London Dream
London. East Sheen. Es ist früher Abend. Ich habe mich bei schwachem Licht auf die Couch zurückgezogen und lese. Fünf Kissen polstern meinen Rücken, eines auf meinem Schoß unterstützt den Roman, den ich lese.
Gabriele hat eine Nachricht geschickt – sie sei zu müde, die Arbeit habe sie alle Kraft gekostet, und ob ich ihr böse sei, wenn wir uns erst das nächste Mal sehen würden, wenn ich wieder in London sein würde – in drei Wochen.
Ja klar, ich bin verständnisvoll. Doch ein wenig schade ist es schon. Aber was soll’s. Es ist ja doch noch nicht aller Tage abend. Ob ich wohl noch allein losziehen soll – von der Ferienwohnung meiner Bekannten Kate in die Stadt sind es 20 Minuten, das ist nicht viel nach Londoner Maßstäben.
Oder weiterlesen...ich nehme das Buch zur Hand...und da ist plötzlich - Er. Ohne Voranmeldung, ohne Vorahnung.
Er setzt sich zu meinen Füßen auf die Couch. Zärtlich blickt er mich an aus weit geöffneten Augen. „Ich dich fürchten?“ Er antwortet auf die Frage, die ich ihm kurz vorher in Gedanken gestellt hatte. „Nein, ich fürchte dich nicht. Der Gedanke an Dich jagt mir jedoch Schauer über den Rücken, Schauer des Wunderbaren“ und da ich dies in seinen großen, erdbraunen Augen lese, beginnt er, zärtlich und vorsichtig, meine Füße zu liebkosen. Streichelnd und küssend mit Fingern und Lippen zugleich erkundet er jeden Zentimeter. Ich habe den Eindruck, jede einzelne Hautzelle strecke sich ihm entgegen und zerfließe unter seinen Berührungen. „Mehr, mehr, weiter, noch weiter“ flüstere ich. Da erwacht ein Teil in mir, der kritische, logische Part meiner Selbst: „Du gibst Dich einer Phantasie hin, einem Traum!“
Aber seine Hände lassen sich nicht stören. Langsam und in unendlicher Neugierde tasten sie sich weiter. Ich versuche nicht zu heftig zu reagieren, obwohl Seufzer mein Innerstes sprengen wollen. Ich will dieses Traumbild nicht durch eine unüberlegte, hastige Bewegung verscheuchen. Ich bin nackt unter seinen Händen. Seine Lippen, atemlos und kundig, finden ihren Weg, Zentimeter um Zentimeter. Langsam schiebt er seinen weichen, sanften und gleichzeitig kraftstrotzdenden Körper nach oben, und erschließt sich neue Reiche. In Lust krümme ich mich in die Kissen, es ist kaum zu ertragen, kaum zu erfühlen...
Als er sich meinem Gesicht nähert und ich verzaubert und mit geschlossenen Augen den süß-herben Duft seiner schwarzen Locken einatme, wird mir bewußt, daß auch er nackt ist. Seine leicht behaarte Brust streift über die meine und seine Erregung wird offenbar.
Ich bin wie gelähmt – unbeweglich vor Lust – gefangen in der Flamme des Begehrens.
Sein Gesicht schwebt nun über dem meinem, seine Hand ruht sanft auf meiner Wange, sein Körper auf mir. Ich öffne meine Augen und blicke ihn an. Er lächelt – seine Lippen bewegen sich sanft: „meine Liebste“...
Ein Wimpernschlag – und ich bin wieder allein im Zimmer. Alleine mit meiner kostbaren Erinnerung.