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Lost
Julia wachte auf aus diesem nervösen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, erhob sich. Das Auto war gekommen. Vom Fenster aus sah sie, wie sich die Tür des schwarzen Audi öffnete und ihre Tochter ausstieg. Das Licht der Straßenbeleuchtung ließ sie die beiden vorne sitzenden Männer erkennen. Sie trugen Sonnenbrillen. Der Fahrer hatte seine auf den glatt rasierten Kopf geschoben. Beide blickten nach vorne. Das Auto fuhr weiter.
Antonia öffnete das kleine Gartentor, ging über den unebenen Weg zum Haus. Der Hund lief schwanzwedelnd neben ihr her. Sie beachtete ihn nicht. Sie schwankte ein wenig mit ihren überhohen Absätzen, fing sich wieder und setzte ihren Weg fort.
Julia nahm die Zigarettenschachtel, die auf dem Regal neben dem Fenster lag, fingerte eine heraus. Die ersten tiefen Züge machten sie etwas ruhiger. Sie konnte sich nicht vom Fenster lösen, sah immer noch auf den Weg, der vom Tor zum Haus führte, grübelte, wie sie sich entscheiden sollte.
Auf den Gartenweg blickend sah sie ihr kleines Mädchen, wie es durch das Gartentor über den schmalen Weg hüpfend und vom Hund fröhlich begrüßt von der Schule nach Hause kam. Es brauchte meist eine Zeit, bis es die Haustür erreicht hatte. Immer und immer wieder sprang der Hund an ihm hoch. Das Mädchen freute sich über das Schwanzwedeln des Hundes, nahm sein Spielzeug, warf es ein paar Meter weit und wartete darauf, dass er es holte und ihr zurückbrachte. Julia liebte es, den beiden zuzusehen. Es machte sie glücklich. Sie war stolz auf ihre schöne Tochter mit den langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen. Ihr Körper war schlank und elastisch. Es machte Julia Spaß, sie immer wieder neu zu kleiden, so wie man es mit Puppen macht. Hin und wieder gingen sie zusammen zum Fotografen. Beiden gefiel es, wenn Antonia in den Alben aussah wie ein Model aus den Zeitschriften.
Julia war erst 16, als Antonias Existenz Gewissheit wurde. Der Vater lehnte jegliche Verantwortung ab, zog sich zurück, verließ sie, noch bevor das Kind geboren wurde. Sie allein musste sich entscheiden. Ihre Eltern standen ihr zur Seite, ordneten ihr Leben und gaben ihr die Geborgenheit, die folgenden Jahre zu bestehen. So konnte sie die Schule beenden, einen Beruf finden, mit ihrer Tochter im Haus der Eltern leben. Antonia wurde der Mittelpunkt ihres Denkens. Liebevoll verwöhnte Julia sie, sah ihr vieles nach, ebnete ihr alle Wege, übersah den sich allmählich bildenden Egoismus. Hilflos stand sie der Verwandlung des fröhlichen kleinen Mädchens zur aggressiven, frechen Fünfzehnjährigen gegenüber. Versuche, in Ruhe einen Weg der Verständigung zu finden, endeten in Geschrei und Abbruch. Aus dem kleinen, von allen geliebten Kind war ein junges Mädchen geworden, dessen Denken sich allein um ihren Körper, ihr Aussehen und ihre Wirkung auf Männer drehte.
Julia dachte an die ersten Nächte, in denen sie schlaflos, eine Zigarette nach der anderen rauchend, verzweifelt vor Angst wartete. Sie spürte, dass sie abgeschnitten war von dem, was Antonia dachte und tat. Sie suchte nach Erklärungen, nach ihrer Schuld.
Aus einzelnen Nächten wurden Nächte und Tage, unterbrochen von Auseinandersetzungen, in denen sie flehte, drohte, immer wieder dasselbe sagte - erkennend, dass all ihre Worte abprallten, verloren waren.
Es gab Momente, in denen sie Hoffnung spürte. Doch wenn sie später auf die Situation zurückblickte, erkannte sie, dass nicht sie selber das Ziel der plötzlichen Zuwendung ihrer Tochter war, sondern das Geld, das Antonia immer wieder benötigte. Versuchte sie die Hilfe zu verweigern oder an Bedingungen zu knüpfen, so zeigten Antonias Reaktionen, wie weit ihre Tochter sich von ihr entfernt hatte
Julia erinnerte sich an das Frühjahr.
Die alte Dame, die sie betreute, hatte sich eine Seniorenwohnung gekauft. Ihr Mann war vor kurzem gestorben und sie wollte ihre letzten Jahren nicht in der hektischen Großstadt, sondern in ihrer ländlichen Heimat verbringen. Sie bat Julia, mit ihr zu fahren und ihr zu helfen, die Wohnung auszustatten und alles zu regeln.
Julia geriet in einen Konflikt. Konnte sie Antonia allein zurücklassen, würde nichts passieren? Der Zufall kam ihr zu Hilfe. Eine Klassenfahrt nach London fiel genau in die Zeit, in der Julia nicht zu Hause sein würde. Alles schien perfekt zu sein.
Kurz vorher meldete sich die Schule, teilte ihr mit, dass Antonia wieder vier Tage unentschuldigt gefehlt habe, drohte mit Konsequenzen. Julia war wütend, ließ sich zu einer Kurzschlusshandlung hinreißen und sagte Antonias Teilnahme an der Fahrt ab. Natürlich konnte ihr nur ein Teil der Kosten zurückgegeben werden.
Innerlich nervös und durchdrungen von einer diffusen Angst fuhr sie los.
Julias Handy klingelte. Sie sah, dass es ihre Tochter war, wurde unruhig.
Antonia klang aufgeregt:„Hallo Mama, wie geht es dir? Wann bist du zurück?“
„Ich bin erst am Wochenende wieder zu Hause.“
„Kannst du nicht früher kommen?“, drängelte Antonia.
„Nein, wir haben am Freitagnachmittag noch einen Termin beim Notar. Deshalb können wir erst am Samstag fahren. Was ist passiert?“
„Nichts, aber ich brauche 50 Euro.“
„Wofür ?“ Julia zitterte.
„Kann ich jetzt nicht sagen. Aber es ist wichtig.“ Antonias Stimme schlug um in ein Kreischen. „Sehr, sehr wichtig.“ Sie holte Luft. „Ich bekomme Probleme, wenn ich das Geld morgen nicht habe.“ Sie machte eine Pause. Julia sagte nichts, wartete.
„Was ist mit dem Geld von der London-Fahrt? Kann Omi mir das nicht geben?“
„Nein, das habe ich hier bei mir. Aber noch mal: Wofür brauchst du das Geld?“
„Das geht dich nichts an. Das ist meine Sache.“ Antonias Stimme wurde aggressiver: „Überhaupt ist es ja mein Geld“, schrie sie.
„Es geht nicht. Du musst warten, bis ich zurück bin.“ Keine Reaktion. Das Gespräch wurde unterbrochen.
Kurze Zeit später klingelte es wieder.
Julias Mutter. Völlig aufgelöst. Antonia stehe vor ihr und brauche sofort Geld.
Im Hintergrund hörte Julia, wie Antonia hysterisch schrie.
„Es tut mir leid. Ich kann nicht vor Freitagabend zurück sein. Sie muss warten“, sagte Julia. Antonia hörte nicht auf zu kreischen.
„Ich habe nicht soviel Geld im Haus. Was soll ich nur machen?“, jammerte Julias Mutter.
„Ich weiß es auch nicht. Ich melde mich gleich noch mal.“
Julia beendete das Gespräch.
Sie entschuldigte sich, lief vor die Haustür, zündete sich eine Zigarette an und überlegte, was sie unternehmen könne. Es war schon acht Uhr abends. Eine Schnellüberweisung war nicht möglich. Das Handy klingelte erneut. Es war wieder Julias Mutter.
„Sie ist weg. Fast wäre sie auf mich losgegangen. Ich habe ihr meinen letzten Zwanziger gegeben. Sie hat die Tür hinter sich zugeschlagen und ist raus. Weißt du, sie sieht fürchterlich aus mit ihren strähnigen Haaren. Was soll nur werden?“
„Wir können nichts machen. Versuche dich zu beruhigen. Wenn es irgendwie möglich ist, komme ich früher zurück.“
Diesmal blieb Antonia länger als eine Woche weg. Die Schule meldete sich, forderte Julias Teilnahme an einer Konferenz, schrieb ihr, ihre Tochter sei sehr oft nicht zum Unterricht erschienen, habe mehreren Mitschülern Geld gestohlen.
Julia empfand das Peinliche der Situation, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie versuchte Haltung zu bewahren, bat um eine letzte Chance.
Ihre Tochter änderte ihr Verhalten nicht. Wann immer sie sich begegneten, kam es zu weiteren Auseinandersetzungen. Antonia kam jetzt nur noch sporadisch – meist nur, um sich andere Kleidung zu holen. Sie schminkte sich stärker als früher, sah zunehmend ungepflegter aus. Julia nahm wahr, dass sie auch nicht gut roch. Ihr Geruch mischte sich mit dem billigen Parfum, das sie benutzte.
Die Schule teilte Julia mit, ihre Tochter habe die Auflagen der letzten Konferenz nicht erfüllt und man müsse sich von ihr trennen. Sie wurde für den Rest der Schulzeit an eine andere Schule verwiesen. Einen Monat später wurde Antonia achtzehn.
Irgendwann erfuhr Julia, dass Antonia einen Jungen kennen gelernt hatte und in dessen Familie lebte. Sie besorgte sich die Anschrift und fuhr hin. Die Mutter des Jungen öffnete. Julia spürte die Traurigkeit der Situation. Die gesamte Wohnung wirkte unaufgeräumt. Ein kleines Mädchen stand hinter der Mutter, am Tisch saß ein anderes Mädchen und machte Schulaufgaben. Antonia war nicht dort, der Junge auch nicht. Die Mutter wusste nicht, wo die beiden sein könnten.
Sie seien ein paar Nächte dort gewesen, gegen Mittag meistens wieder aufgebrochen und erst in der Nacht zurückgekommen. „Ich kann mich nicht um alles kümmern. Jan ist achtzehn. Er ist erwachsen. Er muss selber wissen, was er tut“, war alles, was Julia von der Mutter des Jungen hörte.
Wochen später kam Antonia zurück. Sie hatten sich getrennt. Antonia wollte weiterhin in ihrem Zimmer wohnen. Sie sprach davon, einen Fotografen getroffen zu haben, der ein Portfolio von ihr erstellen wolle. Sie war optimistisch, euphorisch. Julia ergriff den Strohhalm und bestärkte sie. Sie wollte glauben, dass jetzt alles besser würde.
Es wurde besser: Antonia schien jetzt kein Geld mehr zu brauchen. Mehr oder weniger regelmäßig war sie nun auch zu Hause. Meist kam sie in den frühen Morgenstunden heim.
Julia hörte, wie Antonia ihre Zimmertür schloss, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, ging ins Bad. Zeit, sich fertig zu machen. Es war kurz vor sechs und der Bus fuhr um sieben.
Als sie aus dem Bad kam, öffnete sich die Tür und ihre Tochter kam aus dem Zimmer. Aus dem hübschen Kind war in wenigen Jahren eine Fremde geworden. Die schwarzen Haare, nun blauschwarz gefärbt, waren stumpf und an ihren Spitzen brüchig, die schönen dunklen Augen schwarz umrandet. Sie ließen das blasse Gesicht noch fahler, noch kranker erscheinen. Mutter und Tochter sahen sich an. Sie fanden keine Worte, sich zu begrüßen.
„Achtest du darauf, das Tor zu verriegeln, wenn du heute Abend weggehst?“
„Ja, mach ich“, antwortete die Tochter rau, fast unhörbar, und ging ins Bad.
Beide waren sie müde geworden, bäumten sich nicht mehr auf.
Julia nahm ihre Tasche und öffnete die Haustür.
Sie würde heute der alten Dame zusagen und zu ihr ziehen. Vielleicht hatte sie noch eine Chance.