte er seinen Lottoschein hervor. Kein Zweifel - er hatte sechs Richtige mit Zusatzzahl. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Glück!
Seltsamerweise überkam ihn keine Freude. Er hatte immer daran gedacht, was er sich alles leisten würde, wenn er im Lotto gewänne: ein eigenes Haus, einen Sportwagen, eine Weltreise - womit die Werbung immer so schön lockte. Doch jetzt hatte er gewonnen und das einzige, was er verspürte war ein leichtes Kribbeln im Rücken. So musste sich ein Mensch fühlen, den ein Tiger beobachtet. Er sehnte sich im Augenblick nach seiner Frau, doch die war zur Zeit auf Schulung und kam erst am Freitag wieder. Fünf Tage, fünf lange Tage bis er sie wiedersah. Er musste warten, bis sie ihn anrief, und das konnte noch bis heute Abend dauern. Doch das unheimliche Gefühl wurde schlimmer. Oft hatte er von Leuten gehört, die ihrem Lottogewinn nicht verkrafteten und durch das viele Geld in tiefe Depressionen fielen oder gar verrückt wurden. Aber das war es nicht - er hatte Angst. Irgend etwas sagte ihm, dass er keinen Hauptgewinn im Lotto bekommen sollte. Natürlich fragte er sich warum er dann überhaupt Lotto spielte - wahrscheinlich war Hoffnung der plausibelste Grund. Wenn man Lotto spielte hatte man immerhin die Hoffnung, dass man eines Tages, falls man gewann, sein Leben radikal ändern konnte. Es waren eindeutig zu viele "Wenns" und "Falls" in diesem Gedanken.
Er hatte sich immer gewundert, warum meistens ältere Menschen im Lotto gewannen. Jedes Mal, wenn er die Zeitungsartikel über die glücklichen Gewinner las, waren das Rentner oder Leute, die sowieso schon genug Geld hatten. Selten stand dort etwas von einem Studenten oder Arbeitslosen, der auch mal Glück gehabt hat. Aber er war erst 35 und konnte das Geld sehr gut gebrauchen. Er hatte wirklich gewonnen!
Die Türglocke klingelte. Heinrich schreckte hoch. Ein panikartiger Schauer schoss seinen Rücken hoch. Er fühlte sich wie eine Maus in der Falle. Beruhige dich! Das wird vielleicht die Nachbarin sein oder der Briefträger. Trotzdem fiel es ihm schwer, zur Tür zu gehen. Zögernd machte er die Tür einen Spalt breit auf - es war nicht die Nachbarin und auch nicht der Postbote. Draußen standen zwei Männer in schwarzen Anzügen. Auf den ersten Blick sahen sie wie Staubsaugervertreter aus - das einzige was störte waren die durchtrainierten Körper der beiden, die man trotz der Anzüge sehr gut erkennen konnte. Sie sahen einfach nicht wie Personen aus, die freundlich auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen - vielmehr wie die Schläger, die für einen Mafiaboss die Schulden eintrieben.
„Herr Huber? Wir kommen von der staatlichen Lotteriegesellschaft! Wir würden gerne kurz mit Ihnen reden!“ Heinrich wollte die Männer nicht in seine Wohnung lassen - er hatte Angst. Trotzdem machte er die Tür ganz auf und ließ sie eintreten. Der Kleinere von beiden lächelte vielsagend: „Herr Huber, wir haben eine gute Nachricht“, sein Blick streifte die offene Zeitung und blieb kurz daran hängen, „Wie sie vielleicht schon wissen - sie haben im Lotto gewonnen!“ - Obwohl Heinrichs Verstand nichts ungewöhnliches bemerkte, sprang sein Magen im Viereck. „Irgend etwas sagt mir, dass das noch nicht alles war!“, Heinrich sprach diesen Satz ohne zu Überlegen. Er kam zum Schluss, dass er direkt aus seinem Unterbewusstsein gekommen sein musste. Jetzt bemerkte er auch warum. Die Jacketts der beiden Mafioso beulten sich unter dem linken Arm etwas aus. „Können Sie mir sagen, warum Sie Pistolen tragen?“ Ein Ausdruck der Überraschung flog über ihre Gesichter. Er versuchte sie wieder zur Tür hinaus zu drängen, doch die Männer waren schneller. Der eine zog seine Pistole, der andere zog Heinrich von der Tür weg. Sie drängten ihn ins Wohnzimmer. Heinrich kam sich vor wie die Maus in der Falle. „Sie haben Recht! Das war noch nicht alles!“, der Kleinere von beiden sprach mit einer ruhigen Stimme, wie man es in dieser Situation gar nicht erwarten konnte. Immer mehr kam Heinrich zum Ergebnis, dass die beiden eiskalte Profis sein mussten. „Leider ist uns in Ihrem Fall ein Fehler unterlaufen“, ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht des Kleineren. Das war genug - Heinrich wollte sich umdrehen und aus der Wohnung laufen, doch der zweite Mann verstellte ihm den Fluchtweg. Zögernd drehte er sich wieder um. „Was soll das heißen: Ihnen ist ein Fehler unterlaufen?“, Heinrich hatte seine Fassung wiedergewonnen. „Ich werde die Polizei verständigen!“, doch er glaubte nicht, das er das Telefon erreichen würde, wenn es die Gorillas nicht wollten. „Was wollen Sie eigentlich?“
„Das ist eine längere Geschichte. Fairerweise werde ich Sie ihnen erzählen, soweit mir das möglich ist. Sie haben nicht zufällig etwas Kaffee?“ Heinrich ergab sich seinem Schicksal. Nachdem er den Kaffee geholt hatte, setzte er sich wieder in seinen Stuhl. Der Kleinere hatte es sich bereits ohne seine Zustimmung auf seiner Couch bequem gemacht, der andere hatte sich aber keinen Zentimeter bewegt. Genüsslich schlürfend begann der Mann auf der Couch mit seiner Geschichte: „Wissen sie wie viele Menschen in Deutschland wöchentlich Lotto spielen? Ich meine nicht die offiziellen Zahlen, sondern die wahren. Etwa 60 Millionen - vom Schulkind bis zum Rentner. Jeder Spieler setzt dabei wöchentlich durchschnittlich 20,- Euro ein. Das macht pro Woche eine Summe von etwa 1,2 Milliarden Euro und ungefähr 625 Milliarden im Jahr. Eine bessere Einnahmequelle kann sich der Staat nicht wünschen.“
„Aber die vielen Gewinne, die ausbezahlt werden verringern diese Summe doch gewaltig.“ Je länger er die beiden hinhalten konnte, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Fehler begingen. „Das denken alle Spieler, die Realität sieht jedoch anders aus. Natürlich werden die kleineren Gewinne ausgezahlt. Allerdings machen diese Gewinne nicht mehr als etwa 100.000 Euro aus. Wie oft haben Sie im letzten Jahr gewonnen?“
„Viermal - ein Vierer und drei Dreier!“
„Und wie viel haben sie dafür bekommen?“
„Zusammen etwa 300,- Euro“
„Sehen Sie, und so ergeht es den meisten Spielern. Die großen Gewinne erhalten Sie aber nicht von ihrer Lottoannahmestelle. Dazu kommen Angestellte der Lottogesellschaft zu Ihnen. Auf diese Weise behalten wir die Kontrolle.“
„Und worin lag dann ihr Fehler, den Sie bei mir gemacht haben?“
„Es war nicht geplant, dass Sie gewinnen sollten. Sie sind irgendwie mit hinein gerutscht! Sehen Sie, ab Samstag, 12.00 Uhr sind alle Lottoscheine angenommen und in einen Computer eingelesen worden. Der Rechner verarbeitet die Daten und wählt die Kombination aus, die die wenigsten hohen Gewinne erwarten lässt. Um spätestens 13.00 Uhr wissen wir wie die Lottozahlen aussehen.“
„Aber ich dachte die Ziehung sei live!“
„Das denken alle Spieler. Haben Sie schon einmal eine Person getroffen, die bei der Ziehung life dabei war?“ Heinrich wusste keinen. „Die ganze Lotterie ist die wahrscheinlich beste Verschleierung, die uns je gelungen ist. Nachdem die Zahlen bekannt sind, wird die Show aufgezeichnet und später gesendet. Um spätestens 14.30 Uhr wissen wir, wer die Haupttreffer gewonnen hat. In der Regel versuchen wir im entsprechenden Gebiet eine andere Lottoshow mit anderen Zahlen zu zeigen. Auch dafür hat unser Computer schon die besten Zahlen herausgesucht. In einem Gebiet von etwa 100 km Durchmesser werden alle Zeitungen, Internet, Teledaten und das Fernsehen mit anderen Zahlen versorgt. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass auch dort kein Hauptgewinn erfolgt.“
„Aber viele Menschen reisen doch umher und müssen die unterschiedlichen Zahlen erkennen!“
„Das ist eins unser Hauptprobleme. Aber die Menschen sind vorhersehbar. Die meisten Menschen schauen die Lottoshow an, hören die Zahlen im Radio oder suchen im Teletext, Internet oder in der Zeitung am Montag. In der Regel schauen sich die Menschen aber nur zwei Quellen an. Zum Beispiel schaut ein Spieler die Lottoshow und liest am Montag die Zeitung. Falls er eine Unstimmigkeit bemerkt wird er eine dritte Quelle heranziehen. Da bis auf die Lottoshow alle Zahlen ohne Gewähr herausgegeben werden, wird er versuchen eine Quelle mit Gewähr zu finden. In 99 Prozent der Fälle geht er dabei zu seiner Lottoannahmestelle. Nur in einem Prozent der Fälle zieht er eine andere Quelle zu Rate. Nur etwa alle fünf Jahre kommt ein ernstzunehmender Zwischenfall vor.“
„Bin ich etwa auch ein ernstzunehmender Zwischenfall?“
„Im gewissen Sinne! Doch dazu später. Um die Öffentlichkeit weiter von den enormen Gewinnmöglichkeiten zu überzeugen, schalten wir regelmäßig Presseartikel über glückliche Millionäre. Um die Privatsphäre dieser Menschen zu schützen, sind Name und Adresse natürlich von der Redaktion geändert. Ein- oder zweimal im Jahr lassen wir auch einen Millionengewinn zu, der dann in der Presse ausführlich dargestellt wird. Insgesamt bleiben uns pro Jahr etwa 115 Milliarden übrig.“
„Wer ist uns?“, Heinrich wollte sich mit den Erklärungen noch nicht zufrieden geben. „Sagen wir es sei der Staat, mehr kann ich Ihnen nicht verraten. Doch nun zu dem Fehler, der uns unterlaufen ist. Ihr Lottoschein ist rechtzeitig bei der Lottoannahmestelle eingegangen, wurde aber durch einen Computerfehler nicht sofort bearbeitet. Erst heute Morgen - nachdem alle Zahlen längst feststanden - ist der Fehler bemerkt und nachgetragen worden. Da die Einnahmen für diese Woche schon alle verplant waren, konnten wir nicht zulassen, dass Sie den Gewinn bekommen. Nachprüfbar hatten Sie weder die Lottoshow gesehen, noch zu irgendeiner anderen Quelle Kontakt. Lediglich die Zeitungen waren unser Problem, da diese nicht verändert worden waren und auch nicht mehr verändert werden konnten. Also ließen wir alles so laufen wie geplant und beschlossen Ihnen einen Besuch abzustatten, wenn sie die Zahlen aus der Zeitung erfahren sollten. Ihre Wohnung wurde dabei mit modernsten Mitteln überwacht. Deswegen standen wir keine fünf Minuten, nachdem Sie die Zeitung gelesen hatten, vor der Tür. Je kürzer diese Zeitspanne ist um so besser.“
„Und was passiert jetzt?“, Heinrich überkam wieder diese Hysterie, er wollte weg. „Werden sie mich umbringen?“
„Nein, das würde nur zu unangenehmen Fragen führen. Wir löschen ihren Gewinn in Ihrem Gehirn. Es gibt drei Arten des Gehirns sich Dinge zu merken. Das Kurzzeitgedächtnis für die ersten Eindrücke, das Mittelzeitgedächtnis für Erinnerungen bis zu einem Tag und das Langzeitgedächtnis. Wenn der Gewinn erst mal im Langzeitgedächtnis ist, haben wir keine Chance mehr, die Erinnerung zu löschen. Sie können von Glück sagen, dass sie erst so spät die Gewinnzahlen erfahren haben. Hätten sie die Lottoshow gesehen, wären die Erinnerungen jetzt im Langzeitgedächtnis und sie hätten sicher schon mehrere Freunde angerufen. Wir hätten keine Chance mehr gehabt, Ihnen den Gewinn nicht auszubezahlen.“
„Haben Sie keine Angst, dass ich Ihre Ausführungen der Öffentlichkeit preisgebe?“
„Nein, wie ich schon sagte, Sie werden sich an nichts mehr erinnern können, was in den letzten fünf Stunden vorgefallen ist! Ich glaube kaum, dass Sie Schwierigkeiten machen. Ihr Gehirn ist jetzt so aufnahmefähig wie möglich. Durch meine Erzählung wurde Ihr Gehirn auf den kommenden Prozess bestens vorbereitet. Wir werden ein gutes Ergebnis erzielen.“
„Keine Sorge sie werden nichts davon merken!“, die tiefe Bassstimme des anderen Mannes, verwirrte Heinrich. Er wollte sich umdrehen. Der Gorilla an der Tür sprach plötzlich unverständliche Worte, die Ihre Wirkung auf Heinrich nicht verfehlten. Mitten in der Kopfdrehung verlor er das Bewusstsein.
Heinrich schreckte hoch. Er hatte etwas Schreckliches geträumt, wusste aber nicht mehr was. Er stand auf und holte sich einen Kaffee. Er nahm die Zeitung. Mist, wieder nichts gewonnen. Aber irgendwann würde er gewinnen. Dann könnte er sich endlich das Leben leisten, von dem er träumte: ein eigenes Haus, einen neuen Sportwagen und eine große Reise mit seiner Frau. Er seufzte kurz auf und blätterte auf die nächste Seite.
[ 13.05.2002, 22:29: Beitrag editiert von: Gecko ]