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Lisa und Tina
Die Verkäuferin zeigt mir die neue Lisa-Kollektion. Die sitzen in einem Raum bei ewiger Konversation und drehen parallelgeschaltet den Kopf zur Tür. Blond, blauäugig und großbusig. Hände kleinmädchenhaft im Schoß gefaltet, die Beine an den Knien aneinandergedrückt, als verkniffen sie sich den Toilettengang. Sie sehen mich vertrauensvoll aus leuchtenden Augen an - mit leicht geneigtem Kopf - und klimpern mit den Wimpern.
"Die sind immer noch im Trend?", frage ich.
"Aber natürlich", sagt sie. "Lisas bleiben aktuell." Sieben Stück winken, alle mit der rechten Hand.
"Haben sie nicht etwas ... individuelleres?", frage ich. "Die lassen sich ja gar nicht unterscheiden! Nachher verwechsele ich sie, beim Einkaufen oder so, und nehme die Falsche mit nach Hause."
"Kein Problem", sagt die Verkäuferin. "Sie werden keinen Unterschied feststellen." Der Gedanke bleibt unangenehm; blonde, blauäugige Busen auf Beinen! Da wurden die Entwicklungskosten komplett ins Fahrgestell gesteckt. "Ich will was unterscheidbares", sage ich. Sie druckst rum und spricht von Charakter-Modulen, die man zu der Standard-Lisa kaufen könne. "So eine kommt nicht in Frage", bescheide ich.
Die Maßmensch-Verkäuferin kneift die Lippen zusammen und mustert mich. Sie habe da noch was, meint sie dann widerstrebend, die müsse sie aber billiger verkaufen, weil sie lädiert sei. Eigentlich würde sie so eine nicht mehr anbieten und habe sie sogar schon aussortieren wollen. Aber das habe sie doch nicht übers Herz bekommen.
"Das hat was mit Werten zu tun!", sagt sie. "Allein Einkauf und Unterhalt – die kosten ja doch ganz schön, da mache ich ihnen nichts vor. Ich bin froh, wenn sie Tina nehmen, eigentlich verbraucht sie nur Platz." So erfahre ich ihren Namen.
In einer Besenkammer hockt sie. Brünett, braunäugig, Busen: klein. "Wirkt gar nicht fehlerhaft", sage ich. "Äußerlich", sagt sie. "Das Problem ist unsichtbar: Sie entwickeln Persönlichkeit."
"Oh! Egal, ich mag ihre Brüste. So schlimm kann Persönlichkeit nicht sein. Sie ist gekauft!"
"Liegt es an mir?", fragt sie. Ihre Augen schwimmen.
"Ach Schatz!", sage ich, greife in ihren vollen Haarschopf und ziehe sie an meine Brust. "Natürlich liegt es an dir. An wem sonst? Hör mit dem Geflenne auf, das nervt." Ich halte sie im Arm und streichele mit der Linken über ihren Hinterkopf, um sie wieder einsatzfähig zu kriegen, während ich mit der freien Hand ein simuliertes Homemade-Video einschalte. 'Young cutie gets fisted on students party.' "Sieh mal Süße, wie die sich bewegt und wie sie klingt – das würde ich von dir auch mal gern erleben!" Der klassische Partyfick - eine vielleicht zwanzigjährige Tussi wird auf einem Billardtisch von Fitnessfreaks gevögelt. Arschfick, Doppelpenetration, Dreilochstute – das Video kommt von Höhepunkt zu Höhepunkt und sie ist immer mit charaktervollem und wandelbarem Gesicht dabei, soweit es zu erkennen ist. Da verschwimmen die Grenzen zwischen Pornodarstellerin und Schauspielerin.
In einem kleinen Extra-Bildschirm rechts oben wird eine Alte mit Lockenwicklern und Riesenbrille gezeigt, die mittlerweile wieder als modern durchgehen müsste. Im Morgenrock tigert sie durch ihre Wohnung, mit einem Besen in der Hand, und macht Stummfilmgesten, die anscheinend Verzweiflung über die Lärmsabotage der Partypeople ausdrücken soll. "Haha, diese Spießer! Geschieht ihr Recht, oder Schatz?", sagte ich und drückte Tina einen Schmatzer auf die Wange. Mit der Rechten massiere ich meinen Penis in die Vertikale!
"V-Modus!", frohlocke ich. "Ein geiles Stück Biotechnologie wartet darauf, mit seiner Endorphinladung in die oberen Hemisphären geschossen zu werden!"
Und schiebe Tinas Gesicht zurück in Position. "Jetzt aber voller Einsatz! Sonst heißts nachher Latrinenschrubben! Haha!"
Leider brachte das Video scheinbar nichts, sie heult und heult und lutscht noch schlechter! Wie war das mit Frauen und Multitasking?
"Wenn man nicht alles selbst macht!", ärgere ich mich. Sie hört mit Blasen auf und spuckt aus! und flüstert, ich solle meinen Scheiß dann auch allein machen.
Zickenmodus!
Sie meint, ich spiele den arroganten Macho nicht nur, ich wäre einer. Unterste Schublade, ein richtig mieser Drecksack. "Meine Güte! Wie kann man nur so empfindlich sein! Manchmal glaube ich, ihr seid nicht aus unserer Rippe gemacht worden, sondern aus der eines Huhns! Ich meine man sagt euch, wie ihrs richtig machen sollt und zeigt euch Vorbilder und all das ... als Dank kriegt man dreiste Sprüche an den Kopf geknallt."
"Du Schwuchtel!", schluchzt sie.
"Was soll das heißen?"
"Du hast es mir selbst erzählt, von deiner 'besonderen' Erfahrung. Schon vergessen?" Oh Gott, wie ich diese gebrochenen Frauenstimmen hasse, in denen das Zittern eines hysterischen Anfalls vorschwingt.
"Ich habe ihn in den Arsch gefickt! Das ist nicht schwul!"
"Nein", flüstert sie. "Das ist ekelhaft. Bei so einem wie dir werde ich mich nie entwickeln können. Ich werde dich verlassen!"
"Hey, das kannst du nicht tun. Mich einfach im Stich lassen. Wer soll den Haushalt führen?"
Tina sucht ihre Sachen zusammen. Strümpfe, Tanga und BH.
Fluchend.
Zieht die sorgfältig zerschlissene Jeans ruckweise über ihre Schenkel. Ich leuchte ihr mit der Schreibtischlampe. "Hast du noch etwas zu sagen?" Fragt sie. Als wäre es ihr eben eingefallen, in der halboffenen Zimmertür stehend. Ich lächele eines der halben Lächeln, die aus dem Verschwiegenen gespeist werden. "Adieu", sagt sie und knallt die Tür.
'Drama-Queen', denke ich ihr hinterher. Kaum haben sie Persönlichkeit, wollen sie gewertschätzt werden. Nicht Blasen können, aber geliebt werden wollen! Also was eben so abging, das ließ tief blicken.
Ich suche nach einem Zettel. Will etwas über Tina schreiben und mich. Erscheint mir richtig, jetzt. Stattdessen füllt sich das Blatt mit Wortfolgen wie 'Für ihren Arsch sind Bluejeans erfunden worden' und 'Ihre Titten sind der Hammer.' Ich fühle mich eindimensional, höchstens.
Großartig, diese Einfachheit.
Beim schnellen Schreiben steigt ihr Geruch von meinen Fingern in die Nase. Ich verwerfe die Idee, ihre olfaktorische Hinterlassenschaft zu beschreiben. Weil noch Platz auf dem Blatt ist, male ich eine Katze. Ihr Gesicht ähnelt dem von Tina.
Am nächsten Abend ruft Sascha an und lädt mich auf einen Drink ein. Ich beende meine Pirsch nach knackigen Typen mit sinnlichen Lippen – die wissen, wie ein Schwanz behandelt werden will! - und fahre ein paar Stationen in das nächste Quartier. Saschas Stammbar ist wie immer voller Metrosexueller mit tollen Tollen und schmalen Brüsten.
Bluejeans in allen möglichen Schattierungen und weiße Feinripp-Unterhemden. Deren Klamotte schmiegt sich eng an ihre Körper wie eine zweite Haut. Ein lautes Wort brächte wahrscheinlich die Nähte zum Platzen. Daher vielleicht das intime Getuschel der Jungs. Ihre Tollen schnackseln dabei miteinander.
Ich trage meine Antihipness-Kluft.
Brauner Cashmere-Pullover und dunkelgrüne Cordhose, grobgerippt. Brave Halbschuhe mit einer karogemusterten Zunge als neckischem Blickfang. Ein paar Style-Bürschchen starren mich an, ich starre zurück, mache meine uncoole Unterzahl durch ein löwenmäßiges Zähneblecken wett.
Heiß ist es, das stört etwas. Ich wünsche mir ein Unterhemd und löchrige Hosen, wie Tina. Die hat so was gerne getragen. Deswegen ist sie vielleicht gegangen, weil wir nicht zusammen passen. Schon äußerlich, der Schein gehört ja zum Sein. Jemand ohne Persönlichkeit hätte das sicher nicht bemerkt. Oder gerade. Oder wie auch immer.
Sascha sitzt an der Theke. Zur Begrüßung gibt es Küsschen - rechts, links, rechts - und den versprochenen Cocktail. Er berichtet von den neuesten Männergeschichten. Ich denke dies und das und sage jaja und soso. Saschas Pupillen sind geweitet, wahrscheinlich wegen der Lichtverhältnisse. Man weiß es nicht, man fragt da nicht. Ich sehe mein Spiegelbild in ihnen und wünsche eine Ereignisdichte, in der für solche Wahrnehmungen keine Zeit bleibt.
Frauen auf Marketing-Mission verteilen Trinkpäckchen. Dass die so was als In-Getränk verkaufen wollen! Ich schlürfe den Orangensaft sorgfältig bis zum letzten Tropfen. Ein Elefantenbaby steigt auf die Hinterbeine und trompetet. Nein, Quatsch.
Zwei Stunden später sind es mehr Cocktails geworden als ich vertrage und weniger als ich wollte. Der Höhepunkt das Abends ist das Aufstellen einer Bestenliste der anwesenden Männer. Wir küren ein Bindeglied zwischen androgyn und biologischer Kleiderstange, dessen vor Gel schillernde Riesenlocke auf seiner zwei Meter breiten Brillenfassung aus Horn ruht. Fensterglas, vermuten wir. Auf dem Heimweg überlege ich, ob Tina vielleicht wegen der Überraschung gegangen war. Die Szene passiert Revue.
"Überrasch mich!", blafft sie. Dabei drückt sie ihre hübschen weißen Knie gegeneinander und lächelt, als posiere sie für ein Foto. Hier ist aber kein Casting oder so was, nur ich und ungefähr hundert Spaziergänger, die pro Minute über die Brücke strömen. Sie hockt auf dem Geländer, hinter sich die pervers strahlende Nachmittagssonne, gegen die ich anblinzeln muss.
Als störe das viele Publikum nicht schon genug! All die Aufgebrezelten sind vom Frühling aus ihren Löchern geschreckt worden und verstopfen die Wege.
"Überraschen?", frage ich. Streiche wie nebenbei ihre kalkweißen Waden entlang. Mich turnt diese noble Blässe einfach an. Der Kontrast zu den schmutzigen Rändern unter meinen Nägeln. "Was Verrücktes tun, ja?" Ich lächele, werfe einen Blick über die Brüstung und überlege. "Gut", sage ich. "Hier und vor allen Leuten, wie du willst. Du musst mutig sein – traust du dich?" Sie nickt zögerlich, wirkt jetzt etwas misstrauisch.
Meine Hände streichen ihre Waden herunter und ziehen erst den einen und dann den anderen Schuh aus. "Wa-was hast du vor?", fragt sie. "Pssscht", mache ich und stelle mich zwischen ihre Beine "hier werde ich es tun", sage ich ihr ins Ohr, "vor allen Leuten. Nur für dich ..." Ich küsse sie an der Stelle hinter dem Ohr, die sie so gerne mag und greife nach den herunterbaumelnden Beinen, als wären sie die Stangen einer Schubkarre. Kitzele ein bisschen über ihre nackten Fußsohlen, das mag sie nicht. "Hör auf!", kichert sie in mein Ohr. "Okay", hauche ich - und reiße die Arme nach oben, als wolle ich die Schublade auskippen. Das nächste Geräusch ist das ihres Rückenplatschers. Der Fluss ist hier viele Meter tief, keine Sorge.
"Hey! Bescheuert oder was?", herrscht mich ein Mann an und umfasst meinen Oberarm. Ich kucke nur kurz auf seine Hand. "Das ist ein Spiel", sage ich. "Bei der nächsten Brücke macht sie das für mich. Sehen sie", ich zeige auf die Schuhe, "Die hätte ich ohne ihr Einverständnis hier wohl kaum ausziehen können, ohne dass sie vorher ein Riesentheater gemacht hätte"
Er kuckt mich zweifelnd an. "Entschuldigung", wische ich seine Hand von meinem Oberarm, "ich würde gern nach ihr sehen, wenns Recht ist." Überzeugt ist er nicht, sein Gesicht spiegelt die Unsicherheit, wie die Situation einzuschätzen sei. Ich warte einfach. Er knurrt noch was von wegen alberner Moden und verzieht sich.
Über das Brückengeländer gelehnt, sehe ich ihr weißes Gesicht inmitten des dunklen und – ich nehme es an – immer noch ziemlich kalten Wassers. Sie schwimmt auf der Stelle und starrt mich an, ohne ein Wort zu sagen. "Überraaaaschung!",- ich.
Sie antwortet nicht, gibt ihren Schwimmbewegungen dafür aber eine Richtung - zum nächsten Ufer. Ich beschließe Nägel mit Köpfen zu machen. Werfe ihre Schuhe hinterher und mache sie mit einem Ruf auf meine Schändung aufmerksam. Sie sieht scheinbar teilnahmslos zu, wie ihre Pumps im Wasser versinken, dann kurz über mein Gesicht wieder zum Ufer, auf das sie mit jetzt wesentlich entschlosseneren Bewegungen zuschwimmt.
Ich beeile mich, vom Tatort zu verschwinden. Auf dem Nachhauseweg fällt mir ein, dass wir zusammenwohnen. Und überlege, wie es nun weitergehen und wie ich mich verhalten soll. Die Situation überfordert mich.
Zu Hause esse ich Schokoladenkekse und trinke Honigmilch, um meine Verwirrung zu bekämpfen. Als sie ankommt, schlafe ich bereits neben der leeren Keks-Packung, ihrer Notration. Den Tag darauf hat sie Triefnase und Husten. Ich mag sie gar nicht küssen, weil das ein bisschen eklig ist. Und es wird schlimmer. Der Facharzt diagnostiziert vier Tage später eine Lungenentzündung. Ich fühle mich schlecht und kaufe ihr eine neue Packung Schokoladenkekse, dann geht es mir wieder besser.
Es könnte damit zu tun haben, beschließe ich in meinem Bett. Verschränke die Arme hinter dem Kopf und betrachte die Konturen des nächtlichen Zimmers. Persönlichkeit kann so anstrengend sein! Hat aber auch ihre guten Seiten. Mir fällt ein, wie wir uns in der Saftbar ordentlich einen reingezwitschert und auf dem Nachhauseweg einen Chefsessel gefunden haben. Kann auch sein, dass wir drübergestolpert sind. Denise, Tina nannte ihn Denise. Sie erklärte Denise zur Chefsesselin und wir schoben sie oder ihn oder es durch die herrlich bescheuerten Straßen der Nacht! In der Stahlschlange rutschten wir auf Denise von links nach rechts. Jede Kurve mitnehmen! Ich auf Denise, Tina auf mir, hach ja. Ohne Persönlichkeit geht so was nicht.
Am nächsten Morgen treibt mich die Sonne aus dem Bett. Ich simse Sascha und wir treffen uns in einem amerikanischen Kaffeehaus. Riesige Muffins! Und Kaffee mit Karamelgeschmack! Nach dem Kombifrühstück ist mir schlecht. Trotzdem esse ich noch zwei Muffins, weil sie einfach so lecker sind. Sascha hält beim Kotzen meine Haare. Zum Abschied gibt es diesmal kein Geküsse.
Auf dem Weg zurück in die Wohnung sehe ich einen kleingeratenen Erdenbürger auf dem Gehweg hocken und die Steine mit Kreide vollschmieren. Neben ihm ein wesentlich größeres Subjekt mit langen Haaren und Handtasche, nennen wir es Mutter.
Im Vorbeigehen höre ich "Wo ist denn der WauWau, ja wo ist denn das kleine Hundilein?" Das kleinere Subjekt scheint vor Freude fast zu platzen, als er "Daaaaaaa!", brüllt - ein hässlicher Kurzhaardackel kommt hinter einem Baum hervorgehechelt.
"Feini, Feini! Du bist ja soooo ein großer Junge! Groß genug, einen Moment allein zu bleiben. Die Mama geht mal eben pischern."
Sie verschwindet in Richtung eines Cafés. Ich wollte es eigentlich nicht tun, aber manche Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen hieße sich gegen die Vorsehung versündigen. Ich als aufopferungsvoller und durchtranszendierter Mensch mache da keinen Unterschied zwischen mir und denen, dem Ich und den Anderen.
Unauffällig aber zielstrebig schlendere ich zum alleingelassenen Mini-Subjekt und gehe neben ihm in die Hocke. "Du, hör mal. Deine Mutter ist bestimmt ne tolle Frau, sie hat auch schöne Rundungen und so, alles stramm! Ich meine, die ist bestimmt cool. Aber manche Sachen, die Mütter sagen, gehen überhaupt nicht klar. Nicht dass du mich falsch verstehst – ich tu dir jetzt nämlich einen Gefallen und warne dich vor dieser WauWau-Sprech und dem Gebrauch der Dimunitive."
Die lütte Person sieht mich mit großen Augen an. "Verniedlichungen! I's und ing's am Ende und was weiß ich noch. Du verstehst." Der kuckt noch genau so wie eben. Will der mich verarschen oder was? "Beispiel: Diese vom stolzen Wolf zum Kurzbeiner erniedrigte Kreatur heißt Dackel und gehört zur Familie der Hunde, zur Überfamilie der Canoidea. C A N O I D E A. Merk dir das gleich richtig, dann musstes später nicht doppelt lernen. Hundilein – das Wort gibt es überhaupt nicht! Und das Lein zeigt schon die Verniedlichung an, da noch ein klein vorzusetzen ist ... Kleinlein ... aaaah!" Das wirkt jetzt erstmal, nehme ich an.
"Und hier", sage ich und zeige auf seine Kreidefigur. "Stimmen die Proportionen nicht. Allein die Größe vom Bein! Elephantiasis! Ein Hund mit Elefantenartigkeit! Die Menschen bringen alles durcheinander! Das muss man doch sehen! Natürlich gibt es künstlerische Freiheit, aber es ist halt ein Unterschied, ob jemand, der das Handwerk drauf hat, was verfremdet, oder ob jemand nur drauf los zeichnet. So was fällt auf. Da muss echt noch ne Menge getan werden."
Ich leihe ihm die Kreide weg und male neben seinem Kreidehund einen ordentlichen auf den Bürgersteig. Das Kind trägt blaues Hütchen und blaue Latzhose. Wird wohl'n Junge sein. Oder Romantikerin, haha. Ich zeige auf die ungeschickt vergrößerten Gliedmaßen seiner Figur und erkläre anhand der realistischeren Dimensionen meiner eigenen, was er falsch gemacht habe und worauf er achten müsse.
Frag ihn, wie er heißt. Der antwortet nicht. Grabscht aber nach der Kreide! Ich schlage sein Ärmchen weg – der ist kein Gegner für mich.
Finde ich frech, wie der mit seinem Lehrer umgehen will. Die Jugend heutzutage. Vorgestellt hat er sich auch noch nicht! Ich hebe ihn hoch und suche nach einem Hinweis auf die Identität. Rudi steht auf seinem Hosenboden. "Also Rudi", sage ich. "Dranbleiben! Da ist echt Potential, aber ohne Training wird das nichts. Üben, üben, üben!" Da fängt er an zu heulen, der kleine Fratz.
Vom Café nähert sich schnellen Schrittes die Mutter. Ihr Gesicht erinnert an Sommerhimmel, bevor es gewittert. Ich verabschiede mich von Rudi und zwitscher ab.
Am Abend kommt Sascha vorbei. "Dein Fress-Exzess macht mir Sorgen", sagt er. Fressattacken wären ein typisches Symptom. (Wofür?) Ich müsse auf andere Gedanken kommen, mal wieder unter Leute. Spaß haben!
Ha! Haha.
Er schleppt mich auf eine Studenten-Party, stellt mir eine Facebook-Freundin vor und lässt uns mit den Worten, wir würden uns sicher gut verstehen, allein. "Martin!", stelle ich mich vor. "Du kannst mich auch Vanessa nennen, wenn du möchtest."
Das Mädchen kommt übergangslos auf die eigene Person zu sprechen. Bezeichnet sich selbst als unglaublich kontaktfreudig. "Ich durfte heute schon so viele spannende Leute kennenlernen!" Sie besitzt das seltene Talent, komplette Gespräche im Unddannhatsiegesagt-Unddannhabichgesagt-Modus wiederzugeben. So geht das eine halbe Stunde.
Wenn mir meine Lebenszeit nicht so egal wäre, hätte ich schon längst das Weite gesucht. Sie erzählt ein irre lustiges Gespräch nach, das ihre Freundinnen geführt haben, und ich trickse rum und verrenke mich, um sie ein bisschen zu öffnen. (Wieso?)
Im Ergebnis redet sie eine halbe Stunde von Adorno, als bekäme sie für die Verbreitung seines Wortes Provision und leitet unvermittelt zu den Problemen mit ihrem Mitbewohner über, in den sie tragischerweise verliebt sei – "Oder nicht? Ich bin so unsicher, was ihn betrifft. Vielleicht ist das ja die Tragik?"
Hach!
"Riechst du das auch?", frage ich zwischendurch und schnuppere an ihrer Achsel. "Irgendwas müffelt hier!"
Sie sieht mich mit großen Augen an, wie ein von der Schlange hypnotisiertes Bunny. (Ist das schon Freud?) Sie heißt übrigens Lisa. Das find ich gut, mittlerweile heißen ja alle Lisa! Da kommt man nicht durcheinander!
"Tut mir leid", sage ich und rieche an mir. "Kommt doch von mir. Und ich dachte, wir hätten was gemeinsam!"
Lisa schaut sich um, als suche sie nach einer Möglichkeit, geschickt aus dem Gespräch zu kommen. Wenn sie einen entfernten Bekannten erspähte, könnte sie ekstatische Wiedersehensfreude simulieren und wäre ruckzuck aus der Reichweite meiner Schnüffelnase. Doch scheinbar ist da niemand.
"Geile Titten", sage ich anerkennend und nicke in Richtung ihrer Oberweite. Sie zuckt zusammen und über ihr Gesicht huschen Ärger und Befremdung, bevor es zur Maske erstarrt. Einer beleidigt-naiven Kleinmädchenmaske, die perfekt zu ihr passt.
Vielleicht zu gut, Vorsicht.
"Findest du?", fragt sie. "Ich habe manchmal das Gefühl, sie sind ein bisschen klein."
"Ja klar sind die zu klein. Sieht man aus zehntausend Metern. Oder eben nicht mal aus zehn. Das war nur so ein Spruch."
Sie sucht in meinen Augen nach Spuren von Ironie. (Von was?)
"Wusste gar nicht, dass es noch solche vorsintflutlichen Typen gibt", sagt sie. "Dich müsste man im Museum ausstellen!" Sie lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor ihrer schmalen Brust.
"Entspann dich Schätzchen, geh mal ein bisschen lockerer mit deinem Handicap um. Kuck mal: Du kannst dich super als Junge verkleiden, musst nur noch die Pussyhaftigkeit wegtrainieren, dann kommste auch in die richtigen Herrenclubs rein und findest mal raus, wen Gott nach seinem Ebenbild erschaffen hat."
"Du bist echt ne komische Nummer", sagt sie. "Ist doch erbärmlich, jemanden auf äußere Merkmale zu reduzieren. Coole Jungs machen das nicht. Tatsächlich habe ich noch nie einen getroffen, der so einen saudummen Spruch abgelassen hat wie du eben. Hab schon gedacht so welche wären Fiktion der Emanzenindustrie."
"Bernhardiner!", rufe ich. Einer dieser freundlichen Vierbeiner mit Fass um den Hals kommt quer durch den Club auf mich zugelaufen. Springt über Tische und schnellt zwischen Stuhl- und Menschenbeinen hindurch! Knapp unter Lichtgeschwindigkeit.
Wenig später drehe ich den Schraubverschluss vom Fässle und kippe mir einen hinter die Binde. Wie viele Leben die schon gerettet haben mögen!
"Rum! ... Hier, Mädchenjunge – nimm!", halte ich ihr das Dingens hin. Sie trinkt – kräftiger Zug, Respekt – und kuckt mir mit einem so irren Funkeln in die Glubscherchen, dass ich fast vorfreudig an ihren Lippen hänge, als sie einen Satz zu artikulieren beginnt. Kann man an denen echt sehen wie eine Frau untenrum gebaut ist?
"Ich sag dir was", beginnt sie. "Du hast einen kleinen Schwanz oder kriegst keinen hoch und diese Einschränkung projizierst du auf das Gegenüber, wenn es eine Frau ist. Bei Männern traust du dich nicht, denn die könnten ja an der Pissrinne sehen, dass du nichts am Start hast", und dann mit Wimpernklimpern und zuckersüßem Lächeln: "... Süßer." Das Gesicht hat sie für den Final Move reserviert.
"Märchen und Mythen! Männer mit kleinen Schwänzen sagen Frauen mit kleinen Titten, das sei okay, weil sie hoffen, bei denen landen zu können. Und dass die gute Miene machen, wenn er die Hosen runterlässt."
"Das ist so was von arm. Als würde man über Hautfarbe lästern. Die ist auch nicht änderbar!"
"Silikon, Schätzchen! Mittlerweile fallen die wie echte und fühlen sich genauso an. Silikohon."
Lisa schlitzt die Augen und steht auf und geht zu Sascha an die Theke und erzählt aufgeregt. Ich kraule den Bernhardiner hinter den lässigen Schlappohren! Lisa schnüffelt erst an Saschas und dann an ihrer Achsel. Unddannhatergemacht-Unddannhabichgemacht. Sascha winkt ab. Zuckt die Achseln. Schüttelt den Kopf.
Sie spricht drei knackige Boys an, deren muskulöse Oberarme ihre T-Shirt-Ärmel fast sprengen. Während ich eine SMS an Tina tippe, die nur aus Zeichen besteht, ein winkender Pandabär, sehe ich immer mal wieder zu Lisa und ihren Freunden rüber. Sie spricht schon wieder ganz schnell und aufgeregt. Ich finde sie jetzt doch ziemlich okay für eine Lisa, wenn man sie erstmal aus ihrem Fahrwasser gelockt hat. Über mich denkt sie wahrscheinlich etwas anders.
Die Typen blicken mich scheel an, von Minute zu Minute finsterer. Ich versuche unverdächtig auf Toilette zu gehen und schreibe Tina auf dem Weg, dass ich ihr keinen Bären aufbinden wollte, sie hat die Neigung Bilder wörtlich zu nehmen und sieht meine Signale zur Zeit vielleicht durch einen skeptischen Filter. Besser mal absichern. Ausnahmsweise. Ich krieche durch das enge Fenster nach draußen. Verliere dabei mein Handy. Auf dem Heimweg frage ich mich, ob ich je erfahren werde, wie Tina meine SMS gefiel.
Im Bett überlege ich, wer die Verantwortung für die Misere trägt. Gehe hart mit mir ins Gericht. Stelle am Ende jedoch fest, dass es ihre Schuld ist. Puh, Glück gehabt. Schuldgefühle finde ich schwer auszuhalten und seitdem sie weg ist, gibt es keine Schokoladenkekse mehr, die Milch ist letzte Woche ausgegangen, es gibt nur noch einen Fingerbreit Honig.
Zwei Stunden später. Kann nicht schlafen. Habe zwanzig Katzen gemalt. Dicke Perserkatzen mit verheulten Augen im Knautschgesicht. Doris, Bernd ... jede trägt einen anderen Namen, aber alle das Gesicht von Tina! Ich erwische mich, wie ich Bernd an der Stelle hinterm Ohr kraule, die Tina so gern mochte. Reiße mich aus der Gedankenleere, fahre den Computer hoch und lade alle meine Facebook-Freunde zu einer Party ein. Mitzubringen sind Schokoladenkekse, Milch und Honig. Ich fühle mich sehr schlau und listig und nenne mich vor dem Spiegel Odysseus. Ist ja auch toll, die alle mal in echt kennenzulernen! Ob ich meinen Schlafanzug ausziehen sollte? Nein, vor Freunden muss man sich nicht genieren. Aber ein bisschen Zurechtmachen verlangt die Höflichkeit. Ich ziehe den Bademantel über und mache eine ordentliche Schleife in den Gürtel.
Komische Gestalten stehen in meiner Tür. Erzählen laute und ungehobelte Witze, was im Treppenhaus hyänenhafte Lachanfälle auslöst. Am lautesten lacht Mandy, die der dollste Kerl der Bande zu sein scheint. Sie trägt blondiert mit pinken Sprengseln, ein strassbesetztes schwarzes Pflaster auf der Wange und eine Tüte voller Bierflaschen. "Frühstück!", röhrt ihr Begleiter und will sich an mir vorbeidrängeln. "Halt!", sage ich. "Wo sind die Mitbringsel?" Man schaut mich befremdet an, ich kucke irritiert zurück.
Einer kommt die Treppen hochgespurtet und reicht mir eine Tüte. Ich sehe hinein, lächle und mache den Weg mit einer kleinen Verbeugung und einem simulierten Hut ab! frei.
Die nächtlichen Besucher sehen mich mit dem ängstlichen Respekt an, der für Unberechenbare reserviert ist. Ist registriert, ist okay, was ihr wollt. Möchte nur meine Honigmilch.
Zwölf Leute marschieren an mir vorbei, auf zwölf Shirts steht Jentwon Gangstarr Rap Crew.
Es dauert ein Weilchen, bis der Groschen fällt: Das sind Jenfelder, die die Ansammlung von Bausünden ihres Problemviertels wahrscheinlich in direkter Nähe der Bronx sehen. Wusste gar nicht, dass ich dort Freunde habe. Seitdem die Zahl meiner Freundschaften den vierstelligen Bereich geknackt hat, bin ich nicht mehr ganz Herr der Lage, fürchte ich. Tina hat die Freundes-Liste einmal im Monat ausgesiebt. Mein Besuch wäre sicher dabei gewesen.
Samt aufsehenerregendem Kopfschmuck: Die Männer gegelte Banker-Iros und die Frauen blondierte Kurzhaarfrisuren, Farbbeutel scheinen über beiden explodiert zu sein. Hier betreibt der Einzelne viel Aufwand, um wie die Anderen auszusehen. Anscheinend floss in die Frisuren ihre Kreativität - der am frühen Morgen angestimmte Jentown-Freestyle-Rap erschöpft sich im Durchkonjugieren verschiedener Körperöffnungen und möglicher Penetrationsformen. Natürlich geht es auch um das harte Leben auf den Straßen, was ein Hustler alles zu tun gezwungen sei und so weiter.
In einer kurzen Gesangspause versichere ich meinem Besuch, wie sehr mich die Gelegenheit freue, etwas aus ihrem Leben zu erfahren. Im Bademantel, dampfende Honigmilch trinkend - zugegeben, so fällt Großzügigkeit leicht.
Meine lieben Gäste prüfen die Echtheit gewisser Gegenstände unserer Wohnung - warum sollten sie sonst mit einem Ding auf ein anderes Ding schlagen? Ich kenne den wiederkehrenden Impuls, die scheinbare Wirklichkeit ab und an betasten zu wollen, um die Qualität der Simulation zu prüfen. Gehe allerdings etwas sensibler mit der wirklichen Welt um als mein Besuch. Doch im Prinzip wird es um das gleiche gehen: bei einer Fensterscheibe, zwei Lampen und dem Fernseher. Alle beweisen ihre Anfassbarkeit und auch in punkto Zerbrechlichkeit geben sie keine Rätsel auf. Ich bin ihnen nicht böse. Das Leben funktionierte Jahrtausende ohne Fenster und künstliches Licht, außerdem steht der Sommer vor der Tür.
Trotzdem müssen meine neuen Freunde gehen, als die Polizei von 'bei der Nachtruhe massiv gestörten' Nachbarn gerufen wird und die Party auflöst. Ich rufe ihnen hinterher: "Nennt euch Jentown-City Gangstarr Crew! That's much more cool! Mi casa su casa! Gangsta for life!" Wenn man sich an mich erinnert, bitte an jemanden, der seinen Mitmenschen immer freundlich zur Seite stand.
Frau Kern von gegenüber fragt mit sorgenvollem Gesicht, was wohl Tina dazu sagen werde. "Gar nichts!", sage ich. "Sie ist weg und kommt nicht wieder!" Frau Kerns Gesicht verzieht sich zur nächsten Gramstufe. "Oh", sagt sie und leise murmelnd "musstejasokommen." Ich danke für die Anteilnahme, stecke die Milch unauffällig vorne in meinen Hosenbund, nehme ein Glas und frage, ob sie etwas trinken möchte. "Unsere Leitungen sind vor kurzem entkalkt worden!" Sie sieht mich schräg an und geht. Ich schließe die Tür hinter ihr.
Im Schlafzimmer stelle ich fest, dass auch dort eine Fensterscheibe kaputt gegangen ist! Egal, es gibt ja so viele Räume! Wenigstens zwei noch. Und unsere Küche hat gar kein Fenster. Glückspilz! Ich schleife Matratze und Bettzeug dorthin. Richte es mir so ein, dass ich Herd und Milchtopf erreichen kann, wenn ich mich aufrichte. Finde mich wieder sehr schlau, weil unter meinem Bademantel noch der Schlafanzug ist. Niemand kommt auf so was, obwohl sich fast alle für schlau halten.
Ich gehe am nächsten Morgen studieren, nein, ich gehe spazieren und – bekomme von einem netten Muttchen ein Heft des Wachturms. Da steht drin, dass den meisten Menschen etwas fehle. Stimmt. Da ist was dran. Das muss erstmal verarbeitet werden! Ich lese nicht weiter und schmeiße das Heft weg, um mich in Ruhe dieser Frage zu widmen.
Aber was, überlege ich.
Keine Ahnung, egal.
Was mir das Leben als nächstes bietet, werde ich nehmen. Die Chance am Schopf packen.
Ein Typ mit wirren Haaren eilt an mir vorbei, quasselt in einem fort und gestikuliert in die leere Luft. Ich schnappe Fetzen seltsamer Kommentare und Ansichten auf. Überlege, ob er wahnsinnig oder erleuchtet oder ein Normalo ist, der mit seiner Schickse telefoniert. Das weiß man ja heutzutage nicht mehr.
Als ich noch überlege, ob das jetzt ein Zeichen ist und wenn ja, wie ich es verstehen darf, springt mir das wahre Symbol ins Auge: Grell kleben an der Eingangstür einer privaten Schönheitspraxis die Wörter Botox to go und darunter ein schüchternes Zettelchen Heute Botox-Party. Schau her!
Hinter einer Theke aus glattpoliertem Wurzelholz sitzt eine die aussieht, wie eine aussieht, die es im Dreierpack gibt. "Wie ist denn das mit diesem Nervengift?", frage ich.
"Ach, alles eine Frage der Dosis", winkt sie ab. "Richtig dosiert ist Botox ein sehr effektives Heilmittel gegen die Krankheit des Alterns. Attraktivere Menschen führen ein leichteres Leben. Und bekommen auch bessere Jobs und Partner."
"Ja gut", sage ich. "Einmal bitte. Wenns schnell geht."
"Sehen sie mal", meint sie und breitet eine sehr schön gestaltete Hochglanzbroschüre auf der Theke aus. Deren Farbe harmoniert wunderbar mit dem Wurzelholz. Ein paar Tinas und Tims berichten auf der letzten Seite von ihrer Botox-Behandlung, wie glücklich sie jetzt wären und wie schön sie sich fühlten. "Das will ich auch sagen können!", entfährt es mir. "Ach, Glück!"
"Das ist gar kein Problem, Herr ...", sagt sie und will meinen Namen in eine Computermaske eingeben. "Wir brauchen nur noch ein paar Daten, reine Routine ..."
"Vanessa", sage ich. Oh Übermut, Vorgefühl des Glücks!
Ein prüfender Blick. "Vorname?"
"Prinzessin. Prinzessin Vanessa."
"Soso", sagt sie. "Tja, wir verlangen prinzipiell, äh, Vorkasse. Haben sie genug Bargeld dabei?"
Ich zähle locker ein paar Grüne ab. "Aber nicht dass sie mir heimlich die Brüste vergrößern!", scherze ich.
Nachdem die Formalitäten geklärt sind, geleitet sie mich zum Herrn Doktor. Der erinnert an Kermit den Frosch. Lustig wie sein aufgeschwemmter Schädel während des Konversierens auf dem Hals wackelt.
"Ich hoffe das ist nicht unangenehm", sagt er und unterspritzt meine Zornesfalte. Ich versuche ein Signal von der Stirn reinzukriegen, die Muskeln zu bewegen.
"Nee, ich spüre überhaupt nichts mehr."
"Haha, genau!", sagt er. "Ich habe dieses Gefühl lieben gelernt. Man muss sich nur bewusst machen, was der Effekt ist. Sie werden dreißig Jahre jünger aussehen!"
"Ich bin noch nicht mal so alt."
"Zu ihrem nächsten Geburtstag werden die Gratulanten rufen: 'Endlich achtzehn!'"
"Ich mag keine Geburtstage. Achtzehn war ein furchtbares Alter."
Er sagt ein paar Dutzendsekunden nichts und macht konzentriert an meinem Gesicht rum. "Warum haben sie sich für die Behandlung entschieden, wenn ich fragen darf?", fragt er.
"Die Broschüre war sehr hübsch!" Wieder eine relativ lange Pause.
"Sehen sie. So ähnlich werden sie auch aussehen."
"Ich wollte etwas verändern und wusste nicht, was. Da habe ich ihre Werbung gesehen ..."
" ... und das einfach mal ausprobiert! Wissen sie was? Sie sind ein Abenteurer!"
"... Unterbrechen sie mich nicht! Ich habe mich auch informiert, Erfahrungsberichte gelesen. Die Menschen in ihrer Broschüre haben sich durchweg positiv geäußert. Ich hoffe nur bei mir wird die Behandlung einen ähnlichen Erfolg haben. Ich habe den Eindruck, mir fehlt etwas."
"Natürlich kriegen sie das Geld zurück, wenn ihre Mimik nach der Behandlung funktionieren sollte."
"Was halten sie eigentlich von der Bezeichnung wunscherfüllender Medizin?", frage ich. (Nur so!)
"Gar keine Medizin", murmelt er, "das ist Kunst ..."
Er nimmt eine zweite Spritze und zielt auf sein Spiegelbild. "Spieglein, Spieglein an der Wand ... Sag schon!" Und antwortet seinem Doppelgänger: "Ich, Ich!"
Der Dottore erinnert an Doktor Mabuse in dieser genialen Fluchtszene in dem Film von Fritz Lang. Gefällt mir, in einer Welt zu leben, wo welche wie ich andere für verrückt halten können. Er drückt ein bisschen Nervengift mit Schwung aus der Spritze. Es scheint einen Moment im Abendlicht zu schweben und funkelt wunderschön, von einem trägen Sonnenstrahl touchiert. Dann widmet er sich den Nasolabialfalten, von denen er meint, dass ich an denen sicherlich kaum vorbeischauen könne. Ehrlich gesagt habe ich mir die noch gar nicht so genau angeschaut, aber es ist ja sogar klug, ein Problem zu bekämpfen, bevor es entsteht.
"Fertig!", ruft er. "Und – was sagen sie?"
Ein paar Gesichtspartien sind aufgebläht, es blutet ein bisschen aus den Einstichstellen. Doc sagt, das verteile sich mit der Zeit und verwischt die roten Schlieren. Ist ja eh nur äußerer Schein! Jetzt gibts erstmal Fettabsaugen. Die nette Sprechstundenhilfe hat meine Wartezeit genutzt, um mich kostenlos und unverbindlich über ein Supersonderspezial zu informieren. Natürlich habe ich gleich zugeschlagen. Das Kombipaket war für Leute meines Namens, meiner Postleitzahl, meiner Haarfarbe und mit der Angewohnheit, fette Katzen zu zeichnen, um jeweils 25 % günstiger! Und wegen der Botox-Party wurden die Rabatte kumuliert! Ich habe mir das schriftlich geben lassen, wenn ich wieder eine Frau habe, soll die das mal durchrechnen.
Ich gehe wieder zu dem Laden, wo ich meine große Liebe Lisa kaufte, ich meine Tina, sie heißt Tina. Die mit den coolen Titten. Weiß auch nicht wieso. (Wieso nicht?)
Ich frage die Verkäuferin nach einem Exemplar mit weniger Persönlichkeit. Die seufzt, dass es so was nicht gebe. Vollpersönlichkeitsproblem nennt das die Herstellerfirma. Entweder ganz oder gar nicht. Sie führt mich zu der Besenkammer. Da hockt sie drin. "Du!", sagt Lisa. Glücklich sieht sie nicht gerade aus. Aber was ist schon Glück? Ich zucke die Achseln und quetsche mich daneben. Die Verkäuferin schließt die Tür hinter uns.
Danke, Tokala, für die Ideen.