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Live at Night (Kapitel 1)

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20.01.2025
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Live at Night (Kapitel 1)

Der Wind rüttelt laut an den Fenstern meiner Wohnung, als ich in der Küche stehe und die leere Kaffeetasse auf die Arbeitsplatte stelle. Der Regen prasselt in dichten Schleiern gegen die Scheiben, die Häuser auf der anderen Straßenseite sind kaum zu erkennen. Es ist zehn Uhr morgens, aber der Himmel sieht aus, als wäre es schon spät am Abend.

Seit gestern Abend tobt dieser Sturm, und in allen Nachrichten heißt es immer wieder: „Bleiben Sie möglichst zu Hause. Lebensgefahr durch umstürzende Bäume, herabfallende Äste und umherfliegende Trümmer". Ich schalte den Fernseher aus. Die Worte wiederholen sich nur in meinem Kopf, wie eine kaputte Schallplatte.

Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Die Äste des Ahornbaumes vor dem Haus peitschen hin und her, als wollten sie sich losreißen. Es ist, als hätte sich die ganze Welt gegen mich verschworen. Dabei sollte heute unser Tag werden.

Mein Handy vibriert in meiner Tasche. Ich weiß, dass es Lara ist. Sie hat mir heute Morgen geschrieben: „Wie sieht's aus? Geht's los? Hoffentlich hält dich das Wetter nicht auf." Ich höre fast ihre Stimme, sehe ihre braunen Augen vor mir, wie sie mich in einem ihrer kurzen Videochats angesehen hat. Zwei Monate. Zwei Monate voller Nachrichten, Emojis und Anrufe, und jetzt soll ein verdammter Sturm alles kaputt machen?

Ich schüttle den Kopf und gehe auf den Flur. Mein Blick fällt auf den Rucksack, den ich gestern Abend gepackt habe. Ein paar Klamotten, Zahnbürste, Ladegerät. Alles bereit. Aber trotzdem stocke ich. Ich stehe da, starre auf die Türklinke und meine Gedanken rasen.

Was, wenn die Straßen gesperrt sind? Was, wenn ich irgendwo im Nirgendwo feststecke? Was, wenn ich nicht ankomme?

Der Wetterbericht sagt, dass es im Laufe des Tages immer schlimmer wird. Erst am Montagmorgen soll der Sturm nachlassen. Ich könnte absagen. Lara würde es verstehen. Sie ist einfühlsam und würde mir nicht böse sein. Aber ich würde es mir nie verzeihen.

Mein Herz schlägt schneller als ich Luft hole. Nein. Ich fahre. Ich habe so lange darauf gewartet, sie endlich zu sehen, sie in die Arme zu schließen, ihren Geruch einzuatmen, ihr Lächeln in echt zu sehen. Das lasse ich mir nicht nehmen - nicht von ein paar umstürzenden Bäumen oder einem Sturm.

„Alles wird gut", sage ich leise zu mir selbst. Meine Stimme klingt nicht besonders überzeugt, aber ich zwinge mich, die Jacke zu nehmen und den Schlüssel vom Haken zu greifen.

Als ich die Tür öffne, schlägt mir der Wind eiskalt ins Gesicht und der Regen rinnt mir sofort über die Stirn. Ich ziehe die Kapuze hoch und renne zum Auto. Die Windböen zerren an mir, und ich muss mich mit beiden Händen an der Wagentür festhalten, um sie überhaupt zu öffnen. Ich lasse mich auf den Fahrersitz fallen und atme schwer aus. Der Innenraum des Kombis fühlt sich eng und vertraut an. Hier ist es warm. Hier ist es sicher.

Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss und der Motor hustet einmal, bevor er anspringt. Ein tiefes Brummen, fast wie ein treues Versprechen. Mein Blick fällt auf die kleine Kuscheldecke auf dem Beifahrersitz, die ich für Lara mitgenommen habe. Sie hat mir mal erzählt, dass ihr im Auto immer kalt wird. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

„Los geht's", murmele ich und lege den Rückwärtsgang ein. Die Scheibenwischer quietschen, als ich aus der Einfahrt rolle. Der Regen prasselt, der Wind heult und ich weiß, dass es eine gefährliche Fahrt wird. Aber ich habe nur einen Gedanken: Bald sehe ich sie. Endlich.

Der Motor brummt gleichmäßig, als ich den Wagen auf die Autobahn lenke. Meine Finger klammern sich fester um das Lenkrad, als eine Böe den Wagen kurz zur Seite drückt. Die Reifen schneiden durch das Wasser, das sich in dicken Pfützen auf der Fahrbahn sammelt. Ich schalte die Lüftung höher, um die beschlagene Scheibe freizubekommen, und der Luftstrom rauscht in meinen Ohren.

Die Strecke ist lang und führt durch offene Felder und Wälder. Der Wind scheint hier noch stärker zu sein, nichts bremst die Böen. Mehrmals muss ich bremsen, um Ästen oder kleinen Bäumen auszuweichen, die mitten auf der Straße liegen. In der Ferne blinken immer wieder Blaulichter. In Uelzen war eine Kreuzung komplett gesperrt, Feuerwehrleute standen dort und versuchten, einen riesigen Baumstamm von der Fahrbahn zu ziehen. Ich musste einen Umweg fahren, der mich noch mehr Zeit gekostet hat.

Trotz des Sturms bin ich bei weitem nicht der Einzige, der unterwegs ist. Auf den Straßen sind immer noch Lastwagen und kleinere Autos unterwegs, manche sogar mit Anhängern. Ich frage mich, ob sie genauso dringend irgendwohin müssen wie ich. Vielleicht. Oder sie sind einfach nur verrückt - genau wie ich.

Meine Gedanken schweifen ab, als ich an einem dieser endlosen Felder vorbeifahre. Der Regen prasselt auf das Autodach und die Scheibenwischer kämpfen verzweifelt gegen das Wasser. Ich fühle mich wie in einer Blase, die nur aus Geräuschen besteht - Motor, Regen, Wind.

Ich frage mich, wie es wohl sein wird, wenn ich endlich bei Lara bin. In Gedanken sehe ich sie vor mir, mit ihrem lockeren Lächeln und den leicht zerzausten Haaren, die sie nie wirklich bändigen kann. Zwei Monate habe ich darauf gewartet, sie in die Arme schließen zu können. Und jetzt sitze ich hier, mitten im Sturm, auf dem Weg zu ihr. War das die richtige Entscheidung?

Dieser Gedanke geht mir immer wieder durch den Kopf. Es wäre so einfach gewesen, heute Morgen abzusagen. Sie hätte es verstanden, das weiß ich. Lara ist nicht der Typ, der jemanden unter Druck setzt. Aber etwas in mir lässt es nicht zu. Ich will sie sehen. Nein - ich muss sie sehen.

Kurz vor Lüneburg wird es heftiger. Der Regen fällt jetzt wie ein Vorhang und nimmt mir die Sicht. Ich kann keine 50 Meter weit sehen, die Lichter der anderen Autos verschwimmen in der Dunkelheit. Der Wind drückt gegen das Auto, und ich spüre, wie ich das Lenkrad fester umgreife, als könnte ich den Sturm irgendwie bändigen.

Als ich endlich Lüneburg erreiche, atme ich tief durch. Der Regen prasselt in Wellen auf die Windschutzscheibe und meine Augen brennen vor Anspannung. Die Straßen hier sind fast menschenleer. Ich suche nach einer Tankstelle und finde schließlich eine, die wie eine kleine Rettungsinsel in der Dunkelheit wirkt.

Ich schiebe mich auf den nächsten Parkplatz, lasse den Motor laufen und starre einen Moment lang nur durch die beschlagene Scheibe. Meine Hände sind immer noch fest um das Lenkrad gekrallt. War das wirklich die richtige Entscheidung?

Langsam löse ich meine Finger, schüttle den Kopf und sage leise: „Erst mal tanken". Es ist wie eine Pause von all den Gedanken, die sich wie ein Sturm in meinem Inneren anfühlen.

Als mir wieder bewusst wird, was ich eigentlich vorhatte - Tanken - lege ich den Rückwärtsgang ein und fahre langsam vom Parkplatz zur Zapfsäule. Der Regen trommelt unerbittlich auf das Autodach, während ich mich an die nächste freie Zapfsäule herantaste.

Ich öffne das Fenster ein wenig, um einen Blick auf den Automaten zu werfen, und sofort treibt mir der Wind eiskalte Tropfen ins Gesicht. Auf der Anzeigetafel steht in großen roten Ziffern der Preis: 1,67 Euro pro Liter Diesel. Ich seufze und schüttle den Kopf. Die spinnen doch. Wo sollen die Preise denn noch hin?

Aber was bleibt mir noch? Ohne vollen Tank komme ich keine 100 Kilometer weit. Und der Gedanke, irgendwo auf halber Strecke liegen zu bleiben, ist einfach keine Option. „Egal", murmle ich und stelle den Motor ab. Für sie. Für Lara.

Ich öffne die Tür und trete hinaus in den peitschenden Regen. Sofort schießen mir kalte Tropfen ins Gesicht und rinnen mir den Nacken hinunter. Der Boden ist eine einzige Pfütze und das Wasser schwappt in meine Schuhe, als ich die Zapfpistole in den Tankstutzen stecke.

Mit jeder Sekunde, die der Diesel durch den Schlauch rauscht, springen die Zahlen auf der Anzeigetafel schneller nach oben. Wie hypnotisiert starre ich darauf, während meine Gedanken wieder abschweifen. Ob sie mit ihren Vorbereitungen schon fertig ist? Sie hatte gesagt, sie wolle noch ein bisschen aufräumen, bevor ich komme. Ich sehe sie vor mir, wie sie durch ihre kleine Wohnung läuft, vielleicht die Kissen aufschüttelt oder in die Küche huscht, um nachzusehen, ob noch genug Kaffee da ist.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, aber es verschwindet schnell wieder, als mir der Wind einen weiteren kalten Regenschauer ins Gesicht treibt. Ich stecke die Pistole wieder in die Halterung.

Nachdem ich die Zapfpistole wieder in die Halterung gesteckt habe, ziehe ich mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und renne zur Tankstelle. Der Wind drückt die Tür hinter mir laut ins Schloss und für einen Moment bin ich überrascht von der warmen, stillen Luft im Inneren.

Der Verkäufer hinter der Kasse schaut mich mit großen Augen an, als hätte er heute niemanden erwartet. Vielleicht war ich tatsächlich sein erster Kunde an diesem Mittag - wer tankt schon freiwillig bei diesem Wetter? Seine Überraschung bringt mich zum Schmunzeln.

„Ganz schön wild da draußen", sage ich, zücke mein Handy, öffne Apple Pay und halte es an das Lesegerät. Der Signalton bestätigt die Zahlung und der Verkäufer händigt mir die Quittung aus.

„Und es soll noch schlimmer werden", murmelt er und wirft einen Blick nach draußen, wo der Regen in Strömen auf den Asphalt prasselt.

„Ja, das habe ich gehört. Aber ich habe keine andere Wahl." Mein Ton klingt entschlossener, als ich mich fühle.

Doch dann geschieht etwas Merkwürdiges. Der Verkäufer greift in die Kasse und legt mir Münzen und ein paar Scheine hin - Wechselgeld. Einen Moment starre ich auf die Scheine und runzle die Stirn. „Äh ..." Ich zeige auf mein Handy. „Ich habe mit Karte bezahlt."

Der Verkäufer schaut erst auf das Geld in seiner Hand, dann wieder zu mir, und plötzlich fängt er an zu lachen - ein ehrliches, fast erleichtertes Lachen. „Mensch, Sie haben recht. Das ergibt wirklich keinen Sinn." Er schüttelt den Kopf, legt das Geld zurück in die Kasse und sieht mich mit einem entschuldigenden Lächeln an.

„Kein Problem", sage ich und lache mit. Für einen Moment fühle ich mich fast wie in einer normalen, entspannten Situation, trotz des Sturms, der draußen tobt.

„Na dann, gute Reise", sagt er schließlich. Seine Worte klingen ehrlich, fast besorgt. Ich nicke ihm zu, schiebe die Tür wieder auf und trete hinaus in die tosende Dunkelheit.

Der Regen hat nicht wirklich nachgelassen, aber ich bilde mir ein, dass er zumindest etwas weniger wütend gegen die Fensterscheiben prasselt. Man muss jede Gelegenheit nutzen, denke ich mir, während ich zum Auto eile.

Als ich die Tür öffne und mich auf den Sitz fallen lasse, atme ich tief durch. Mein Pullover ist an den Schultern schon wieder durchnässt und die Jeans klebt an den Beinen. Aber das macht nichts. Ich will nur weiter, so schnell wie möglich.

Der Motor startet mit einem vertrauten Brummen, ich werfe einen letzten Blick auf die Tankstelle und lege den Vorwärtsgang ein. Der Verkäufer steht immer noch an der Kasse und schaut mir hinterher. Vielleicht hält er mich für verrückt, bei diesem Wetter weiterzufahren. Aber er weiß auch nicht, warum ich es tue.

Ich schalte die Scheibenwischer ein, gebe langsam Gas und rolle langsam auf die Hauptstraße. Jeder Kilometer bringt mich ihr näher - und nur das zählt.

 

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