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Londoner Advent
Markus Kramm blickte auf den speckigen Nacken seines Kollegen Spencer. Es war bei Gott kein schöner Anblick, aber er hatte sich in den sechs Monaten bei Woolford International daran gewöhnt. Rechts von ihm breitete sich die graue Prärie des Büros aus, die verdurstenden Zimmerpflanzen und die prähistorische Kopiermaschine, die wie ein grasender Büffel in der Ecke stand. Aus dem Fenster zu schauen, war auch nicht viel interessanter – klobige Bürogebäude, die lärmende Sycamore Road mit den hektisch herumstürzenden Angestellten, klägliche Bäumchen und ein Fish-und-Chips-Laden, dessen Ausdünstungen ihm je nach Tageszeit Appetit machten oder Übelkeit verursachten.
Genau vor Spencer stand ihr gemeinsamer Chef Martin und malte wie ein überaltertes Kindergartenkind mit rotem Filzstift die neuesten Verkaufszahlen hinter die Namen auf dem Whiteboard. Vor Aufregung hing ihm die Zungenspitze aus dem Mund. Hinter den Namen von Markus malte er keine Zahl, natürlich nicht. Markus hatte in diesem Monat noch keine einzige Anzeige verkauft. Er besaß überhaupt kein Verkaufstalent. Wenn ihn jemand am Telefon anschrie, dass ihn der Mist nicht interessiere, war Markus sofort geneigt, ihm zuzustimmen. Und wer brauchte auch schon eine Anzeige in den Käseblättern von Woolford International?
Es war so ziemlich der beschissenste Job, den man sich vorstellen konnte, aber nachdem er vier Wochen lang Gläser in einem trübseligen Café gespült hatte, war Markus zu allem bereit gewesen.
Er wollte unbedingt in London Fuß fassen, den Puls der Großstadt spüren, seinen Weg nach oben machen. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Vom Gläserspüler zum Anzeigenverkäufer.
Spencer drehte sich um und führte zwei Finger wie eine Zigarette zum Mund. Spencer war kein Mann großer Worte. Sie standen auf und schlenderten zur Tür.
„Bleibt nicht zu lange weg, Jungs, wir müssen noch einiges vor der Party schaffen!“, rief ihnen Martin nervös hinterher.
„Fuck off, Skippy“, murmelte Spencer, winkelte die Arme an und deutete den Luftsprung eines Kängurus an.
Martin war ein wieseliger Australier mit einer Vorliebe für grelle Oberhemden und als nörgelnder Nichtraucher eine ständige Quelle der Belustigung. In jeder Mittagspause ging er ins Fitnesszentrum und saß anschließend frisch geduscht und moralisch überlegen an seinem Platz.
In den letzten drei Monaten hatte Markus oft darüber nachgedacht, doch wieder nach Berlin zurückzugehen. Nicht, dass es ihm in London nicht gefiel, ganz im Gegenteil. Aber er machte sich wirkliche und zum ersten Mal in seinem Leben ernsthafte Sorgen um seine Gesundheit. Noch nie im Leben hatte er so viel Nikotin eingesaugt, noch nie so viel Alkohol pro Tag konsumiert wie seit seiner Ankunft in diesem komatösen Königreich. Seiner Meinung nach befand sich ein Großteil der Bevölkerung in einer Art von Dauerrausch. Der britische Tag begann mit morgendlichem Restalkohol, glitt nahtlos in das Mittagessen mit einigen Bierchen über und fand sein tumultartiges Finale im Kneipenbesuch nach Büroschluss, wo dünnes Ale gallonenweise durch die Kehlen floss.
Sie kauerten mit ein paar anderen Rauchern im Hauseingang und Spencer hustete rachitischen Schleim auf die Straße. Er guckte auf seine Uhr. „In zwei Stunden geht’s ins George and Dragon.“
„Wir haben doch erst um sechs Schluss“, bemerkte Markus vorsichtig.
Die Kollegen wieherten vor Lachen. Spencer legte ihm kumpelhaft den Arm um die Schultern.
„Mein lieber Germane“, er zwinkerte den anderen zu, „heute ist die Weihnachtsparty. Die beginnt, wann wir wollen!“
Voller Vorfreude riss ein junger Mann mit Zahnlücke seinen Arm in die Luft. „Jingle Bells!“
Genau das war es wieder, dachte Markus. Es wäre unmöglich gewesen, nein zu sagen. Alle gingen heute ins George and Dragon, selbst die schwangere Frau aus der Personalabteilung. Gut, er hätte sich ein Mineralwasser bestellen können so wie Skippy. Aber das brachte er auch nicht fertig. Er wollte wie ein Engländer erscheinen, deswegen war er ja hier. Und die tranken nun mal kein Mineralwasser, zumindest nicht bei Woolford International.
„Alles klar“, antwortete er lahm.
Im George and Dragon herrschte bereits reger Betrieb, als sie einrückten.
„Meine Runde!“ Spencer erhob sich schwerfällig und arbeitete sich zur Bar vor. Er würde erst nach dem zweiten Glas richtig zum Leben erwachen, deswegen angelte er auch nachmittags seine meisten Kunden. Markus hatte sich schon oft gefragt, ob es den Leuten am anderen Ende der Leitung nicht auffiel, wie besoffen Spencer war, von beschwipst konnte ja kaum noch die Rede sein. Offenbar war dies nicht der Fall und die einzige logische Erklärung dafür war, dass die anderen Leute genauso unter Alkoholeinfluss standen. Rule Britannia, dachte Markus und suchte einen freien Tisch.
An der Bar vor ihm hatte sich schon Nancy breitgemacht, die pferdegesichtige Empfangsdame. Bei seinem Vorstellungsgespräch war Markus noch von Nancy eingeschüchtert gewesen, die wie verarmter Landadel hinter ihrem Tisch gethront hatte. Dieser Eindruck hatte sich nach der ersten Stunde mit ihr im George and Dragon verflüchtigt. Nancy konnte trinken und fluchen wie ein viktorianischer Bierkutscher.
Von allen Überraschungen, die ihm sein Gastland bislang offenbart hatte, war die der Engländerinnen am größten. Sie waren pudrige, rosige Geschöpfe, denen oft ein altmodischer Charme anhaftete, die man beschützen und an ihren kleinen Händen in ein blumenumranktes Cottage führen wollte. Nach einer gewissen Anzahl von Drinks aber waren sie auch enthemmte Vamps, die zotige Witze rissen und ohne Unterwäsche in Nachtclubs tanzen gingen. Sie waren die wahren Jekylls und Hydes des modernen Englands ...
Mittlerweile brodelte die ganze Kneipe. Rotgesichtige Männer in Anzügen flegelten sich in den plüschigen Bänken, lockerten ihre Krawatten und erzählten Witze. Nylonbestrumpfte Frauen lachten meckernd darüber. Es war Freitagnachmittag halb vier und zehn Tage vor Weihnachten.
Josh aus der Buchhaltung trug ein Rentiergeweih aus Samt auf dem Kopf und winkte Markus an seinen Tisch.
„Komm her!“, rief er. „Hier ist voll was los!“
Das konnte man wohl sagen. Fast die gesamte Belegschaft trug entweder Rentiergeweihe oder rote Weihnachtsmützen. Mindestens zwei Dutzend leere Gläser standen auf dem Tisch. Markus konnte es nicht fassen. Wann hatten die nur angefangen?
Sein Handy klingelte. Die Nummer seiner Mutter war auf dem Display zu sehen.
„Hallo, Mutti!“
„Hallo, Markus! Huch, was ist denn das für ein Lärm in deinem Büro?“
Er ging in den Kneipenvorraum hinaus.
„Wir haben gerade Weihnachtsfeier.“
„Ach, wie nett. Hast du denn Stollen mitgebracht? Gibt’s das überhaupt in London?“
Er hatte keine Ahnung, aber die Vorstellung, Spencer und den anderen einen Stollen neben ihre Bierhumpen zu legen, verursachte bei ihm beinahe einen Lachkrampf.
„Mama, es ist gerade nicht so günstig …“
„Verstehe schon. Dann viel Spaß und trinke nicht so viel Glühwein. Wichtelt ihr auch?“
Durch die Scheibe konnte er beobachten, wie Nancy stolperte und dabei ihr Glas über Skippys Anzug ausleerte.
„Ich glaube nicht“, sagte er zögernd.
„Das ist aber schade. Hast du mein Nikolauspäckchen bekommen?“
„Nein. Mutti, ich …“
„Ist ja schon gut. Sag mir Bescheid, wenn es ankommt. Schönen zweiten Advent. Tschüss.“
Advent. In der Lasterhöhle von Woolford International hatte er völlig vergessen, was das war.
Drei Stunden später hatte Markus auch ein Geweih auf dem Kopf. Bei seinem letzten Gang auf das Klo waren ein paar Frauen aus der Buchhaltung an ihm vorbei auf die Herrentoilette getorkelt. Spencer hatte einarmig einen Chor dirigiert, der „Last Christmas, I gave you my fart“ sang. Jemand hatte eine Rede gehalten, unzählige Biere waren vor Markus erschienen und er hatte es irgendwie verpasst, sich etwas zu essen vom Buffet zu holen. Von einer fremden jungen Frau hatte er ein Tütchen Speed erworben und seitdem redete er hektisch mit dem Typen mit der Zahnlücke.
„In Deutschland“, brüllte er dem Lärm entgegen. „In Deutschland ist Weihnachten ruhig und besinnlich!“
Der Zahnlückige schaute ihn entsetzt an.
„No shit!“, sagte er mitfühlend. „Das ist ja furchtbar!“
„Nein, nein!“ Markus schüttelte wild den Kopf. „Is nich furchtbar. Is besinnlich. Wir zünden vier Kerzen an. Ein Mal im Monat.“ Oder war es andersherum? „Eine Kerze, vier Mal im Monat.“ Er konnte irgendwie nicht erklären, was er meinte.
„Du meinst Channukka?“, fragte der Typ verwirrt.
Markus gab es auf. „Noch ein Bier?“, fragte er.
Zwei weitere Stunden später verspürte er den überwältigenden Drang, Skippy zu umarmen und Nancy zu gestehen, dass er sie sexy fand. Sein drittes Päckchen Zigaretten war leer. Markus torkelte nach draußen, wo die aussätzigen Raucher eine Art provisorische Leprakolonie gegründet hatten.
„Zwei Weltkriege und ein World Cup!“, brüllte ihm Spencer entgegen und hielt seinen Daumen nach oben. Er war schon ganz blau gefroren und schien die letzten zwei Stunden hier draußen verbracht zu haben. In der Eingangstür hing jetzt ein Mistelzweig, unter welchem sich Nancy heftigem Petting mit einem Unbekannten hingab. Diese alte Schlampe, dachte Markus wütend.
„Hast du noch Kippen?“, fragte er Spencer.
„Ich nicht, aber Nancy hat welche im Büro.“
Sie wankten die Sycamore Road entlang zum Büro und die Treppen hoch in den ersten Stock.
„Jetzt pass mal auf, Germane!“, kicherte Spencer. Er griff in Skippys unterste Schublade und holte dessen Shampooflasche heraus. Achtlos goss er den Inhalt ins Waschbecken, knöpfte seine Hose auf und pinkelte in die Flasche. „Merry Christmas, Skippy!“, kicherte er.
Markus wurde plötzlich kotzübel. Das Bier und die Drogen, alles drehte sich um ihn. Er musste hier raus!
Er schaffte es noch bis zu Nancys Empfangstisch, dann erbrach er sich klatschend auf den Eingangsteppich. Spencer lachte so sehr, dass er Schluckauf bekam.
„Kommst du noch mit ins Ministry of Sound?“, fragte Spencer.
Aber Markus wollte nirgendwo mehr hin. Er war froh, wenn er es noch nach Hause schaffte.
„Frohes Fest, Spenc’!“
Er winkte schwach und stolperte auf der Suche nach einem Taxi die Straße entlang. Sein Herzschlag galoppierte wie ein Echo in seinem Kopf und im Mund brannte der würgende Geschmack seines schalen Aufstoßens.
Der Taxifahrer blickte ihn nicht einmal an und fuhr ihn stoisch auf dem längsten Weg nach Uxbridge. Es kostete 62 Pfund, Markus gab 70.
Er schloss die Tür auf und stürzte über einen Karton vor seiner Zimmertür. Was war das denn für ein Müll? Die Schrift auf dem Karton verschwamm ihm vor den Augen, aber er konnte es dennoch entziffern. Es war das Päckchen seiner Mutter. Sie hatte das Paket mit kleinen Engelaufklebern verziert.
Er riss es auf und fand als Erstes eine Packung Elisenlebkuchen. Gierig stopfte er sich einen in den Mund. Das zimtige Nussaroma erinnerte ihn urplötzlich an zu Hause, an Weihnachtsmärkte und Schwibbögen, an gebrannte Mandeln und Glühwein und an Turmbläser, die „Leise rieselt der Schnee“ spielten.
Er stolperte in sein eiskaltes Zimmer und schaltete den jämmerlichen kleinen Gasofen an. Auf dem Fußboden lagen seine Kleidungsstücke der letzten Tage noch so da, wie sie ihm vom Leib gefallen waren.
Im Januar würde sich alles ändern, nahm er sich fest vor. Im Januar würde er ein neues und gesundes Leben anfangen.
Vielleicht sogar wieder in Berlin.