Live for nothing, or die for something
Erbarmungslos brannte die Sonne auf die versengte Erde. Die Steine glühten und schienen zu schmelzen in der flimmernden Luft. Alles Lebendige verkroch oder vergrub sich von den geißelnden Strahlen und wartete auf die Erlösung der Nacht. Alles, nur die Menschen nicht. Sie, mit Sturmgewehren in den Händen und von Mordlust gepackt, ließen die Motoren ihrer Pick-ups laufen, sprangen auf und brausten dem Gebirge entgegen, das wie eine Festung mitten aus der Ebene herausragte. Das Dorf, das hinter ihnen geplündert und zerstört zurück blieb, war menschenleer gewesen. Die Bewohner geflohen, die Ungläubigen, die Teufelsanbeter, die es zu vernichten galt, denn so wollte es ihr Gott, der Gott der Pick-up Fahrer, der einzig wahre. Ein Häuflein musste es sein, schlecht bewaffnet, alte Männer, Frauen, Kinder und, junge, hübsche Mädchen. Ein Geschenk vom Allmächtigen selbst. Die Gotteskrieger grinsten breit und zwinkerten einander zu. „Die können nicht weit sein“, grölten sie, „die kriegen wir!“
Günter Heldenstein lag unter dem Tarnnetzt und betrachtete durch das Zielfernrohr seines Dragunow-Scharfschützengewehrs, die auf das schmale Tal zurasende Kolonne. Er verstand sein Handwerk und hatte seine Position gut gewählt. Die Piste, die auf dem Hang ihm gegenüber sich in die Höhe schraubte, konnte er gut überblicken. Ein Weg, um sich abzusetzen war auch da, nur wusste Günter, dass er den nicht nehmen darf. Noch nicht, denn die Menschen aus dem Dorf brauchten mehr Zeit. Er musste, die Verfolger aufhalten, er und sein Gewehr.
Die Entfernung betrug noch 1,5 Kilometer, genug Zeit um zurückzublicken: Günter Heldenstein war 18 als er ausriss. Nach Frankreich in die Fremdlegion. Er suchte das Abenteuer, die Härte. Ja, er wollte beweisen, dass er mehr konnte als an Mofas schrauben, Bier saufen und Mädchen anbaggern. Er wollte raus, ein Mann werden, ein richtiger Mann!
Der Anfang in der Legion war holprig gewesen. Niemand glaubte an ihm. Die Zeit der Deutschen sei vorbei, hatte ein Ausbilder immer wieder ihm zugebrüllt. Schwach seien sie geworden, schwach wie Weiber. Aber Günter bestand. Er wurde Fallschirmjäger, eine Elite. Er war stolz auf sich, zum ersten Mal in seinem Leben stolz!
Nach 5 Jahren kehrte er in seine beschauliche badische Heimat zurück. Alles glatt, alles sauber. Günter widerte es an aber er versuchte sich anzupassen: Fand einen Job, gut bezahlt von 8 bis 5, besorgte sich Kumpels für die Bierrunden und ein Mädchen für das Bett. Dann wurde es schwanger, Hochzeit musste her, „wie es sich gehört“, hatte es gesagt und ihn lange angeschaut. Er stimmte zu und fragte sich, ob dies noch sein Leben war. Doch das war es. Es zog ihn mit und nach und nach hörte Günter auf zu zappeln. Behaglich verfloss die Zeit. Söhnchen David wurde geboren und wuchs heran. Stolz führte Günter ihn in den Kindergarten. Stolz bastelte er mit David eine Laterne für Martinsumzug und eine Krippe für das Weihnachtsfest.
Die Jahre rannen davon. Nur manchmal träumte Günter noch von der Legion, von den Bergen Korsikas, von den Urwäldern Guyanas, vom Saharasand, von Dreck und Müdigkeit, von Kämpfen und Siegen. Aber dann wachte er auf und machte weiter wie bisher. Nur die Sehnsucht nach Stolz kratzte noch ein wenig in seiner Seele und machte ihn für ein paar Tage unausstehlich. „Hast wohl deine Tage, was?“, fragte die Frau und fügte noch hinzu, „aber erzähl David bloß nicht von deinen Kriegsspielchen, klar?“ Günter nickte.
Plötzlich änderte sich die Welt, die Mauer fiel, die Staaten zerfielen, neue wurden ausgerufen und die Brüder von gestern gingen einander an die Gurgel. Günters Arbeitskollege, der stille und fleißige Jugo Miro flüsterte ihm eines Tages in der Kantine zu, dass er zurück nach Kroatien, in den Krieg, gehen will. „Aber deine Familie?“, fragte Günter. Miro zuckte die Achseln, „Naja“, brummte er, „die Kinder sind versorgt und eines Tages werden sie es verstehen und stolz auf ihren Papa sein. Außerdem, wer sagt es denn, dass ich mich da von diesen Serbenschweinen abknallen lasse?“
„Und, die Sabine?“, hakte Günter nach aber Miro schüttelte nur den Kopf. „Die Sabine“, wiederholte er und machte eine wegwerfende Handbewegung, „die kommt ohne mich klar. Jede Wette. Aber lassen wir die Weiber, Günter. Was ich dich fragen wollte ist … ich meine, wozu sind Männer überhaupt da?“ Die Frage brach aus Miro heraus, „ich meine ohne diesen Frauenquatsch und so. Doch um zu kämpfen oder? Um das eigene Land und so, oder?“, fragte er und sah Günter an. „Siehst du! Und deshalb gehe ich hin! Genau deshalb!“
Miro ging und fiel bei seinem ersten Gefecht bei Vukovar. Seine Frau, die Sabine, trauerte nicht lange und kam bald mit einem Serben zusammen. Dies war das Gesprächsthema in der Kantine. Günter hörte zu und fragte sich, was er noch hier sollte. Hier, in der Kantine, im Werk, im Bett, am Tisch an den sauberen Straßen, zwischen all den polierten Gesichtern und leerquatschenden Mäulern. Wer braucht ihn hier? Etwa sein Sohn? Günter schaute zurück auf sein Leben und sah nur die Legion. Er schaute nach vorn und sah den Tod, wahrscheinlich im Krankenbett oder auf dem Klo in irgendeinem vom Sohn ausgewähltem Altenheim.
Strohtod hatten es die Germanen genannt, für sie die schlimmste Schande, die einem Mann passieren konnte. Als Günter das gelesen hatte, verstand er, dass er nun wieder zum Leben kommen musste, bevor es zu spät war. Noch am gleichen Abend rief er seinen alten Kameraden Jean in Paris an und fragte, ob er ihm helfen könne. „Klar“, sagte Jean, „wo willst du hin, Günter?“
„In den Dreck, Jean.“
„So schlimm? Naja, in Kroatien, da geht es ab. Ein paar von uns sind schon da. Allerdings, kein großes Geschäft, weißt du?“
„Scheiß darauf!“
„Ok, wie du willst. Hier, die Nummer …“
So ging Günter in den Krieg. Er kämpfte in Kroatien, Kolumbien, Kongo und Irak. Seine Fertigkeiten wurden gefragt und auch gut bezahlt. Längst hätte er sich zur Ruhe setzten können. Hätte ein Landhäuschen haben können und ein hübsches Mädchen noch dazu. Aber Günter Heldenstein suchte mehr, er suchte einen gerechten Krieg und fand ihn bei den Kurden.
Noch 800 Meter. Vielleicht sollte ich, wenn das hier vorbei ist, mal nach Deutschland reisen, dachte Günter und nahm den ersten Pick-up ins Visier. Im nächsten Jahr? Da wird David dreißig. Wie ist er so geworden, mein Sohn? Ist er ein Mann? Ein richtiger Mann?
Günter schloss kurz die Augen. Diese Fragen verwirrten ihn. Keine Zeit dazu jetzt, sagte er sich, keine Zeit …
David Heldenstein trug einen anderen Namen. Als er achtzehn war, nahm er, zur Freude seiner Mutter, den Nachnamen seines Stiefvaters an und hieß von da an, Herr Meier. David fand den Nachnamen Meier zwar auch blöd, aber besser als dieses komische “Heldenstein“, war es schon. Ein Name wie eine Burg und außerdem; Held? Er war kein Held und wollte auch keiner sein. David wollte erst ein Fahrrad, dann ein Mofa und mit 18 einen tiefergelegten VW Golf, um die geilsten Mädchen abzuschleppen. Er bekam das alles, denn das Geld war nie ein Problem gewesen, obwohl seine Mutter nie Arbeiten ging. Als David mal danach fragte, erzählte Mutter knapp von irgendwelchem Erbe von irgendwelchem Onkel. David hakte nicht nach, warum auch?
Sein Vater jedenfalls war ein Feigling und ein Verlierer gewesen, das wusste er und das wiederholte die Mutter jedes Mal. Sein Stiefvater dagegen, der letzte, der Herr Meier, war nett, ansonsten hatte er ihn in Ruhe gelassen.
In der Schule war David nicht der Bringer, schaffte aber gerade noch das Abi. Nach seinem Zivildienst ging er studieren. Das Uni Leben gefiel David gut und er verpasste nichts.
Nach dem Studium dachte er, dass es jetzt an der Zeit wäre, die Welt kennenzulernen. Also kaufte sich David ein Round the World Ticket. Pflichtbewusst absolvierte er auf seiner Reise das Programm der Millionen Individualisten: Er besuchte Bog Apple, Golden Gate und Hollywood, tauchte am Great Barrier Reef, bestieg einen Vulkan auf Neu Seeland, lernte Surfen auf Bali und feierte mit billigen, einheimischen Mädchen in Thailand.
Nach einem Jahr kehrte er zurück, reich an Erfahrungen und in englischer Sprache sehr gewandt. Besonders Fluchen, konnte er wie ein native Speaker.
Nun dachte David, es wäre an der Zeit, sich dem Ernst des Lebens zuzuwenden. Also setzte er sich hin und tippte seine Bewerbungen. Nach einigen hin und her, bekam er eine Stelle in einer Firma, deren Name allein schon alle neidisch machte. Der Job war sicher und die Rente konnte kommen.
Nun dachte David, fehlt mir noch die richtige Frau. Er machte sich auf die Suche, schüchtern war er nie und nach einigen abgebrochenen Probeläufen, fand David sein gutes Stück. Es hieß Paula war hübsch anzusehen, hatte studiert und konnte klug daher reden.
Nun wäre es an der Zeit ein Häuschen zu bauen, entschied sich David und Paula hatte nichts dagegen. Also ein Häuschen wie aus dem Katalog, weiß und groß mit zwei Kinderzimmern und Terrasse. Nach einigem hin und her fanden die Beiden das Grundstück im Neubaugebiet in der Nähe und konnten loslegen.
David gefiel die Zeit ganz vortrefflich. Er liebte es den Bauherren zu spielen. Da und dort den rumänischen Hilfsarbeitern Kommandos zu geben, ihnen mit Ausdruck der unendlichen Güte das Geld in bar auszuzahlen, wobei er manchmal sogar ein saftiges Trinkgeld draufpackte. Kurz, er war gern Bauherr. Dabei vergaß er auch nicht seine anderen Pflichten. Er war engagiert; in der freiwilligen Feuerwehr und im Fußballklub der Firma.
Auch ein Kind kam nach Plan, als das Haus fertig war, gebar Paula per Kaiserschnitt einen Jungen, den sie unbedingt Liam nennen wollte. David hatte nichts dagegen gehabt. „Das Ganze“, erzählte er allen, „war echt mega stressig gewesen!“ Die Beiden beschlossen mit Nummer zwei noch ein bisschen zu warten.
Die Zeit verging. Stolz schob David jeden Sonntag seinen teuren Buggy durch die sauberen Straßen der Neubausiedlung. Er war zufrieden mit sich und hatte keine Wünsche mehr. Sein Haus war groß, sein Auto schick, sein Rasen top und die Blicke der Nachbar voller Anerkennung. Nur manchmal, nachts im Bett, überfiel ihn plötzlich die eine Angst, dass er das alles verlieren könnte. Dann lag er wach da und überlegte, ob er vielleicht etwas falsch gemacht hätte, aber da war nichts, sein Chef war zufrieden und die Kollegen sowie Freunde auch. Keine Veränderung war zu erwarten. Beruhigt schlief er wieder ein.
Eines frühen Herbstabends aber, da hielt ein Auto vor seinem Haus. Zwei Männer stiegen aus. Elegant gekleidet, groß, einer mit einem Diplomatenkoffer in den Händen. David sah sie in der Kamera kommen. Es klingelte. „Mach nicht auf!“ keuchte Paula und krallte sich an seinem Oberarm fest.
„Jetzt komm mal runter!“, schnauzte er sie an und nahm den Hörer der Sprechanlage ab:
„Hallo?“
„Herr Meier?“
„Ja, bitte?“
„Entschuldigen Sie bitte Herr Meier, aber es geht um Ihren Vater Herrn Günter Heldenstein. Es ist persönlich. Dürfen wir kurz reinkommen?“
David zögerte: Der Akzent, das ganze Auftreten, wie in einem beschissenen Mafiafilm, dachte er, aber was haben diese Typen denn mit meinem Erzeuger zu tun? Und, der Diplomatenkoffer? David sah Paulas weit aufgerissenen Augen und rief so fröhlich als wäre alles nur ein Scherz: „Bleib locker Pauli! Wir sind doch mitten in fucking Deutschland. Was soll da schon passieren, na?“
„Ohne mich!“, sagte Paula und verschwand hinter einer Tür.
Die beiden Männer traten mit vorsichtigeren Schritten ein, entschuldigten sich erneut für die Störung und reichten David die Hände zur Begrüßung und stellten sich jeweils als Vertreter der kurdischen sowie jesidischen Gemeinde vor. Dies sowie all die Gesten der Ehrerbietung der Männer verunsicherten und schmeichelten David gleichzeitig. Stotternd und mit Armen fuchtelnd bat er die Männer, ins Wohnzimmer zu gehen.
„Bitte, meine Herren, nehmen Sie Platz“, hörte David sich sagen und zeigte auf das Sofa. Die Männer setzten sich.
„Was zu trinken?“, fragte er, um Lockerheit bemüht. Die Männer lehnten ab.
„Naja“, mummelte David als gelte es nun eine schwere Matheaufgabe zu lösen und nahm den beiden gegenüber Platz.
Ein paar Sekunden vergingen. Dann räusperte sich der ältere der Beiden: „Herr Meier“, fing er an, „wir sind zu Ihnen gekommen, um leider Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Vater Herr Günter Heldenstein am 26 August dieses Jahres im Kampf gegen den IS in Nordirak gefallen ist.“
„Mein Vater ... bitte was? Gefallen?“ Davids Stirn kräuselte sich. Das Ganze machte für ihn keinen Sinn. Also er verstand die Worte aber... Wie im Film, dachte er und fragte noch einmal erstaunt: „Gefallen?“
„Ja“, bestätigte diesmal der Jüngere und die Männer erhoben sich von ihrem Platz.
„Sie wissen es wohl nicht Herr Meier aber Ihr Vater war ein Kämpfer für die Freiheit des kurdischen Volkes. Er war ein Held! Bei seinem letzten Einsatz rettete er hunderte Menschenleben. Sie können stolz auf Ihren Vater sein!
Hier, in diesem Koffer sind ein paar Sachen, die Sie haben müssen Herr Meier. Und, erlauben Sie uns, in Namen der beiden Völker, Ihnen unser tiefstes Beileid auszusprechen. In zwei Tagen finden in allen kurdischen und...“Ein Kinderschrei unterbrach die Rede des Mannes, eine Tür knallte irgendwo im Haus zu, eine Frauenstimme schrie auf. David zuckte die Achseln. „Frau“, stammelte er entschuldigend „das Kind ist noch klein. Wissen Sie?“ Die Männer sahen sich an, dann fuhr der Unterbrochene fort: „und jesidischen Gemeinden die Trauerveranstaltungen für Ihren Vater statt. Selbstverständlich sind Sie und, Ihre Familie herzlich Eingeladen. Es wird uns und eine Ehre sein. Sie brauchen sich dann um nichts zu kümmern, Sie müssen nur diese Nummer anrufen.“ Der Mann übergab David eine Visitenkarte. „So, wir gehen jetzt. Möge Friede mit Ihnen und Ihrer Familie sein Herr Meier. Wir alle werden für Ihren Vater beten. Er war ein Held, seien Sie stolz auf ihn. Auf Wiedersehen, Herr Meier!“
Mit diesen Worten verließen die Männer das Haus und ließen den ratlosen Hausherren allein auf der Flur. David brauchte ein paar Augenblicke. Das Ganze war to much, für sein Gehirn. Immer noch benommen trottete er mit dem Diplomatenkoffer in der Hand zurück ins Wohnzimmer. Paula empfing ihn da, mit Liam auf den Arm und einem schiefen Grinsen auf den Lippen.
„Held was?“, fragte sie
„Ach, hör doch auf!“
„Und, machst du das Köfferchen auf?“
„Warum nicht?“
„Naja, wer weiß …“
David winkte ab und ließ sich mit einem Seufzer in den Sessel fallen. Den Koffer legte er auf den Couchtisch. Er zögerte einen Moment auch Paula schlug das Herz bis zum Halse. Die Verschlüsse sprangen auf, David hob den Deckel an, griff hinein und holte eine Mappe raus, sonst nichts. David durchsuchte noch die kleinen Taschen fand aber nichts, schließlich öffnete er die Mappe: Oben drauf lag ein Portraitfoto, Mein Vater, erkannte David, legte das Foto ab und blätterte weiter. Auch Paula hatte inzwischen den Kleinen spielen lassen und sah David über die Schulter. Listen kamen zum Vorschein. „Na da sind wohl die Menschen, die mein Vater gerettet hatte“, sagte David nicht ohne Stolz.
„Schindlers Liste, was?“, sagte Paula spitz. Aber David überhörte die Bemerkung: „Und hier", rief er, "eine Karte, muss wohl die Gegend sein, wo er gefallen ist und das da, sein Lebenslauf. Fuck, schau dir das mal an! Irak...Jugoslawien!“
Paula winkte ab: „Was sollen wir damit?“
David blickte auf „Und, was hast du denn erwartet?“
Sie verdrehte die Augen „Du bist ja echt ein Knallkopf David weißt du das? Meinst du wirklich, dein Daddy hat die Menschen umsonst abgeknallt?“
David runzelte die Stirn. Erst vor kurzem hatte er eine Reportage über Blackwater angeschaut. Echt krasse Typen da, mit krass viel Geld. Wo ist es? David dachte nach. Da wurde ihm plötzlich einiges klar: „Du“, rief er Paula zu, „ ich rufe gleich meine Mum an!“