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Loser-Ich
Seit ich Autor geworden war, hing ich mit anderen fragwürdigen Leuten rum. Denen sagte ich natürlich nie, dass ich Autor war, sondern redete von mir als Schriftsteller. Und wenn mich einer von ihnen fragte, wie es so laufe, dann antwortete ich: „Och.“ Fragte er, um was es denn gehe, holte ich tief Luft, wie um einen gewaltigen, allumfassenden Redeschwall anzukündigen, schreckte im letzten Moment davor zurück und sagte: „Ist schwer zu erklären.“
Mein Freund Dirk war Anarchist, lebte in einer kleinen Bude in der Altstadt. Ich glaubte manchmal, es war ihm peinlich, Anarchist zu sein. Viel redete er nicht darüber.
Zu Beginn fragte ich einmal, was er so mache. Und er sagte, er sei Anarchist. Dann hab ich ihn gefragt, was da so in seinen Aufgabenbereich falle. Und er meinte, im Wesentlichen ginge es darum, dem System seine Arbeitskraft zu verweigern, weil man dadurch, so meinte er weiter, eine Struktur stütze, die dem Untergang geweiht sei.
„Widernatürlich ist das alles“, hat Dirk gesagt. „Dass wir eine Kuh züchten, sie dann in kleine Happen schneiden, Folie draufpacken und uns im Fernseher anhören, was für eine Scheiß Sauce dazu am besten passt.“
Schließlich kamen wir untereinander zur stillen Übereinkunft, das Berufliche außen vor zu lassen. Und doch. Heute muss ich diese Übereinkunft brechen. Denn ich will von Dirk erzählen.
Dabei hatte Dirk auf den ersten Blick wenig zu bieten: Dirk war mittelgroß, schmächtig und von einem solchen Grad der Verwahrlosung umweht, dass er nur für die Sorte Frauen attraktiv war, die sich nie in seine Bude verirrte. Denn je höher eine steigt, desto mehr will sie im Schmutz wühlen. Dirk hatte braunes Haar, noch früher war es einmal blau gewesen, grüne Augen und Five-o-Clock-Shadows, wie der Engländer sagt. Jene Stoppeln, die eben um fünf Uhr nachmittags kommen, bei starkem Bartwuchs. Seine Wohnung gab noch weniger her: Ein betagter Fernseher, eine recht bequeme, grüne Couch und an den Wänden standen mit schwarzem Edding schlaue Sprüche. Wobei die meisten der Sprüche, praktisch fast alle, durchgestrichen waren. „Mach kaputt, was dich kaputt macht“ – durchgestrichen. „Was du nicht auffrisst, macht dich schlanker“ – durchgestrichen. „Lieber ne Hand am Sack als gar keine Arbeit“ – durchgestrichen.
Dirk sprach auch wenig, Dirk war mehr ein Grübler und da auch ich, man vermutet es kaum, kein großer Unterhalter bin, saßen wir zumeist auf der grünen Couch und sahen fern. Oder wir spielten X-Box.
Ab und an, wenn es sich so gar nicht vermeiden ließ, unterhielten wir uns auch. Bei einem Stromausfall zum Beispiel.
„Und, was willst du machen?“, hab ich ihn gefragt.
Dirk meinte: „Ist doch egal, früher oder später geht die Welt unter, diese ganze Scheiß Zivilisation. Dann heißt es Mann gegen Mann. Wenn du schlau bist, kaufst du dir eine Knarre. Dieser ganze Zivilisationsballast wird dir nichts bringen oder meinst du, einer gibt dir seine Kuh für ein Scheiß Gedicht? Du musst dir die Kuh einfach nehmen.“
Dann flackerte der Fernseher, die Zivilisation war zurückkehrt, und wollte sehr zu Dirks Bedauern auch einfach nicht weichen.
Die Benzinkrise kam über uns und die Vogelgrippe, das Rentenloch, das Ozonloch, das Sommerloch. Bruno starb und Knut wurde geboren. Müntefering war mal da, mal weg. Und auch die Castingshows haben wir kommen und gehen sehen.
Die Zivilisation blieb. Schlimmer noch, sie holte uns ein.
Ich verkaufte ein paar Geschichten, lernte eine junge Frau kennen, zog mit ihr zusammen in eine größere Wohnung und sah Dirk immer seltener. Doch genug von mir.
Dirk blieb, wo er war.
Ich will gar nicht erst den Versuch unternehmen, das Folgende plausibel erscheinen zu lassen. Denn es klingt bescheuert. Absurd. Wie die wüsten Phantasien eines nur mittelmäßig begabten Schreibers, manche würden ihn sogar einen Schmierfink nennen. Niemand wird es glauben, aber ich habe Beweise. Ich war dabei. Ich war in der Wohnung. Ich hätte danach ja auch die Polizei gerufen, aber hab mir schon gedacht, wie das endet. Man hätte mir nicht geglaubt. Stefanie hätte mich nicht mehr so angesehen wie früher. Und Dirk war eh weg. Wem hätte das genutzt? Aber man könnte ins Stadtarchiv gehen und die Zeitung holen vom achten November letzten Jahres. Eine kleine Spalte nur. Spurlos verschwunden. Wer hat diesen Mann gesehen?
Ich hatte zweiundsiebzig Stunden mit der Vermisstenanzeige gewartet. Dann angerufen und behauptet, ich habe meinen alten Freund besuchen wollen und ihn nicht vorgefunden. Verreist sei er auch nicht, es wäre noch alles da. Außer ihm.
Gut. Ich besuchte also Dirk. Kein großes Hallo, kein langes „Was machst du so?“, nicht einmal ein Schulterklopfen, Dirk setzte sich auf die Couch, hob einen Controller vom Boden auf und stellte zwei Spieler ein. Ich setzte mich neben ihn und hatte den Geruch der Wohnung in der Nase. Das leicht gammlige, schimmlige Aroma. Vielleicht kam das auch von Dirk. Früher war mir das schon gar nicht mehr aufgefallen.
Jetzt in meiner Vorstellung ist es oft so, dass ich mir irgendwelche Vorzeichen einbilde. Ein Ozongeruch in der Nase. Das Verstummen von Vogelgezwitscher, aber, ehrlich gesagt, war da nichts. Die Tür sprang auf und eine Meute Fernsehmenschen stürmte herein. Ein Kerl mit schwarzem Vollbart und einer albernen blauen Mütze installierte Lichtstrahler, eine kleine Frau, die aussah wie eine Kunststudentin namens Jasmin, also irgendwie französisch, zog Kabel über den Boden, jemand baute einen Catering-Tisch auf direkt neben der Tür. Produktionsassistenten huschten mit Kaffeetassen umher. Uns bot keiner etwas an.
Ein Ameisenstaat war in Dirks Wohnung gebrochen, wimmelte und ackerte herum. Und ihre Königin war Dirk. Ein älterer Dirk. Inmitten seines Volkes stand er, gestikulierte wild, nippte am Kaffee und brüllte Befehle. „Das Licht nicht so hell!“, schrie er mit Dirks Stimme. „Ich will nicht wie ein Scheiß Vampir aussehen! Und klebt die verkackten Fenster zu, muss nicht jeder sehen, was wir da machen!“
Ein grauer Mann mit grauem Anzug und grauer Aktentasche stand klein neben ihm, nickte und fistelte: „Ja, die Fenster zu, bitte.“
Während ich auf den älteren Dirk starrte, spielte der jüngere Dirk neben mir weiter.
Dass es sich bei der Königin des Ameisenstaates um Dirk handeln musste, stand außer Frage. Dieselben tiefsitzenden Augen, der gleiche Mund, die gleiche Stimme. Sonst war vieles anders. Während Dirk eher schlenderte und schlurfte, stapfte sein älteres Ich durch die Gegend. Hatte die Schultern nach oben geschoben und den Rücken durchgestreckt. Die Zähne gebleicht, trug sich durch den Raum wie ein Boxweltmeister beim Einlauf.
„Du siehst das doch auch, oder?“, fragte ich den jüngeren Dirk neben mir, und der antwortete ganz leise: „Was denn?“
„Die Leute, Mensch!“
„Scheiße, das ist echt?“ Dirk legte den Controller auf den Boden.
„Ich fürchte, das ist echt“, sagte ich, während ich der Kabel-Studentin aufs verlängere Rückgrat sah; ihre Jeans war etwas nach unten gerutscht und man konnte ein Geweih erkennen.
Der Raucherhusten des Lichtmannes klang nicht gut, es schien etwas aus seinen Eingeweiden durch die Speiseröhre nach oben zu wollen. Dirk hatte nur Augen für Dirk. Der andere Dirk beachtete uns nicht, sondern besah mit Kennerblick das Arschgeweih der Kabellegerin. Das graue Männchen stand neben ihm, ganz stumm und still.
„Ich dachte, weißt du, ich dachte“, sagte Dirk und drückte mit dem Fuß die Konsole aus.
Dann winkte uns der ältere Dirk endlich mit einer imperatorischen Geste heran.
Reichte mir energisch die Hand, zog mich sogar ein gutes Stück an sich heran, klopfte mir auf den Rücken und sagte: „Schön, dich zu sehen. Ich hab dir viel zu verdanken.“
„Angenehm“, sagte der graue Mann neben ihm und nickte mir knapp zu.
Dirk stand neben mir und hatte die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben.
Der andere Dirk lächelte sein Lächeln und sah durch Dirk hindurch, an ihm vorbei, über seine Schulter hinweg. „Beeilt euch mit dem Fenster“, brüllte er. Und ich spürte eine Hitze in meinem Nacken, die Lichtstrahler waren wohl installiert.
„Ich hab schlechte Nachrichten für dich“, sagte der ältere Dirk irgendwann, „so schnell geht die Scheiß Welt nicht unter.“
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, sagte der jüngere Dirk.
„Und wenn schon? Dann setz ich mich ab, Frankreich, nach einem Krieg, kaum Typen, viele Tussis. Vielleicht achtzehntes Jahrhundert, was meinen Sie, Schmitt?“
Der graue Mann blieb stumm.
„Mann, das ist vielleicht eine Scheiß unangenehme Situation, hm?“, meinte der ältere Dirk nach einer Weile, machte aber gar nicht diesen Eindruck. Er wirkte wie aus einem Stück gemeißelt, wie ein Monolith, wie in den Raum gehämmert mit seinen breiten Schultern und dem wachen Blick.
„Was ist passiert?“, fragte ich nach einer Weile.
„Du bist passiert“, sagte Dirk. „Du kamst nicht mehr.“
Der jüngere Dirk sah mich an und zuckte mit den Schultern.
„Mir wurde langweilig“, setzte der ältere Dirk fort. „Und ich hab den Crav Maga-Kurs endlich besucht.“
„Ist wie Judo, nur mit in die Eier treten“, erläuterte der jüngere Dirk.
„Japp, voll in die Nüsse.“
„Dachte das könnte ich mal gebrauchen, wenn die Welt untergeht.“
„Wegen der Kuh?“, fragte ich.
„Wegen der Kuh“, sagte Dirk.
„Und dann hab ich den Spruch da drüben entdeckt, der einzige Scheiß Spruch, der hier nicht durchgestrichen ist“, sagte der ältere Dirk und zeigte auf einen Platz irgendwo hinter dem Catering-Tisch.
„Genieße deine Entropie“, sagte der jüngere Dirk.
„Der war schon da, wo ich hier eingezogen bin, ich hab nicht die geringste Ahnung, was der Quatsch heißen soll. Ich glaub, deshalb hab ich ihn auch immer stehen lassen.“
„Ja“, sagte der jüngere Dirk. „Deshalb hab ich ihn stehen lassen.“
„Dann kaufst du dir einen Anzug, ziehst nach Köln und irgendwann wachst du auf und schläfst mit Charlotte Roche.“
Dirk schaute mich fragend an und ich half: „Die aus dem Bela B.-Video“
„Oh“, sagte Dirk. „Die wirkt nett.“
„Hat Boxershorts getragen, ihr wisst doch, was das heißt“, sagte der ältere Dirk und nun war es an mir, den jüngeren fragend anzusehen.
„Die muss doch dann vierzig sein“, sagte Dirk, anstatt mir zu antworten.
„Na und?“, sagte Dirk.
„Du bist jetzt beim Fernsehen.“
„Wir sind beim Fernsehen. Ein Reality-TV-Format. Wir haben’s geschafft.“
Dirk hatte seine Hände noch immer tief in den Taschen.
„Na ja, ich hab’s geschafft. Ist meine große Chance“, sagte der ältere Dick, so als hätte er das heute schon acht Mal gesagt, und zeigte sein Lächeln.
„Ah!“, sagte ich. „Ich hab’s kapiert. Ist wie in Timecop, du kannst ihm nicht die Hand geben, weil dieselbe Person nicht zur gleichen Zeit den gleichen Raum einnehmen kann!“
„Bullshit“, sagte der ältere Dirk. „Ich hab nur erst vor 4 Jahren angefangen, mir nach dem Pissen die Hände zu waschen.“
Ich schaute den jüngeren Dirk an und der wurde nicht rot. Das ist später noch wichtig.
„Ich bin jetzt so was wie eine Berühmtheit. Der Coach der Stars.“
„Ein Scheiß B-Promi“, sagte der jüngere Dirk.
„Es ist ein gutes Leben. Die da mit dem Arschgeweih, die du die ganze Zeit anstarrst.“
„Wirkt nett“, warf ich ein.
„Genau“, antwortete der ältere Dirk und grinste.
Hinter uns musste eine Kamera aufgebaut worden sein, denn der graue Mann machte vier, fünf Tippelschritte zurück und der ältere Dirk warf sich in Pose. Hob die rechte Hand hoch neben sein Gesicht, gestikulierte damit wie ein leitender Angestellter im mittleren Management. „Wer könnte besser als ich dazu geeignet sein?“, fragte er versonnen, presste die Lippen aufeinander und sah an die Decke.
„Wozu denn?“, fragte ich.
„Du ruinierst ihm die dramatische Pause“, murmelte Dirk neben mir.
„Um ein großartiges, neues Format zu präsentieren“, sagte Dirk und wedelte mit der rechten Hand herum. „Hilft den Menschen an ihr Potential zu glauben, das Beste aus sich herauszuholen. Nicht nur die Stars können erblühen, sich zu immer höheren …“
„Höhen?“, fragte der jüngere Dirk.
„aufschwingen. Durch das neue Format wird jedes Hänschen sehen, dass aus ihm ein Hans werden kann.“
„Mir wird gleich schlecht“, sagte der jüngere Dirk.
„Wär’s mir auch“, sagte der ältere wieder mit seiner normalen Stimme. „Hier stinkt’s ganz furchtbar nach Urin.“
„Meine Damen und Herren“, intonierte er nur zwei Wimpernschläge später und gestikulierte in der Manier eines Zirkusdirektors: „Die neue Erfolgsshow der ProSieben-Sat1-Media Ag LOSER-Ich!“ Mit diesen Worten zeigte er auf die Wand hinter uns, auf der nun – bunt und formgewaltig – ein Logo zu erkennen war, das in Aufmachung und Art stark an das von Big Brother erinnerte.
Ich fragte: „Also seh ich das richtig, die Menschheit hat tatsächlich die Zeitreise erfunden und wir machen nichts Besseres damit als eine Reality-TV-Show?“
„Nicht eine! Die!“, antwortete Dirk.
Der graue Mann nickte in seinen Hals.
„Kann ich dagegen irgendwie - Einspruch?“, fragte Dirk.
Der graue Mann fistelte aus dem Hintergrund die Antwort. „Rechtlich gesehen sind Sie ein und dieselbe Person und sozusagen ein Mündel ihres späteren-“
„Vernünftigeren!“, fiel der ältere Dirk ein.
„Ichs.“
„Ich glaub ich muss mich setzen“, sagte ich, doch dort, wo vor Augenblicken noch unsere alte grüne Couch gestanden hatte, erkannte ich nun eine andere grüne Couch. Noch eine Spur verwahrloster. Das Polster war an einigen Stellen aufgerissen; die X-Box hatte man entfernt, den Fernseher durch ein Schwarz-Weiß-Modell ersetzt.
Hinter Dirk hatte sich ein glatzköpfiger, dicker Mann auf einen Hocker gestellt, ihm ein weißes Lätzchen umgelegt und damit begonnen, blaue Farbe auf seine Haare zu sprühen.
Ein Produktionsassistent bot mir einen Zimt-Bagel an. Ich lehnte ab.
„Ist nur so lange, bis sich was ergibt“, sagte die Kabellegerin neben mir, die in einen Frischkäse-Bagel biss.
„Ergibt sich bestimmt was“, sagte ich. „Sie wirken nett.“
„Rufen Sie mich doch mal in zehn Jahren an oder so, dann bin ich hier sechzehn“, flüsterte sie und zwinkerte. „Und sagen Sie mir dann doch auch gleich, dass ich …“
Hinter der Couch war der graue Mann aus dem Boden gewachsen und räusperte sich.
„Ah, verstehe“, sagte ich.
„Man wird’s ja noch mal versuchen dürfen“, sagte sie und stand auf.
„Schade“, sagte ich zu dem grauen Mann. „Sie wirkte nett.“ Der schüttelte den Kopf und wandte sich den beiden Dirks zu.
Mein Dirk stand, mit blauen Haaren, hinter einem Quiz-Show-Pult wie aus Jeopardy, während der andere vor ihm herumtänzelte und auf Kärtchen in seinen tadellosen Händen sah.
Schließlich versteckte er die Kärtchen in seiner Gesäßtasche, legte sein weißestes Lächeln auf und sprach endorphinüberschäumend in die Kamera: „MeineDamenundHerren, da sehen Sie mich. An der Talsohle meines Lebens. Keine Perspektiven, keine Zukunft, keine Freunde!“
„Talsohle. Leck mich doch“, murmelte der andere Dirk.
„Schneiden wir später raus. In dieser verlotterten Wohnung gammelte ich in Nutzlosigkeit und Selbsthass vor mich hin“, die Kamera fuhr über die Wand, die dem Cateringtisch gegenüberlag. „Und ich hoffte - mir ist es peinlich, es zuzugeben - auf den Weltuntergang. So war ich!“ Großaufnahme auf Dirks Gesicht. „Und nicht anders!“
„Der Weltuntergang käme mir jetzt grade recht“, murrte der andere.
„Nanana, wer wird denn da den lieben Leuten ihre Stimmung verderben wollen. Schneiden wir später raus.“
„Ist dir das nicht peinlich, all unsere Ideale aufzugeben?“
„Das waren keine Ideale, das war Schwachsinn.“
„Du bist das, was ich hasse.“
Der andere Dirk lächelte. „Dito. Schneiden wir später raus.“
„Wie schläfst du nur nachts?“
„Ganz weich, auf einem Haufen Geld.“
„Du kleiner Wichser“, sagte mein Dirk.
„Hey, macht die Kamera mal aus“, sagte der andere. „Fünf Minuten Pause.“ Er ging auf Dirk zu und sagte: „Kannst du nicht versuchen, ein wenig verzweifelter auszusehen? Ich mein, die Wut ist schon klasse, aber dazu noch ein bisschen Verzweiflung. Mehr so … ohnmächtige Wut. Ein wenig mehr Depression, bitte.“
„Das kann nicht legal sein“, sagte ich zu dem Mann in Grau.
„Ich weiß genau, was du jetzt denkst“, sagte der Moderator-Dirk. „Du willst mir den Arsch aufreißen, ja? Komm doch her. Ich hab den Krav Maga-Kurs hinter mir. Du nicht. Ich reiß dir deinen Scheiß Punker-Arsch auf.“
Dirk ballte seine Hände zu Fäusten, hob sie sogar hoch, nur um sie dann wieder fallen zu lassen.
Mein Freund tat mir leid: So wie er da stand mit den blauen Haaren, sollte niemand stehen müssen.
Der andere Dirk: „Ich bin der richtige Anarchist, du kleiner Wichser. Siehst du das nicht?“ Mit einer seiner raumgreifenden Gesten untermalte er die Worte: „Der Einfluss, den ich habe. Und was hast du? Du hast deine Couch. Dein einziger Freund, dieser Schmierfink.“
„Hey“, sagte ich.
„Sogar der ist weg. Du änderst gar nichts mit diesem Scheiß: Wenn die Welt untergeht, dann hol ich mir eine Kuh! Keine Sau interessiert sich für dich. Weißt du, was aus Leuten wie dir wird?“
„Du“, sagte Dirk. „Und das kotzt mich ja gerade so an.“
„Jetzt hat er ihn“, sagte ich zum Mann in grau, der das Ganze ungerührt verfolgte.
„Schneiden wir später raus“, sagte der andere Dirk, blickte auf, merkte, dass die Kameraleute um den Catering-Tisch standen und las in seinen Kärtchen.
Dirk spuckte ihm ansatzlos ins Gesicht. Sein Speichel lief dem älteren Dirk die Wange herunter.
„Mach nur so weiter“, sagte der, zog ein Taschentuch und wischte sich die Wange. „Ich will dir doch nur helfen. Sieh mich als deinen Coach.“
„Ich will keinen Coach, ich will meine Couch“, sagte Dirk.
„Ich war damals schon ziemlich talentiert“, sagte der andere und schaute, wie um Beifall zu erheischen, in meine Richtung.
„Kleiner Wichser“, sagte ich.
„Hey, du musst das doch erkennen“, sagte er zu mir. „Guck mal.“ Richtig freundlich klang er, kein Wort mehr von Schmierfink. „Da stehe ich, mit dem ganzen Potential und was mache ich daraus?“
„Ich seh kein Potential, ich seh da nur meinen Freund.“
„Rührseliger Depp“, sagte er. Ergänzte dann noch: „Scheiß Kitsch da“ und sah sich um. Der graue Mann schaute ihn nicht an, der Rest widmete sich Kaffee und Bageln. „Pause vorbei“, sagte er schließlich und ging zurück an seinen Platz. Ein wenig kleiner, als soeben noch, mochte ich meinen.
Die Show versprach kein großer Erfolg zu werden. Dirk schwieg von da an, der andere sprach umso mehr. Potential ausschöpfen, bis ans Äußerste gehen, dies sei der Sinn des Lebens. Eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber sei gegeben.
Mein Dirk schwieg. Mit versteinerter Miene ließ er das Gerede von einem schönen, neuen Ich an sich vorüberziehen. Vom guten Gefühl, man selbst zu sein, dem bestmöglichen aller Ichs. Dann wechselte der andere die Taktik, fragte Dirk nach seiner Philosophie, warum er die Sprüche in der Wohnung durchgestrichen habe, bis auf den einen. Wen er bewundere, ob es ihn nicht interessiere, Leute zu verbessern, Dinge zu verändern, etwas zu bewegen. Dass er doch einsehen müsse, es bringe nichts, sich der Gesellschaft zu verweigern. Schmeichelte dem großen Götzen Potential.
Dirk sagte kein Wort. Es lief nicht gut.
Sogar die Kameraleute bemerkten es, sahen hinter ihren Objektiven auf und suchten den Blickkontakt zu Kollegen. Der graue Mann schüttelte den Kopf.
„Sprich doch zu mir“, sagte Dirk. „Das bist du mir schuldig. Ich hab soviel aus dir gemacht und so zahlst du es mir heim?“
Dirk sprach kein Wort. Mir zerbrach es fast das Herz.
In einer Drehpause ging mein Dirk endlich vom Pult weg und setzte sich neben mich.
„Weißt du“, sagte er, „das mit der Kuh tut mir leid. Ich denke, für ein Gedicht würdest du eine kriegen.“
„Danke“, sagte ich und nickte.
„Mach’s gut“, sagte Dirk.
Was dann passierte, habe ich noch oft vor mir gesehen. Ich kann es mir nur so erklären, dass Dirk sich schon immer die Hände nach dem Pinkeln gewaschen hat. Wenn ein und dieselbe Person den gleichen Raum einnimmt, dann, das muss mit Physik zu tun haben, geschieht Folgendes:
Dirk stand von der falschen Couch auf und ging schnurstracks auf Dirk zu, der sah ihn kommen, ging in die Knie, in Krav Maga-Position.
„Komm nur, ich reiß dir deinen Scheiß Punkerarsch auf!“, stieß er aus.
Doch Dirk ließ sich nicht beirren, setzte Schritt auf Schritt, kam immer näher. Krav Maga- Dirk gab seine Pose auf, streckte die Handflächen nur noch zur bloßen Abwehr vor und zog sich zurück, auf den Cateringtisch zu, die Leute wichen ihm aus.
„Du weißt doch nicht, was du tust, Mann. Lass den Scheiß.“
Dirk ging weiter auf ihn zu, ganz aufrecht ging er jetzt, mit durchgestrecktem Rücken und breiteren Schultern. Der andere wich zurück, musste die Kante des Tischs schon im Rückgrat gespürt haben, hilflos sah er in meine Richtung, schaute die Kabeltussi an, rief: „Babette, hilf mir doch.“ Keiner kam zu seiner Rettung. Die Kameramänner schwangen sich hinter ihre Objektive, der Raucher mit der blauen Mütze leuchtete den Tisch gut aus. Der graue Mann neben mir schüttelte den Kopf.
„Du kannst doch nicht. Das ist Selbstmord.“
Dirk sprang, prallte gegen den älteren und riss mit ihm zusammen den Tisch um, man hörte noch ein lautes „Plopp“, als die Luft in das neu entstandene Vakuum vorstieß. Der Cateringtisch war eingebrochen, Kaffeeflecken zierten den Boden, Zimt-Bagel flogen durch den Raum. Und hinter dem eingestürzten Tisch sah man den einzigen Spruch in der Wohnung, der nicht durchgestrichen war: „Genieße deine Entropie.“
Ich muss lächeln, wenn ich daran denke.
Die Kameraleute packten zusammen, Babette, die ich für Jasmin hielt, auch. Sie wechselten den Fernseher wieder aus und ich musste aufstehen, als man mir meine Couch wiederbrachte. Dirks Couch, zwei Leute trugen sie rein. Ich glaube, ich hatte Tränen in den Augen.
Licht fiel wieder in die Wohnung, die Fenster waren frei. Alle waren schon gegangen, nur der graue Mann besah mich noch. „Ich hab dem Sender gleich gesagt, dass es ein Flop wird“, sagte er. „Vielleicht mit einem anderen Host? Was ist denn mit Ihnen? Sonderlich erfolgreich sehen Sie mir auch nicht aus? Meinen Sie, Ihr Ich in zwanzig Jahre hätte ein gewisses Interesse?“
„Verpiss dich“, sagte ich.
„Ach so“, sagte der graue Mann und ging.