Lippenbekenntnisse
Doch das wohl Charmanteste an diesem Abend waren ihre Lippen. Samtig weich bewegten sie sich um ihre Gesichtszüge und durch einen hervorblitzenden Zahn oder ein leichtes Mimenspiel formten sie sich zu einem immer neuen Schauspiel von choreographischer Finesse. Mal saugte sich ein Teil des wohligen Fleisches an seinem Gegenüber fest und verzerrte so die Symmetrie um einen Bruchteil von Sekunden zu einer glamourösen Geste, mal - durch den sanften Schlag der Zunge befeuchtet - leuchtete sie in immer neu erscheinenden Rottönen. Es waren die geistigen Getränke, die eine weitere Nuance auf die zarten Schwellungen legte und so zu einem facettenreichen Schauspiel für das nachbarschaftliche Auge avancierten. Nie verloren sich die beiden Gegenseiten, schlossen sich zu einem Kissen, umschlossen halboffen das Weinglas oder öffneten sich zu einem schallenden Lachen oder Rufen, um sich gleich darauf wiederzubegegnen, vertraut, routiniert - durch den Einsatz der unteren Schneidezähne auch verschmitzt und ungehörig. Diese Lippen erzählten Geschichten ohne sich zu öffnen, gaben Ehrlichkeit preis und verschwiegen still. Auf diesen Lippen lag ein Leben, das ich zu ergründen wünschte, nur einen Teil davon, ohne Eile und Ungeduld.
Der ganze Sommer lag vor ihnen und eine leise Vorahnung hatte in ihren Köpfen dünne Wurzeln ausgestreckt und saugte nun an den wenigen Augenblicken der erlebten Zweisamkeit.