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Lisa
Ich fühle den Wind, wie er mir Haarsträhnen in die Augen bläst. Das Leder unter meinen Fingern ist kalt, abgenutzt – ich bin nicht die Erste, die es berührt. Und eigentlich auch nicht diejenige, die es tun sollte. Ich lache auf. Was soll`s? Ich fühle mich frei, ich fühle mich wild, ich fühle mich gut. Wenn ich etwas verlange, warum sollte ich es mir nicht holen? Ich kann machen, was ich will. Ich bin unbesiegbar. All diese Gefühle die in mir toben, genau in diesem Moment, lassen sich mit Unbesiegbarkeit zusammenfassen. Ich kann meine grundlose Angst vergessen und durch das Adrenalin ersetzen, das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönt den Lärm der Gedanken in meinem Kopf. Ich bin unbesiegbar. Sirenen heulen hinter mir auf. Ich lasse das alte Leder mit meiner rechten Hand los, schalte einen Gang hoch. Die Reifen heulen auf und der 65-iger beschleunigt. Wenigstens habe ich jetzt einen Grund, wegzulaufen. Die ohrenbetäubenden Schreie der Sirenen hinter mir werden lauter und ich reisse das Lenkrad herum. Rückwärtsgang, wenden, hochschalten – und jetzt bloss nicht loslassen. Durchhalten, keine Furcht zeigen, Geschwindigkeit halten. Ich ziehe kräftig an meiner Marlboro Light und halte geradewegs auf die weiss-blauen Fahrzeuge vor mir. Nur noch wenige Meter und wir drohen zusammen in Flammen aufzugehen. Für den Bruchteil einer Sekunde kann ich die entgeisterten Gesichter der Cops sehen, als sie im letzten Moment das Gaspedal durchdrücken um dem auf sie zurasenden Mustang zu entkommen. Grinsend fahre ich davon und blase den Rauch aus dem Fenster. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, blendet mich. Ich schliesse die Augen und nehme die Hände vom Lenkrad… Ich muss wohl verrückt sein, nicht wahr? Das ist die einzig mögliche Erklärung, die einzig plausible. Oder ich gehöre einfach nicht hier hin, in diesen Moment, in dieses Leben, in diese Welt. Ich bin nicht verrückt, ich bin einfach nicht normal. Ich passe nicht in die Kuchenform der durchschnittliche Menschen. Ich wurde nicht nach dem Rezept der Lisa Musterfrau hergestellt. Man nehme eine Frau, vermenge diese mit einem Ehemann, einem Haus in einer kleinen Vorstadt mit gepflegtem Vorgarten. Darin wachsen Rosen, und zwei artige Kinder hüten sich vor ihren Dornen, während sie im Grünen spielen. Noch eine Prise Langeweile, etwas Aussichtslosigkeit, abgeschmeckt wird mit Hoffnungslosigkeit. Ich würde eingehen wie die Rosen, welche vernachlässigt werden, wenn Lisa heraus findet, dass ihr Mann sie mit der neuen Angestellten betrogen hat, die gleich am nächsten Tag kündigt. Nicht weil sie eine Affäre mit dem Chef hatte, sondern lediglich aus dem Grund, weil sie es kann. Weil sie weiss, dass sie begehrt wird, weil sie weiss, dass sie, wohin auch immer sie geht, immer unabhängig und stark bleiben wird. Sie ist furchtlos, hat nichts zu verlieren, lacht hämisch in die grauen Gesichter der Lisas. Sie lacht sie aus und die Lisas haben Angst vor ihr, vor der notorischen, gefährlichen, verrückten Unbekannten. Sie ist nicht normal. Sie ist ich. Und dennoch renne ich vor ihr weg. Dennoch möchte ich sie nicht sein. Wenn ich könnte, würde ich für immer in diesem tiefblauen 65-iger sitzen und einfach nur fahren. Ich würde mir Tattoos stechen lassen, Sprit stehlen, Jazz singen und der einzige Mann, den ich in mich lassen würde, wäre Jim. Aber ich weiss, dass ich mich damit bloss wieder hinter einer anderen Fassade verstecken würde. Das nette Mädchen von nebenan jagt dem amerikanischen Traum nach. Es muss auch seine Vorteile haben, eine Lisa zu sein. Unscheinbar, unschuldig, unbefangen. Es muss sich gut anfühlen, zu wissen, was morgen kommt. Zwar ist es genau das, was mir das Essen von gestern Nacht wieder hochkommen lässt, diese Enge, diese gezwungene Routine, diese fehlende Leidenschaft – aber bin ich auch glücklich, wenn ich mir jede Woche eine neue Bleibe suchen muss? Wenn mein Kühlschrank zu zwei Dritteln aus flüssigem Gold besteht, wenn mein Lebenslauf leer bleibt und meine Geschichten, die ich Freitagabend in der Bar erzählen kann zunehmen? Ich fühle mich rastlos, nicht einmal das ewige Reisen schafft es, mich zu beruhigen. Ich weiss nicht, was ich tun soll. Ich schaffe es nicht, eine Lisa zu sein, die nie vergisst, ihre Blumen zu giessen, ich schaffe es nicht, das Mädchen zu sein, das die Schule abbricht um Autos zu stehlen und damit endlos im Kreis zu fahren. Ich schaffe es nicht, etwas dazwischen zu sein. Die Reifen heulen auf. Ich halte an, nehme den letzten Zug und werfe die Kippe aus dem Fenster. Auf dem Beifahrersitz liegt meine Bewerbung für eine Stelle als Journalistin in einer unbedeutenden Tageszeitung, nahe der Stadt der Engel. Ich könnte versuchen, eine Lisa zu werden. Doch nur schon beim Gedanken daran läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Lisa, Lisa, Lisa… Die Landstrasse liegt verlassen vor mir. Etwas erstrahlt und blendet mich für einen Augenblick, der Wagen gerät ins Schleudern, meine Herzfrequenz schnellt in die Höhe, ich lache und bringe meinen Hengst wieder unter Kontrolle. Könnte ich das wirklich durchziehen? Morgens mit einem Wecker anstatt zusammen mit der Sonne aufzuwachen? Mit der U-Bahn zur Arbeit fahren anstatt mit gestohlenen Schönheiten wie dieser hier? Ich erkenne, was mich vorhin erblinden hat lassen; das metallene Schild einer Tankstelle hatte in der Sonne reflektiert. Ich fahre rechts ran und möchte gerade aussteigen, als jemand an die halb heruntergefahrene Scheibe klopft. Ich blicke zum Fremden auf. Blaue Levi`s, Pilotenbrille, pafft mir den Rauch ins Auto.
„Brauchst du Sprit?“
Lisa oder ich?
„Ich weiss nicht, brauche ich welchen?“, frage ich ihn. Ich schwöre, würde irgendwo noch ein Porsche herumstehen, ich hätte ihn für James Dean gehalten.
Lisa oder ich?
Ich fahre das Fenster ganz herunter, damit er einen Blick auf meine Anzeige erhaschen kann. Seine Augen ruhen aber auf mir. Er fragt, wohin ich gehe, ich kann ihm keine zufrieden stellende Antwort geben. Er könne mir den Ort zeigen, sagt er, könnte mir alles zeigen, so eine Schönheit wie diesen 65-iger sehe man nicht oft; und ich blicke verzweifelt von rechts nach links, von den Bewerbungsdokumenten zu seinen von der Sonnenbrille verdeckten Augen. Hin und her, rechts, links, hin und her.
Lisa, Lisa, Lisa. Deine Rosen sind verwelkt.
Lisa, Lisa, Lisa. Warum hast du sie nicht gegossen?