Loslassen
Dieser riesige Parkplatz an der Süd-Tangente der Stadt schien wie geschaffen zu sein, um endlich anzufangen. „Nun komm schon“, drängelte Paul. „Wie lange willst du dann noch damit warten?“. Er stemmte die Fäuste in die Seite. „Gestern hast du es versprochen.“
Paul war wütend auf seinen fünfjährigen Sohn. Denn Finn erfand jeden Tag neue Ausreden, um nicht mit seinem neuen Fahrrad üben zu müssen. Der Sturz im Park hatte ihn offensichtlich verschreckt. Doch heute wird ihm kein Zureden helfen, heute muss er alleine fahren. Und Paul musste lernen loszulassen. Heute würde er nicht das Rad halten und mitlaufen, nur damit Finn sich trauen würde, zu fahren.
Umständlich stieg Finn auf das Rad. Dann sah er den Vater an: „Hältst du mich?“ Paul nickte stumm. „Gib Gas“, fügte er ironisch hinzu.
Während der ersten Schritte schob der Vater den Sohn. Finn traute sich nicht, in die Pedale zu treten. „Komm schon!“, forderte Paul.
Finn drückte das rechte Bein durch. Die Pedale gab nach, das Rad rollte. Paul ging neben dem Rad, eine Hand von hinten unter den Sattel geschoben. Finn drückte das andere Pedal durch. Paul wechselte vom Spazierschritt in ein leichtes Traben. Finn beugte sich etwas tiefer in den Lenker. Sein Blick war nach vorn gerichtet. Das Rad rollte über die Parkflächen, die auf dem schwarzen Asphalt markiert waren. Paul war längst in einem langsamen Dauerlauf übergegangen.
„Jetzt oder nie“, dachte der Vater. Und er ließ los. Das Rad, einmal in Schwung gebracht, rollte seinen Weg. Paul war sich nicht sicher, ob Finn seine Abwesenheit bemerkte. Doch der trat kräftiger ins Pedal. Die Zipfel seiner Jacke flatterten im Fahrtwind. Doch irgendwann war auch der größte Parkplatz der Welt zu Ende. Dessen Ausfahrt führte auf die Süd-Tangente der Stadt. Dort brauste der Straßenverkehr. Finn radelte. Dass sein Vater nicht mehr an seiner Seite war, schien ihn nicht zu beunruhigen. Paul wollte rufen, dass Finn umkehren sollte, doch er hatte Angst, ihn zu erschrecken.
Dann geschah es. Finn, den Rücken kerzengerade über den Sattel aufgerichtet, leitete das Wendemanöver ein. Langsam und wacklig lenkte der das Fahrrad in einen großen Bogen und kam langsam zu seinem Vater zurück.
„Tolle Leistung“, rief dieser ihm von weitem zu. Finn strahlte. Doch ohne Paul anzusehen, fuhr er an ihm vorbei. Er trat ein paar Züge in die Pedale, nutzte den Schwung und rollte über den Parkplatz. Kurz danach erreichte er die begrenzenden Büsche. Wieder fuhr einen großzügigen Bogen und drehte in Pauls Richtung. Der begann zu klatschen. Finn rauscht an ihm vorbei.
„Geht doch“, freute sich Paul. Doch er dachte: „Hoffentlich behält der Junge den Lenker fest in den Hand.“
Nach der dritten Begegnung folgte die vierte, fünfte, sechste. Längst hatte sich Paul auf dem Bordstein gesetzt. Zuerst schaute er seinem Sohn beim Radfahren zu. Er war stolz. Dann spielte er auf seinem Handy. Es gab nichts mehr zu tun.
Finn drehte Runde um Runde. Er schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Plötzlich poppte eine Nachricht auf Pauls Handy. „Wann kommt ihr endlich nach Hause?“.
„Jetzt“, schrieb Paul zurück.
Dann stellte er sich in den Fahrweg des Rades und breitete die Arme aus, um seinen Sohn zu stoppen.