Was ist neu

Lottchen

svg

Monster-WG
Seniors
Beitritt
15.07.2004
Beiträge
837
Zuletzt bearbeitet:

Lottchen

Ich habe vergessen, wie rau Klaras Stimme klingt, wenn sie gestresst ist.
“Glaubst du wirklich, dass wir das Richtige tun?“
Sie atmet rasselnd. Es klingt merkwürdig dumpf, so, als würde sie in einen Eimer sprechen. Ihr Asthma ist schlimmer geworden.
Früher hätte mich das wirklich beunruhigt. Mittlerweile nervt es mich nur noch.
„Ich habe dich was gefragt!“, sagt sie mit ihrer Reibeisenstimme. „Ich will wissen, ob wir das Richtige tun?“
Ich zucke mit den Schultern, weil ich keine Antwort auf ihre Frage habe. Zumindest nicht die, die Klara gerne hören möchte.
Für eine Weile wird es still im Auto. Nichts weiter als das Brummen des Motors und Klaras Rasselatmen.
„Hast du dein Asthma-Spray dabei?“, erkundige ich mich schließlich, einfach nur, um überhaupt etwas zu sagen.
Klara deutet mit einem müden Kopfnicken auf unseren Rucksack, den sie achtlos in den Fußraum des Volvos geworfen hat. Dann blickt sie sich zu Lottchen um, die mit weit aufgerissenem Mund in ihrem Kindersitz schläft.
Obwohl mein Blick stur auf die Straße gerichtet ist, weiß ich, dass Klara lächelt.
In diesem Moment liebe ich sie fast wieder.
Ich höre Lottchens leisen Atem.
Gleichmäßig. Vertraut. So unglaublich friedlich.
Für einen kurzen Moment erfüllt mich ein tiefes Glücksgefühl. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich jetzt die Zeit anhalten. Ich weiß, dass das ein beschissenes Klischee ist, und doch würde ich genau das tun. Die Zeit anhalten – und für immer glücklich sein.
Scheißegal, was noch kommen mag, es kann nicht annähernd so perfekt sein wie dieser Moment.
Klaras Reibeisenstimme holt mich zurück in die Wirklichkeit
“Wir…“, sagt sie, „…wir können immer noch umdrehen!“
Wieder das Rasseln. Lauter als vorher. Und diesmal irgendwie flehend.
Ich schüttele wortlos den Kopf.
“Bitte!“, sagt Klara. „Bitte, bitte, bitte!“
Ich spüre, Ärger in mir hochsteigen. Darüber, schon wieder eine Diskussion beginnen zu müssen, die wir hundermal durchgekaut haben.
„Bitte!“
“Verdammte Scheiße, Klara!“, entgegne ich schärfer als beabsichtigt, „Wir haben es so entschieden. Gemeinsam. Schon vergessen? Du hast Asthma und kein Alzheimer.“
Sie antwortet nicht, was meine Wut nur noch steigert.
Meine Hände krampfen sich um das Lenkrad. Ich spreche mühsam beherrscht.
„Und jetzt ziehen wir es auch gemeinsam so durch! Es gibt keinen Plan B.“
Ich vermeide immer noch jeden Blickkontakt.
Lottchen murmelt etwas im Schlaf.
Ich glaube das Wort Zauberpony zu verstehen.
Wieder muss ich lächeln. Wovon Lottchen auch von träumen mag, ich bin mir sicher, es ist rosa.
“Leise!“, sagt Klara. „Du weckst sie sonst auf!“ Mit einem Mal verliert ihre Stimme den nervigen, rauen Unterton und wird weich und warm. „Ist sie nicht süß, wenn sie schläft?“
Meine Wut verschwindet schlagartig.
„Nicht nur, wenn sie schläft! Auch wenn sie wach ist. Vor allem, wenn sie wach ist.“
Klara stößt ein leises Lachen aus. Es klingt versöhnlich.
Vielleicht kommt es doch nicht zur Konfrontation und ich kann sie doch noch endgültig überzeugen.
“Es tut mir leid! Ich wollte dich nicht so anfahren“, sage ich und schaffe es endlich, Klara in die Augen zu sehen. „Aber wir waren uns einig, dass es so am besten für Lottchen ist. Ich weiß doch auch, wie schwer das ist. Nicht nur für dich. Für uns alle!“
Erst Stille.
Dann Rasselatmen.
Und schließlich Klaras Reibeisenstimme.
„Aber sie ist erst fünf!“, wimmert sie. „Fünf Jahre. Ich finde, sie kann auch noch spä…“
Also doch Diskussion.
Scheiße!
“Nein, kann sie nicht! Je früher sie es begreift, desto besser.“
Ich bemühe mich, ruhig und sachlich zu bleiben. Zu argumentieren, statt einfach nur zu schreien. Ich schreie viel zu oft in letzter Zeit.
„Es ist nur zu ihrem Besten“, sage ich. „Und wir haben ihr lang und breit erklärt, was wir von ihr erwarten. Ich glaube, diesmal hat sie es begriffen. Sie ist sehr weit für ihr Alter. Und ein wirklich kluges Mädchen.“
Klaras Atmen rasselt nun so laut, dass sich Lottchen in ihrem Kindersitz unruhig hin- und herdreht.
„Trotzdem“, flüstert Klara. Sogar so klingt ihre Stimme noch rau. „Vielleicht muten wir ihr einfach zu viel zu.“
„Lottchen schafft es“, unterbreche ich sie. „Ganz bestimmt!“
Beinahe glaube ich dran.
„Und wenn nicht?“, wispert Klara. „Was wenn…“
Der Rest ihres Satzes wird von einem gewaltigen Hustenanfall erstickt. Ich bin beinahe dankbar dafür. Es klingt, als würde eine riesige Dogge bellen. Klaras Gesicht läuft rot an. Ihr Speichel klatscht an die Frontscheibe.
Ich empfinde weder Sorge noch Mitleid. Nur Ekel. Und Erleichterung, weil sie nicht weiterredet.
„Mama?“
Eine klare Kinderstimme durchdringt das dumpfe Husten.
„Mama!“
Lottchen hat sich in ihrem Kindersitz aufgesetzt und starrt Klara aus weit aufgerissenen Augen an. Sie ist jetzt hellwach.
Die Angst in ihrer Stimme, lässt auch meinen Widerwillen verschwinden. Plötzlich möchte ich einfach nur noch, dass es Klara gut geht. Weil ich weiß, dass es dann auch Lottchen gut gehen wird.
Meinem Lottchen.
„Mama!“, sagt Lottchen ein drittes Mal.
Klara hustet krampfend und versucht dabei gleichzeitig zu lächeln, was ihr Gesicht zu einer skurrilen Grimasse werden lässt. Mit einer fahrigen Handbewegung angelt sie den Rucksack aus dem Fußraum, nestelt ungeschickt an dem Reißverschluss und fischt schließlich ihren Inhalator heraus. Sie rammt ihn sich förmlich in den Mund, drückt lange den Sprühknopf.
Lottchen und ich sehen ihr aus großen Augen zu.
Endlich verschwindet Klaras Husten und ihr Atmen wird ruhiger.
„Ist alles in Ordnung?“, frage ich sie.
Ohne dass ich sagen könnte, wann es genau passiert ist, hat meine Hand einen Weg zu ihrem Nacken gefunden. Sanft streichele ich über ihren Haaransatz.
„Mir geht es gut“, murmelt Klara und wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Alles okay! Ich bin nur noch ein wenig außer Atem.“
Sie schluckt hörbar.
Ich wende mich Lottchen zu.
„Hast du gehört? Mami ist nichts passiert. Sie musste nur ein bisschen husten.“
„Ich weiß. Ihr Asthma! Und jetzt schau bitte wieder auf die Straße, Papa. Sonst ist Autofahren nämlich saugefährlich“, sagt Lottchen erstaunlich weltmännisch.
Ich muss lachen.
„Zu Befehl, werte Dame!“
„Wir sind in fünf Minuten da“, sagt Klara mit immer noch leicht belegter Stimme.
Lottchen lacht begeistert auf.
„Stark!“, sagt sie und klatscht begeistert in die Hände.
„Weißt du noch, was wir vorhin besprochen haben?“, fragt Klara drängend.
Lottchen nickt.
„Erzähl es Mami noch einmal!“
Lottchen kichert albern.
„Buaäääh! Ich bin Poldi und ich will dir fressen!“, gibt sie eine erstaunlich gelungene Hallo-Spencer-Imitation zum Besten.
„Carlotta!“, sage ich bestimmt. „Wenn du Quatsch machst, drehe ich auf der Stelle um!“
„Aber…“
„Hörst du nicht! Auf der Stelle! Das ist kein Spaß!“
„Ihr habt mir gesagt, dass ich mich benehmen soll“, ertönt es kleinlaut vom Rücksitz. „Weil ich schon ein großes Mädchen bin.“
„Ja!“, sagt Klara wieder deutlich schriller. „Ja! Verdammt! Also bitte, halt dich auch dran! Das ist wichtig!“
Lottchen zieht einen Schmollmund.
„Schatz“, sage ich sanft. „Deine Mutter meint es nur gut.“
„Als ob ihr wüsstet, was gut für mich ist!“, zischt Lottchen.
Für einen Augenblick ist es totenstill im Auto. Dann beginnt Klara zu schluchzen.
„Mama! Es tut mir leid.“ Lottchen scheint nun ebenfalls den Tränen nahe. „Ich habe das nicht so gemeint.“
Sie wirkt jetzt unglaublich klein und verletzlich. Ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen ist.
„Schon gut“, sagt Klara und lächelt tapfer. „Es war nur eine Nachwirkung von meinem Hustenanfall.“
„Nein“, sagt Lottchen und wirkt in diesem Moment überhaupt nicht wie eine Fünfjährige. „War es nicht! Es war meine Schuld. Ich weiß das.“
Ich schaue in den Rückspiegel und sehe, dass mir Lottchen direkt in die Augen blickt.
„Niemand hat Schuld an irgendwas“, sage ich bestimmt.
Aber Lottchen lässt sich nicht überzeugen.
„Es ist meine Schuld“, beharrt sie. Dann faltet sie plötzlich ihre Hände, so, als wolle sie beten.
„Ich werde mich wie ein großes Mädchen benehmen. Ich werde alles genau so machen, wie ihr es mir gesagt habt. Ich kann das. Ihr glaubt das doch auch? Tut ihr doch, oder?“
„Ja, mein Schatz!“, sagt Klara. „Wir wissen, dass du es kannst.“
„Ganz bestimmt“, pflichte ich bei.
Und dann schaue ich auf den Rucksack, in dem außer dem Asthmaspray auch Lottchens Kinder-CDs verstaut sind. Rolf Zukowski. Bibi Blocksberg. Einschlafgeschichten mit der Maus. Und die beiden großen Küchenmesser.
Man weiß ja nie, was einen erwartet.

+ + +

„Papa! Wir wollen aufstehen! Jetzt gleich! Hörst du?“
Angelina ist sieben, anderthalb Köpfe größer als Lottchen, mindestens zweimal so schwer und definitiv kein Kind, das man als niedlich bezeichnen würde.
„Ich möchte Carlotta meine Stofftiersammlung zeigen. Jetzt!“
Angelinas Vater nickt. Er heißt Wolfgang und ich habe ihn vor zwei Wochen bei einer beruflichen Fortbildung kennengelernt.
„Meinetwegen zischt ab“, brummt er mit vollem Mund. „Wenn’s für deine Mutter okay ist. Jasmin?“
Die Angesprochene vollführt mit der linken Hand eine vage Geste, die offenbar Zustimmung signalisieren soll. In der Rechten hält sie eine Zigarette. Vor ihr steht ein halbvolles Glas Wein. Es ist ihr viertes, während der zwanzig Minuten, die wir nun hier sind.
„Mach was du willst!“, murmelt sie.
„Geil!“, brüllt Angelina.
Klara schickt mir einen eindringlichen Blick. Er verheißt nichts Gutes.
„Ich habe 23 Bären, 17 Pferde, etliche Hunde, ein paar Katzen, zwei Esel, einen Elch, eine Schlange, vier Schweine, einen Papagei, vier Hasen, ein Kuschelmonster und noch viel mehr“, zählt Angelina immer noch brüllend auf. „Einen ganzen Zoo habe ich. Und einen ganz großen Drachen. Vom Rummel. Riesig. Magst du Drachen?“
Lottchen nickt begeistert.
„Buaäääh! Ich bin Poldi und ich will dir fressen!“, ruft sie dann.
Angelina schaut sie mit gerunzelter Stirn an.
„Hä?“
„Poldi!“, sagt Lottchen. „Ein Drache!“
„Aus ,Hallo Spencer’!“, füge ich erklärend hinzu.
„Hä?“, sagt Wolfgang.
Die Verwandtschaft zwischen den beiden ist nicht zu leugnen.
„Eine alte Kinderserie, die wir manchmal zusammen gu…“
Weiter komme ich nicht.
„Drauf geschissen!“, kreischt Angelina und zieht Lottchen am Ärmel Richtung Kinderzimmer. „Mein Drache ist rosa!“
„Geil!“, höre ich Lottchen begeistert rufen.
Klaras Blick wechselt von ungehalten zu tödlich.
Für einen Moment herrscht Schweigen am Kaffeetisch. Dann knallt lautstark eine Tür zu.
„Nett, dass Sie gekommen sind“, sagt Wolfgang. „Angelina bekommt nicht so oft andere Kinder zu Besuch. Sie ist ein bisschen … wild!“
„Wild?“, fragt Klara zweifelnd.
„Das ist sogar noch untertrieben“, sagt Jasmin leicht lallend. „Sie hat ihrer Cousine neulich erst den Arm gebrochen. Das Mädchen ist vierzehn und in Punkto Körperbau definitiv das Gegenteil von einer Ballerina. Aber nach einer Stunde mit unserer Angelina war die fix und alle.“
Sie kichert meckernd, fast ein wenig stolz, während sie die Reste ihrer Zigarette mit einem routinierten Fingerschnipser in den Aschenbecher schießt.
„Ihr Mann sagte mir schon, dass Angelina ein wenig schwierig ist“, sage ich behutsam. „Und dass sie wenig Kontakt zu Gleichaltrigen hat. Auch deshalb, weil Sie ja ein ganzes Stück abseits wohnen.“
Jasmin leert in einem Zug ihr Weinglas und zündet sich dann die nächste Zigarette an.
„Ein Stück abseits“, sagt sie mit ironischem Unterton. „Schön gesagt! Aber wir können ruhig Klartext reden. Wir wohnen hier am Arsch der Welt. Wie die letzten beschissenen Einsiedler. Dreißig Minuten bis zur nächsten Stadt, zwanzig zur Tankstelle. Da macht das Kippenholen richtig Laune.“
Sie greift nach der Weinflasche und schenkt sich nach.
„Aber meinem Göttergatten ist das Wurst, weil diese Baracke von einem Haus so günstig zu mieten war. Dass er mich und meine Tochter deswegen dazu verdammt, ein Leben in dieser Einöde zu fristen, ist ihm scheißegal.“
Voller Verachtung bläst sie Wolfgang kalten Zigarettenrauch ins Gesicht.
Gegen die beiden müssen selbst Klara und ich wie ein frischverliebtes Teenagerpärchen wirken.
Aber Jasmin ist noch nicht fertig. Mit einem Mal wirkt sie erschreckend feindselig.
„Hier verirrt sich normaler Weise niemand hin, der auch nur ein Fitzelchen Verstand im Kopf hat. Und plötzlich kommen Sie – aus heiterem Himmel – damit ihre entzückende Tochter mit unser ach so süßen…“, sie schnaubt spöttisch, „… Angelina spielt? Nein! Ich gehöre gewiss nicht zu Ihren Kreisen, aber ich bin nicht blöd in der Birne. Leute wie Sie treffen sich nicht mit unsereins. Und fahren dafür auch bestimmt nicht anderthalb Stunden durch die Pampa. Also, was sind Sie? Zwei beschissene Samariter, die sich heute Nacht berauscht von ihrer guten Tat im frischbezogenen Ehebett lieben? Oder einfach nur Perverse, die uns erst umbringen, und es dann leidenschaftlich auf unserem blutverschmierten Teppich treiben? Was ja letztlich irgendwie auf dasselbe hinauslaufen würde.“
Jasmin grinst böse.
„Ich tippe übrigens auf die Gutmenschen-Variante. Besonders pervers sehen Sie nämlich gar nicht aus.“
Wolfgang knallt krachend die Hand auf den Kaffeetisch. Eine der Tassen fällt um, und ihr Inhalt färbt die weise Tischdecke braun.
„Möglicherweise ist das der Grund, warum wir genau hier wohnen“, fährt er seine Frau an. „ Am – wie sagtest du so schön – Arsch der Welt. Weil du dich in Gesellschaft einfach nicht benehmen kannst.“
Jasmin nimmt ungerührt einen großen Schluck aus dem Weinglas.
„Vielleicht sollten wir jetzt besser gehen“, sagt Klara und schickt sich an aufzustehen.
Ihr Atem rasselt wieder leise. „Wir wollten Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
Aus dem Kinderzimmer ertönt helles Lachen.
Lottchens Lachen.
Laut. Fröhlich. Unbeschwert.
„Nein!“, sage ich bestimmt. „Wir sind so lange herfahren, jetzt sollen die Kinder auch miteinander spielen.“
Jasmin grinst noch breiter.
„Sag ich doch. Ein Samariter!“
„Es reicht, Jasmin!“, brüllt Wolfgang.
Seine Frau reckt ihm den Mittelfinger ins Gesicht.
„Schon gut!“, sage ich um einen freundlichen Tonfall bemüht. „Es mag für Sie womöglich so aussehen, aber wir sind keine Samariter. Ganz und gar nicht. Unser Besuch hat auch durchaus einen sehr eigennützigen Zweck.“
Ohne zu fragen, greife ich nach Jasmins Zigaretten, nehme mir eine und zünde sie an. Ich ziehe dran, huste und drücke sie sofort wieder aus.
Ich habe vergessen, wie scheiße das schmeckt.
„Lottchen ist… sie… na ja… sie hat gewisse Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern. Und kaum Erfahrungen mit Gleichaltrigen. Und meiner Frau und mir ist es sehr wichtig, dass sie – gerade im Hinblick auf die Einschulung im nächsten Jahr – … nun ja… also sie soll lernen, sich einzuordnen und…“
„Angelina ist also das Versuchskaninchen“, unterbricht mich Jasmin bitter. „Und dafür fahren Sie um die halbe Welt? Sie haben ja wirklich einen an der Klatsche!“
Ich will antworten, aber Klara kommt mir zuvor.
„Wenn sich Lottchen daneben benimmt, was durchaus schon passiert ist, ist es uns lieber, niemand erfährt davon.“
Ihr Atmen rasselt laut, doch ihre Stimme ist überraschend klar.
„Es ist uns sogar bedeutend lieber.“
In diesem Moment beginnt Angelina zu brüllen. Nicht so wie zuvor am Kaffeetisch. Dieser Schrei ist nicht quengelig oder fordernd. Er besteht aus nichts anderem als Schmerz und Angst.
„Mein Schätzchen!“
Jasmins Gesicht ist plötzlich kalkweiß. Die Zigarette fällt ihr aus der Hand.
„Was ist da drinnen los? Was passiert mit meinem Mäuschen?“
Angelinas Schrei steigert sich zur Kakophonie.
Für einen Moment ist er so laut, dass ich glaube mein Trommelfell reißt.
Dann endlich Ruhe.
Jasmin heult jetzt vor Angst.
„Mäuschen! Mäuschen! Mäuschen!“
Mit schnellen Schritten hastet sie zur Kinderzimmertür. Mit einem Mal wirkt sie schlagartig nüchtern.
„Was passiert mit meiner Tochter?“
Jegliche Aggressivität ist von ihr abgefallen. Nun ist da nichts mehr als nackte Angst.
Irgendetwas knackt und knirscht laut.
Jetzt höre ich auch Lottchen schreien.
„Uaaaaaaaah! Uaaaaaaah!“
Aus den Augenwinkeln sehe ich wie Klara nach unserem Rucksack greift, darin herumwühlt und dann etwas Langes, Glänzendes herauszieht.
Ich atme hörbar ein.
Jasmin reißt die Tür auf.
Sie schlägt entsetzt die Hand vor den Mund.
„Ich bin Poldi!“
Lottchens Mädchenstimme überschlägt sich.
Dann beginnt Jasmin plötzlich zu kreischen.
Ich sehe wie sich Klara hinterrücks Wolfgang nähert, der mit weit aufgerissenem Mund auf seine Frau starrt. Klara scheint ihn zu umarmen.
Eine schnelle, geübte Handbewegung, dann sackt Wolfgang plötzlich mit einem leisen Stöhnen in sich zusammen und bleibt reglos auf dem Fußboden liegen.
Neben ihm bildet sich eine Blutlache, die immer größer wird.
„Ich will dir fressen!“, ruft Lottchen.
Es klingt verspielt und fröhlich. Ich höre sie lachen.
Jasmin, die noch gar nicht bemerkt hat, was mit Wolfgang geschehen ist, tritt einen Schritt zurück. Dann noch einen. Ihr Gesicht ist zu einer panischen Maske erstarrt.
„Lottchen!“, sage ich. Ganz ruhig. „Komm her zu mir!“
Das Lachen verstummt.
„Papa!“
Es klingt kleinlaut. Schuldbewusst.
„Alles ist gut!“, sage ich und meine es auch so. „Komm her zu mir!“
Jasmin kreischt noch immer.
Erst als Lottchen aus der Tür in den Flur tritt, verstummt sie.
Alles an Lottchen ist blutverschmiert. Ihre Kleidung, ihre Hände, das Gesicht. Sie versucht sich an einem Lächeln. Auch ihre Zähne sind blutig.
In ihren Händen hält sie etwas Lappiges. Rotbraun. Ich kann sehen, dass hineingebissen wurde.
Jasmin übergibt sich geräuschvoll, als sie die Leber ihrer Tochter sieht. Dann fällt sie auf die Knie.
„Wir haben nur gespielt“, sagt Lottchen leise. „Hallo Spencer. Ich war Poldi. Angelina hat gesagt, dass ich richtig fest zubeißen soll. Nicht wie ein Mädchen. Wie ein Drache!“
Jetzt weint auch sie.
„Alles ist gut, mein Liebling“, höre ich Klara sagen. In der linken Hand hält sie das Messer, in der rechten den Inhaltor. „Es war nicht deine Schuld!“
„Doch“, wimmert Lottchen.
Dann lässt sie die Leber auf den Boden klatschen und stürzt sich schluchzend in Klaras Arme.
„Was ist sie?“, murmelt Jasmin, die kaum mehr Herrin ihrer Sinne zu sein scheint. „Ein Monster?“
Ich lächele sie entschuldigend an. Nicke flüchtig. Flüstere dann die Antwort in ihr Ohr, damit Lottchen sie nicht hören braucht.
„Ein Monster“, bestätige ich und lege den Arm um Jasmin. „Schon immer. Sie hat sogar ihre Zwillingsschwester gefressen. Im Bauch meiner Frau. Genauso, wie sie jetzt Angelina gefressen hat. Und vor ihrer Tochter schon andere.
Ja, sie ist ein Monster.“
Ich spüre, wie Jasmin das Bewusstsein verliert. Ihre Beine verlieren den Halt. Nur mein fester Griff bewahrt sie vor dem Fall. Ich glaube nicht, dass sie noch etwas mitbekommt. Trotzdem spreche ich weiter.
Einfach, um es mir von der Seele zu reden.
„Aber sie ist nicht nur ein Monster. Sie ist auch unsere Tochter.“
Ich halte kurz inne, überlege, wie ich das, was ich sagen will, am besten verständlich machen kann.
„Vielleicht hatten Sie Recht. Vielleicht sind wir wirklich pervers, weil wir es zulassen, dass Lottchen immer wieder tötet.“
Ich höre nichts außer Lottchens leises Schluchzen und Klaras rasselnden Atem.
„Aber welche Wahl haben wir denn? Wenn Lottchen böse wäre, ich schwöre, ich hätte sie längst mit meinen eigenen Händen erwürgt. Aber sie ist nicht schlecht. Sie kann lediglich das Monströse in sich nicht kontrollieren! Es ist nicht ihre Schuld.“
Mein Blick fällt auf die angebissene Leber.
Ich seufze tief.
„Wir lieben Lottchen. Und wir beschützen sie. Aber wir werden nicht immer für sie da sein können. Und wir wünschen uns nichts sehnlicher für sie, als dass sie ein ganz normales Leben führen kann. Unauffällig und glücklich. Und zwar schon bald und nicht erst in zehn oder zwanzig Jahren.“
Ich blicke Jasmin ins schlaffe Gesicht.
„Als Mutter müssen Sie das doch verstehen. Wir üben! Begreifen Sie das? Wie üben doch nur. Gewöhnen sie an andere Kinder. Damit sie sich unter Kontrolle bekommt und ein ganz normales Mädchen sein kann. Ein Mädchen, das zur Schule geht. Das bei Freundinnen übernachtet. Und Kindergeburtstage feiert. Sie soll kein Monster sein, das man ein ganzes Leben lang wegsperren muss.“
Ich schließe meine Arme fester um Jasmins Genick und spanne sie an. Mit einem Kopfnicken zeige ich Klara und Lottchen an, dass sie den Raum verlassen sollen. Ich höre beide langsam nach draußen gehen.
„Für Sie mag das jetzt wie der blanke Hohn klingen“, flüstere ich Jasmin ins Ohr. „Aber wir machen Fortschritte. Richtig gute! Zweimal hat es schon geklappt. Zweimal hat Lottchen ganz normal mit den anderen Kindern gespielt, ohne dass etwas passiert ist. Sie war… sie war so froh darüber. So unbeschreiblich glücklich. Wir hatten wirklich gehofft, dass es auch diesmal klappt. Dreimal hintereinander. Dreimal.“
Mit einer schnellen Bewegung tue ich das, was getan werden muss.
Das berstende Geräusch ist ekelhaft und verursacht mir einen Brechreiz.
Ich mache es nicht gern.
Es tut mir Leid um Angelina. Um Wolfgang. Um Jasmin.
Und doch erledige ich nur das, was jeder Vater für seine Tochter getan hätte.

+ + +

Eine Weile sagt keiner von uns ein Wort. Jeder von uns hängt seinen eigenen düsteren Gedanken nach.
Klara atmet wieder ihr Asthmaatmen. Es klingt, als würde Darth Vader neben mir sitzen.
Wir haben den Saustall aufgeräumt und unsere Spuren verwischt. Inzwischen haben wir eine gewisse Übung darin.
Ich starre auf die Straße, lausche den Motorengeräuschen.
„Papa?“
Lottchen spricht leise.
Wir haben sie gewaschen und umgezogen.
„Ich sehe aus wie neu gekauft“, hat Lottchen gesagt. Und trotz der schrecklichen Situation haben wir alle drei darüber gelacht.
Als ich sie im Rückspiegel anschaue, entdecke ich, dass noch ein wenig Blut auf ihrem Gesicht klebt. Nichts weswegen man sich Sorgen machen müsste. Wenn wir in eine Polizeikontrolle geraten, erzähle ich einfach, Lottchen hätte auf der Fahr ein bisschen Nasenbluten gehabt.
„Ich möchte bitte Bibi Blocksberg hören.“
Lottchens Stimme zittert vor Müdigkeit.
„Natürlich, mein Liebling!“
Noch während das furchtbar penetrante Titellied läuft, ist sie fest eingeschlafen.
Nur Gott weiß, wie sehr ich dieses Kind liebe.
Klara schaut zu mir herüber.
Meine Gefühle für sie sind längst verraucht. Nicht mehr als flüchtige Erinnerung. Nicht einmal eine besonders schöne.
Aber sie ist Lottchen eine gute Mutter. Und sie weiß, wie wichtig das ist, was wir tun.
Deshalb bleiben wir zusammen.
Ich fasse nach Klaras Hand.
Sie schaut mich überrascht an.
„Vielleicht hast du Recht“, sage ich. „Vielleicht sollten wir mit dem nächsten Mal wirklich noch warten, bis Lottchen ein bisschen älter ist.“
Aber Klara schüttelt entschieden den Kopf. Ihr Gesicht wirkt hart und entschlossen.
„Nein!“, sagt sie. „Sie muss es lernen! Sie muss! Sie muss!
Sie muss!“
Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass mich Klaras Reibeisenstimme nicht abstößt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Anmerkung: Das war mal Skylla, eine Geschichte, die zurecht hart kritisiert wurde und an der ich danach ewig rumgeschrieben, viel verworfen und verändert habe.
Herausgekommen ist jetzt das, was mit dem ursprünglichen Geschichte nur noch rudimentär zu tun hat.
Ich danke vor allem Quinn und Katla für die deutlichen Worte.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte besser geraten ist, ich selber fühle mich allerdings deutlich wohler damit als mit der Vorgängerin.
Grüße svg

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo svg,
ich hatte Skylla gelesen und finde diese Geschichte hier von der Idee und den Charakteren her um Längen besser.
Allein schon die Idee dieses mörderischen Kindes, Lotte, das fand ich gut. Ok, es ist in der Horrorliteratur nichts Neues, dass man blutrünstige Kids vor sich hat. Aber mich hast du über eine ganze Strecke hinweg ganz schön reingelegt. Ich dachte immer, sie wollen ihr Kind verkaufen oder so was, weil der Vater unbedingt den "Plan" durchziehen will und Klara gehts angesichts ihres Vorhabens zunehmend schlecht. Da hätte man auf andere Sache kommen können, als, dass sie ihrem Monstergör ein wenig soziale Kontrolle beibiegen möchten. Ich stolperte nur an einer Stelle, was den ersten Teil betraf, das war, als Klara wegen ihrer Tochter aus der Fassung gerät.

Für einen Augenblick ist es totenstill im Auto. Dann beginnt Klara zu schluchzen.
Ich weiß, du hast das als Hinweis für den Leser gelegt, dass Lotte nicht so ganz der Sunshine ist, vielleicht wäre aber etwas weniger (als Reaktione bei der Mutter) mehr gewesen.
Insgesamt fand ich es sehr interessant, wie du die alte Skyllastruktur in ein ganz neues Gewand gekleidet hast. Es war spannend und ich wollte unbedingt weiterlesen und wissen, was abgeht. Das betraf alle Teile, besonderns den ersten.
Die einzige, aus meiner Sicht wirklich überarbeitungswürdige Stelle ist die Beschreibung von Klaras Stimme. Ich weiß, du willst an ihr die Beziehung zum Mann festmachen, was ich gut finde. Aber du solltest es da nicht übertreiben bzw überprüfen.
Mal als Beipsiel:
"Sirene" und Stimme , das ist einfach sehr sehr doppeldeutig, du willst ihr ja eine schreckliche Stimme geben, die den Mann nervt. Sirenen (gerade, was die Stimmen betrifft) sind aber auch große Verführerinnen, ich würde schlicht und einfach ein passenderes Wort einsetzen, das nicht an die griechische Mythologie erinnert, sondern das Misstönende ihrer Stimme unterstreicht. Klara hat Astma in deiner Geschichte. Mit Asthma trompetet man aber nicht.
Also fast alle Stellen, wo du die Beziehung zwischen ihrem Mann und ihr über die Stimme kennzeichnen willst, solltest du noch mal überdenken.

Ich habe vergessen, wie schrill Klaras Stimme klingt, wenn sie gestresst ist.
“Glaubst du wirklich, dass wir das Richtige tun?“
Sie atmet rasselnd. Es klingt merkwürdig blechern, so, als würde jemand ganz sachte in eine Trompete blasen. Ihr Asthma ist schlimmer geworden.
Früher hätte mich das wirklich beunruhigt. Mittlerweile nervt es mich nur noch.

Für mich passt das Schrille nicht mit dem Asthmatischen zusammen.
Den zweiten Teil finde ich schön.
Könntest du nicht was daraus machen, dass das rasselnde Atmen bei ihm Schuldgefühle erzeugt? Und dass er sogar mutmaßt, dass sie das extra mcht? Um ihn unter Druck zu setzen?

„Ich habe dich was gefragt!“, sagt sie mit ihrer Sirenenstimme. „Ich will wissen, ob wir das Richtige tun?“
Ich zucke mit den Schultern, weil ich keine Antwort auf ihre Frage habe. Zumindest nicht die, die Klara gerne hören möchte.
Für eine Weile wird es still im Auto. Nichts weiter als das Brummen des Motors und Klaras Trompetenatmen.

Ich würde die Sirenenstimme einfach weglassen, also das Fette. Die Situation kommt immer noch klar heraus.
Und den Trompetenatem würde ich ersetzen. Vorhin hattest du es ja durch einen viel sanfteren, zarteren Atemzug beschrieben, hier klingt das viel zu kraftvoll für Klaras Atem. Vielleicht, wenn dir nichts Besseres einfällt, wirklich nur "Klaras rasselnden Atem".

Du hast ja dann im Weiteren auch die Beziehung zwischen Mutter und Tochter immer wieder über den Atem charakterisiert. Auch das ist, finde ich, eine sehr gelungene Idee. Aber überprüf auch das trotzdem noch mal, schrille Stimme und Asthma, das passt einfach gar nicht, du kannst alle Stimmnuancen beschreiben, in denen die Kehle eng wird oder der Atem klingt, als müsste er sich durchpressen, aber schrill, das bezeichnet einfach eine zwar unkontrollierte, aber dennoch recht stimmgewaltige (und damit atemgewaltige) Äußerungsform. Die passt nicht zu Asthma. Du beschreibst ihren Atem später so, als klinge er nach dem Bellen einer riesigen Dogge, das fand ich wieder ziemlich gut. Das ist nämlich so, als würde der Husten von ganz weit unten kommen und den ganzen Brustkorb glühen lassen, als würde bei jedem Husten etwas aus dem Brustkorb gesprengt oder rausgehustet.

Gut fand ich auch, dass schon hier die Zuneigung zu Klara aus Sicht des Erzählers sich nur über die Liebe zum Lottchen herstellt. Wie wenn Klara nur als so eine Art menschlicher liebevoller, aber etwas ängstlicher Brutkasten definiert ist. Das ist ihre Funktion. Wehe der Armen, wenn Vattern und Lotte denken, sie brauchen keine Mama mehr.

Dann kam Monsterkid zwei, Angelina, der Leser wird wieder ein bisschen reingelegt, ok, da fand ich sie und ihre Mutter ein bisschen zu sehr überzeichnet. Da denkt man sich als Leserin gleich, dass das so nicht stimmen kann. Die Mutter wirkt zu prollig, zu vordergründig stolz auf die Schandtaten ihrer Tochter. Also ich kenne die Eltern, die ihre Kinder auf völlig unreflektierte Weise verteidigen und keinerlei Handlungsbedarf erkennen, schon, aber sie verteidigen in der Regel trotzdem anders.

„Das ist sogar noch untertrieben“, sagt Jasmin. „Sie hat ihrer Cousine neulich erst den Arm gebrochen. Das Mädchen ist vierzehn und in Punkto Körperbau definitiv das Gegenteil von einer Ballerina. Aber nach einer Stunde mit unserer Angelina war die fix und alle.“
Sie kichert meckernd, fast ein wenig stolz, während sie die Reste ihrer Zigarette mit einem routinierten Fingerschnipser in den Aschenbecher schießt.

Ich würde das ein bisschen runterpimpen, es kommt mir sehr übertrieben vor. Aber guck, was andere schreiben, ist vielleicht auch Geschmackssache.

Auch die Reaktionen von Jeanette danach wirken so völlig aus der Luft geholt. Ich versteh schon ihre Feindseligkeit, aber in dieser Härte ist das für mich nicht nachvollziehbar.

Danach, das finde ich dann wieder eine echt gruselige Stelle, dieses fressende, spielende Monsterkind mit Schleifchen im Haar: "Ich will dir fressen." Das hat echt was. Und dass die dann auch noch Bibi Blocksberg hören will zum Schluss. Also nee, hoffentlich kommen meine Nichten nicht demnächst zu Besuch.

Trotz einiger Kritikpunkte, ich habe deine Geschichte gerne gelesen.
Viele Grüße
Novak

 
Zuletzt bearbeitet:

@ Novak

Danke für den ausführlichen Kommentar. Ich habe ihn schon relativ zeitig nach dem Einstellen gelesen, war aber beruflich so eingebunden, dass ich bislang noch nicht angemessen reagieren konnte. Sorry dafür. Habe aber um so mehr Zeit gehabt, darüber nachzudenken. ;)

An die Stelle mit der Stimme gehe ich in Kürze ran. Klingt schlüssig für mich, dafür erst einmal danke. Werde das Schrille entfernen und mehr auf das Bellende setzen. Ich hoffe, damit den von dir aufgezeigten Widerspruch auflösen zu können. Zumal du mit der Doppeldeutigkeit im Bezug auf Sirenstimme natürlich recht hast.

Bei Jasmin war ich mir beim Schreiben nicht sicher, ob sie zu "böse" angelegt ist. Kommt bei dir offenbar so rüber, allerdings finde ich ihre Agressivität so schön vorantreibend. Ich überlege noch einmal, wie ich das löse, eventuell hat sie einfach schon ne Menge aus Frust getrunken ;).

Die Stelle, wo Klara weint, wegen der Bemerkung von Lottchen wird ebenfalls geändert.

Ich danke dir, für viele gute Anregungen. Und es freut mich natürlich, dass du die Geschichte a) besser als die Vorgängerversion findest und sie b) gern gelesen hast.

LG svg

 

Hallo svg

Skylla mutierte zu Lottchen. Den Bezug erkennt man erst zur Mitte der Geschichte hin, doch dann dafür umso drastischer. Mit der Mutation hat der Text an sich zweifellos gewonnen, ist zu einer eigentlichen Kurzgeschichte gewachsen. Hingegen, was mir bei Skylla, die antike Legende im Hinterkopf, noch symbolisch deutbar war, verliert sich hier in der multipel pathologisch gezeichneten Familie völlig. Der Gehalt des Geschehens kreist um ein Kleinkind, das in seiner Entartung unwirklich monsterhafte Züge annimmt und andere Kinder richtiggehend abschlachtet. Was mir an dem Text heikel erscheint, ist, dass sich die Abgrenzung zur Fiktion hin verwischt, es direkt realitätsnah zu lesen ist. Dieser Eindruck wird durch die milde, ja wahnhafte Haltung des Vaters noch erheblich verstärkt. Natürlich ist es Fantasie, die du hier gezeichnet hast. Von real vergleichbaren Fällen pathologischen Verhaltens bei Kleinkindern hatte ich noch nie gehört. Tödliche Verletzungen von Spielgefährten waren stets auf unglückliche Umstände zurückzuführen.
Ich denke nicht, dass irgendein Leser dahinter mehr als Fiktion sehen mag, dennoch ist der Text nach meiner Einschätzung eine psychologische Gratwanderung von Verrohung, schlicht also blanker Horror. Novak schrieb in ihrem Kommentar: „es ist in der Horrorliteratur nichts Neues, dass man blutrünstige Kids vor sich hat.“ Ein stärkeres Durchschimmern des Fiktionalen würde es desungeachtet für mein Empfinden auf eine erträglichere Ebene stellen, als wie vorliegend.
Was dir hier aber sicher gelungen ist, den Stoff in eine scheinbar authentische Darstellung zu rücken.

Mit Spannung, nach anfänglicher Länge bei der Autofahrt, aber auch mit ein wenig Unbehagen gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

@ Novak

Klaras Stimme ist durchgängig verändert, ich hoffe, so ist es schlüssiger.
Jasmin ist jetzt ziemlich besoffen - und dadurch hoffentlich nachvollziehbar aggressiv.
Nochmals danke für die Hinweise.

@ Anakreon
Erst einmal danke fürs Lesen und Kommentieren.

Von der antiken Legende also sprich von Skylla ist nichs mehr übrig geblieben, ich hatte es erst noch drin, aber es schien mir nicht mehr schlüssig, deswegen habe ich es ganz rausgestrichen.

Wenn ich es richtig verstanden habe, hat die Lektüre der Geschichte bei dir durchaus ein gewisses Unbehagen ausgelöst.
Ich zitiere mal zwei Stellen aus deinem Kommentar:

Was mir an dem Text heikel erscheint, ist, dass sich die Abgrenzung zur Fiktion hin verwischt, es direkt realitätsnah zu lesen ist. Dieser Eindruck wird durch die milde, ja wahnhafte Haltung des Vaters noch erheblich verstärkt.

und

Ich denke nicht, dass irgendein Leser dahinter mehr als Fiktion sehen mag, dennoch ist der Text nach meiner Einschätzung eine psychologische Gratwanderung von Verrohung, schlicht also blanker Horror. Novak schrieb in ihrem Kommentar: „es ist in der Horrorliteratur nichts Neues, dass man blutrünstige Kids vor sich hat.“ Ein stärkeres Durchschimmern des Fiktionalen würde es desungeachtet für mein Empfinden auf eine erträglichere Ebene stellen, als wie vorliegend.
Was dir hier aber sicher gelungen ist, den Stoff in eine scheinbar authentische Darstellung zu rücken.

Ich verstehe, was du damit meinst.
Allerdings war genau das meine Intention. Insofern freue ich mich fast über deinen Eindruck hier, weil er genau die Art von Horror ist, die ich auslösen wollte.
Für mich - selber Vater einer fast dreijähigen Tochter* - dreht sich bei dieser Geschichte viel um die Frage, wie weit Elternliebe gehen kann, gehen darf. Das ist der Abgrund, den ich ausloten will. Insofern freut es mich, dass ich das - nach deinem Empfinden - authentisch herausarbeiten konnte.

Nochmals danke für deine Auseinandersetzung mit dem Text.

LG svg

* übrigens völlig ungefährlich ;)

 

Hallo svg,

am Anfang dachte ich noch, die bringen das Kind zu irgendeinem fürchterlichen Ritual oder so. :) Mir ist erst nach und nach aufgegangen, dass das eine andere Version von Skylla ist.

Es gab ein paar Dinge an der Skylla-Geschichte, die ich mochte und die jetzt nicht mehr drin sind - zum einen der Bezug zur griechischen Mythologie, und zum anderen dieses Dilemma, dass sie Menschen fressen muss, um ihre menschliche Form zu behalten. Aber trotzdem kann ich nicht umhin zu sagen, dass diese Geschichte hier viel besser ist. :)

Die Beziehungen in der Familie kommen sehr überzeugend rüber, und die Eltern werden einem echt sympathisch, obwohl sie so falsch handeln. Unter normalen Umständen könnten sie sich einfach trennen und ihrer Wege gehen, aber sie lieben das Kind so sehr, dass sie alles für sie tun würden - zusammenbleiben obwohl sie sich nicht mehr lieben, die kleinen "Unfälle" beim Spielen mit anderen Kindern vertuschen, morden ... das ist wirklich tragisch. Die ganze Familie tut mir richtig leid, und ich möchte, dass sie davonkommen, obwohl es falsch ist.

Insgesamt eine schöne runde Geschichte, es kommt wirklich Spannung auf.

Ein bisschen Kleinkram noch:

Darüber, schon wieder eine Diskussion beginnen zu müssen, die wir schon dutzend-, nein aberdutzende Mal geführt haben.
Was ist denn der Unterschiede zwischen dutzenden und aberdutzenden Malen, gibt's da einen Grenzwert oder so was? :) Ich finde das zweite kann ruhig hunderte Male sein. Muss ja nicht stimmen, aber da geht es doch um die gefühlte Anzahl.

Klaras Atmen rasseln nun so laut, dass sich Lottchen in ihrem Kindersitz unruhig hin- und herdreht.
Atem rasselt

Klara hustet krampfend und versucht dabei gleichzeitig zu lächeln, was ihr Gesicht zu einer skurrilen Grimmasse werden lässt.
Grimasse

Mit einer fahrigen Handbewegung angelt sie den Rucksack aus dem Fußraum, nestelt ungeschickt an dem Reisverschluss und fischt schließlich ihren Inhalator heraus.
Reißverschluss

„Alles okay! Ich bin nur noch ein wenig außer Atmen.“
Atem

Ein Vogeljunges, dass aus dem Nest gefallen ist.
das

Angelina ist sieben, anderthalb Köpfe größer als Lottchen, mindestens zweimal so schwer und definitiv kein Kind, dass man mit dem Attribut niedlich ausstatten würde.
das. "mit dem Attribut niedlich ausstatten" klingt etwas gestelzt. Ich würde sagen: definitiv kein Kind, das man als niedlich bezeichnen würde.

Die Angesprochen vollführt mit der linken Hand eine vage Geste, die offenbar Zustimmung signalisieren soll.
Angesprochene

Ich ziehe dran, huste und drucke sie sofort wieder aus.
drücke

Nun ist da nicht s mehr als nackte Angst.
nichts

Eine Weile, sagt keiner von uns ein Wort.
Kein Komma

Grüße von Perdita

 

Hallo Perdita,

danke fürs Lesen, Kommentieren und Fehler finden. Da war ja echt noch einiges drin, mein Favorit ist der Reisverschluss :D.

Es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat und du sie für besser gelungen hältst als die Vorgängergeschichte, mit der ich nicht so richtig zufrieden war. Mit dieser hier kann ich bedeutend besser leben.


Es gab ein paar Dinge an der Skylla-Geschichte, die ich mochte und die jetzt nicht mehr drin sind - zum einen der Bezug zur griechischen Mythologie, und zum anderen dieses Dilemma, dass sie Menschen fressen muss, um ihre menschliche Form zu behalten.

Von beiden Punkten habe ich mich ungern getrennt, es schien mir aber notwendig. Ich habe kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, dass die beiden Erwachsenen das Mädchen am Strand gefunden und es dann adoptiert haben, aber mir schien es dann wichtig, dass sie die leiblichen Eltern sind - einfach um die Beziehung zwischen den dreien zu festigen. Deswegen ist die Mythologie rausgeflogen.

Der andere Punkt (Menschen fressen, um die menschliche Form zu behalten) ist raus, weil ich den banalen Wunsch der Eltern, dass ihre Tochter sich sozial verträglich ;) verhalten soll, irgendwie noch gruseliger fand.

Die Beziehungen in der Familie kommen sehr überzeugend rüber, und die Eltern werden einem echt sympathisch, obwohl sie so falsch handeln ... Die ganze Familie tut mir richtig leid, und ich möchte, dass sie davonkommen, obwohl es falsch ist.

Das freut mich wirklich.

Nochmals vielen Dank für deine Mühe.

LG svg

 

Moin svg,

Die Geschichte finde ich wiederlich böse, und genau das gefällt mir.

Wie die Monstrosität der Familienverhältnisse Wolfgang/Jasmin/Angelina noch von der Monstrosität von Lottchen und deren Eltern übertroffen wird, finde ich sehr cool gemacht.

Auch wenn du dir humosristische Einlagen wohl nicht verkneifen konntest, was?

Ich glaube das Wort Zauberpony zu verstehen.

Eine Anmerkung:

“Leise!“, sagt Klara. „Du weckst sie sonst auf!“ Mit einem Mal verliert ihre Stimme den nervigen, rauen Unterton und wird weich und warm. „Ist sie nicht süß, wenn sie schläft?“
Meine Wut verschwindet schlagartig.

Ich weiß gar nicht warum ich das so empfinde, aber würde das in der ganzen Lottchen ist ein Monster Thematik den Prot nich noch wütender machen, wenn gesagt wird, wie süß sie ist, wenn sie schläft?

Gern gelesen.

Lg

fvg

 

Moin svg,

Die Geschichte finde ich wiederlich böse, und genau das gefällt mir.

Wie die Monstrosität der Familienverhältnisse Wolfgang/Jasmin/Angelina noch von der Monstrosität von Lottchen und deren Eltern übertroffen wird, finde ich sehr cool gemacht.


Hi Felix,

danke, dass freut mich wirklich.
Sorry für die späte Nachricht, aber ich war zuletzt beruflich ziemlich beschäftigt.
Freut mich, dass die Geschichte so bei dir funktioniert, wie ich es geplant hatte.

LG svg

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom