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Linoleum

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Linoleum

Rewrite auf Seite 2

Ich starre so oft ich kann auf den Boden und zähle die grünen und weißen Quadrate. Das Linoleum ist verschrammt und zerkratzt, Ergebnis unzähliger schleifender Absätze.
Ich starre auf den Boden, weil ich sonst sie ansehen müsste.
Gefühle sind längst nicht immer das Wichtigste, sagt sie.
Ich nicke und verfolge eine Rille im Boden mit den Augen. Denke an einen spanischen Gitarristen. El Mariachi.
Zu wissen wer du bist, sagt sie, ist auch nicht das Maß aller Dinge.
Ich nicke wieder und versuche, meine Wimpern zu zählen.
Psychologie ist eine Farce, sagt sie. Erfundene Theorien für ausgedachte Leiden.
Ich nicke wieder.
Außer in meinen Träumen bin ich nie glücklich, sagt sie.
Sie erzählt mir all dies während der Stunde, die ich auf dem harten orangenen Plastikstuhl neben ihrem Bett verbringe. Sie erzählt es mir, während ich sie mit warmen Müsli füttere. Der Doktor hat gesagt, ihre Geschmacksnerven registrieren nichts mehr, trotzdem weigert sie sich, etwas anderes zu essen als dieses Müsli, ihre Lieblingssorte.
Ihre leeren blauen Augen starren durch die Decke. Sie sind umrandet von Haut, die knittrig ist wie Zellophan. Ihre Haare hängen in schlaffen Strähnen um ihr Gesicht. Graue Reben.
Einst traf ich einen Mann, sagt sie. Das ist Jahre her. Ich traf diesen Mann auf der Landeskirmes, wo ich mit meiner Familie war.
Ihre Worte sind nuschelig.
Dieser Mann zog mich zur Seite und küsste mich! sagt sie. Er küsste mich so lange. Und dann schubste er mich zurück in die Masse von Leuten.
Ihre Miene erhellt sich, ich muss lächeln. Sie kann mein Lächeln nicht sehen.
Jeden weiteren Kuss, sagt sie, habe ich mit diesem einen Kuss verglichen. Sogar die von Johann. Johann hat nie so geküsst.
Ich sage, wow, dass muss Liebe gewesen sein.
Ich sage, ich weiß genau was Sie meinen.
Ich sage, ja ja, das ist wahr.
Dann ist die Stunde vorüber, die Krankenschwester kommt herein und nickt mir zu.
Ich stelle die Müslischale zur Seite und tätschel ihre Hand. Bis morgen, sage ich.
Sei ein gutes Mädchen, sagt sie zu mir.
Auch die Schwester spürt das Bedrückende, das dieser Ort in mich hineinbrennt. Ich gehe den Gang entlang, schneller und schneller, bis ich hinaus in die Sonne springe und mich auf den Rasen fallen und die Wärme der realen Welt diese langsam tickenden Minuten von mir abkratzen lasse.
Dann gehe ich wieder hinein. Ins nächste Zimmer.

[Beitrag editiert von: Rabenschwarz am 11.04.2002 um 15:02]

 

Schön geschrieben, macht mich nachdenklich. Bravo und weiter so!
ein Stückchen alltag, das sich sehr bildhaft in den Kopf brennt.
Nur eines: Das Zeug heißt Linoleum!
Gruß,

chaosqueen <IMG SRC="smilies/king.gif" border="0">

 

Hallo,
höre selber auch gerne meiner Grossmutter beim Geschichtenerzählen zu. Du hast die Stimmung und ihr Verweilen in der Vergangenheit gut eingefangen.
Der Mariachi wirkt für mich allerdings wie ein Fremdkörper. Obwohl ich den Film auch gesehen habe, kann ich deine Gedankengänge da nicht nachvollziehen.

Deine Geschichte würde ich auch eher als kurze Szene denn als Kurzgeschichte bezeichnen. Es fehlt eine Entwicklung, eine Handlung.
Ansonsten: weiter so.

 

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Wie Trauer erzeugt diese Geschichte eine eigenartige Stimmung. Ich sehe einen neuen Stern am Autorenhimmel.

 

Die Geschichte ist gut geschrieben und hat ein Thema, dass sehr viel Fingerspitzengefühl verlangt. Dieses hat der Autor hier bewiesen keine Frage. Doch mir fehlt etwas das Detail. Was hat die Frau, wer ist die Frau, wer ist der Erzähler oder die Erzählerin.
Wenn man das noch mehr eingebaut und noch mehr in der vergangenheit gekramt hätte, was alte und kranke Menscehn ja gerne tun, glaube ich, hätte sich die Lesefreude noch steigern, aber zumindest verlängern lassen!

 

Es ist wohl eher eine Autorin, denke ich.

 

Danke für's Lesen und die Kommentare.

chaosqueen...oups, blöder Tippfehler, passiert mir dauernd...danke, daß Du mich drauf aufmerksam gemacht hast :-)

Markus&Henna...danke für den Kritikpunkt, glaube aber eher nicht, daß ich an Entwicklung, Handlung, Details etc arbeiten möchte...hier handelt es sich eher um eine Szene, die ich so gut wie möglich schildern möchte...natürlich mag sich ein Leser fragen, wer die Frau ist, was sie in ihrem Leben getan hat und warum sie ihre letzten Tage in einem Heim oder Krankenhaus verbringt... Fakt ist aber, sie ist alt, krank und wird bald sterben. Mehr will ich eigentlich nicht vermitteln... intensive Augenblicke der Gegenwart sind manchmal interessanter als irgendwas Rausgekramtes aus der Vergangenheit :-)

Webmaster...richtig gedacht :-)


San

 

Hi San!

Die Erzählerin - ich gehe davon aus, dass die alte Frau sie nicht mit jemandem aus ihrem Leben verwechselt und zu recht "Sei ein gutes Mädchen" sagt - steht mitten im Leben, genießt Musik, Sonne, Wärme und Liebe, doch der Tod steht täglich direkt vor ihrem Auge. Zwar nicht ihr eigener Tod - noch nicht - aber sie wird stündlich davon berührt, damit konfrontiert.
Sie arbeitet in einem Altenheim oder Krankenhaus, besucht alte Menschen, vielleicht auch dem Tode geweihte, um sich mit ihnen als eine Art Beschäftigungstherapie zu unterhalten.
Doch eine Kommunikation kommt nicht zustande, lässt sie nicht zu.

Ich starre so oft ich kann auf den Boden... weil ich sonst sie ansehen müsste

Die Protagonistin kann die alte Frau nicht anblicken, sie kann den Tod nicht ertragen. Obwohl sie ausgerechnet einen vom Alter gezeichneten, zerkratzen und mit Schrammen übersäten Boden wählt, auf den sie ihre Konzentration richtet.
Sie hört der alten Frau nicht wirklich zu, sucht sich Ablenkungen, wie das Zählen der Bodenquadrate oder ihrer Wimpern.
Den Zusammenhang zu dem spanischen Gitarrenspieler (übrigens mit Doppel-r) kann ich nur insoweit herstellen, als dass er für spanisches Lebensgefühl steht, für Fröhlichkeit, Musik, Sonne und Wärme, weiteres bleibt mir verschlossen, da ich ihn nicht kenne. Hat es Gründe, dass Du ausgerechnet El Mariachi wählst?

Auch an der Art der Kommunikation erkennt man, dass die Protagonistin nicht auf die alte Frau eingehen kann oder will, nicht mehr in deren Leben miteinbezogen werden will. Es kommt keine echte Kommunikation zustande, vielmehr gibt die Erzählerin nur einige wenige abgedroschene Phrasen von sich und bleibt ansonsten bis auf ein kleines Lächeln regungslos dem gegenüber, was die Frau aus ihrer Vergangenheit erzählt.

Sie erzählt mir all dies während der Stunde

Komma vor "während".

Sie sind umrandet von Haut die knittrig ist wie Zellophan.

"...von Haut, die..."

Ihre Haare hängen in schlaffen Strähnen um ihr Gesicht herum. Graue Reben.

Das "herum" würde ich weglassen. Den Vergleich mit "grauen Reben" finde ich sehr gelungen. Sie schließen sowohl die Haare als auch das Gesicht mit ein. Reben, die nach der Blüte und der Reife, grau werden, grau und vertrocknet, knittrig. Schön!

Sie sieht nichts mehr

Hm, von den Augen ist zu Beginn des Absatzes schon die Rede. Ich finde diese Aussage überflüssig oder sie sollte ebenfalls in die Bilder passen, die Du von ihrem restlichen Aussehen zeichnest. Nach "...wie Zellophan...Graue Reben" erscheint mir diese knappe Erklärung zu abgehakt.

Ihre Augen leuchten auf, ich muss lächeln. Sie kann mein Lächeln nicht sehen.

Dazu einige Zeilen später diese Sätze. Ich weiß nicht, ob die Augen von blinden Menschen aufleuchten können, aber ich kann mich hier auf jeden Fall nicht hineinfühlen. Vielleicht könnte ein Strahlen über ihr Gesicht gehen oder sowas, aber dass ausgerechnet die "leeren" Augen leuchten...

Ich sage, Wow, dass muss Liebe gewesen sein.

Das "wow" klein. In den darauffolgenden Sätzen hast Du es so gemacht. Ausserdem steht die wörtliche Rede nicht in Anführungsstrichen.

Ich sage, ich weiß genau was sie meinen.

"Sie" groß schreiben, als Anrede.

und tätschle ihre Hand

"tätschel"

die Krankenschwester teilt die Bedrückung, die dieser Ort in mich hineinbrennt.

"Die" groß.
Teilt die Krankenschwester exakt das Gefühl der Protagonistin oder soll es eher "empfindet die selbe" bedeuten.
"Bedrückung" - hm, gefällt mir nicht. Im Moment kann ich Dir aber auch keinen Vorschlag machen - ich überlege noch weiter.

Ich gehe den Gang entlang, schneller und schneller bis ich hinaus in die Sonne springe und mich auf den Rasen fallen lasse. lasse die Wärme der realen Welt diese langsam tickenden Minuten von mir abkratzen.

Die plötzlich einsetzende Aktivität wird gut eingefangen und in den extremen Gegensatz zum Stillstand im Zimmer aufgezeigt. Gefällt mir sehr gut. Hier fand ich auch die parallelen Satzanfänge und Wiederholungen ("Ich nicke", "Ich starre", "Ich sage") sehr gut gewählt, um die Statik einzufangen, die im Leben der alten Frau vorherrscht.
Ach ja, Wiederholung: die Wortwiederholung von "lasse" finde ich in diesem Absatz nicht gerechtfertigt. Vielleicht könntest Du die Sätze zu einem verschmelzen:
"in die Sonne springe, mich auf den Rasen fallen und die Wärme...von mir abkratzen lasse."

Das Bild, dass "die Wärme der realen Welt diese langsam tickenden Minuten" von der Erzählerin "abkratzen" kann, fand ich zwar einerseits gelungen, also den Gegensatz Wärme des Lebens zu der Kälte des Todes kann ich vollends nachempfinden, wenn ich diese Stelle lese. Aber andererseits stört mich "abkratzen", da ich mir nicht vorstellen kann, wie Wärme kratzen soll. Wärme ist weich, fließend, angenehm - kratzen ist hart, ruckelnd, quietschend. Ein anderes Verb für abkratzen?

Dann gehe ich wieder rein. Ins nächste Zimmer.

Die Unausweichlichkeit des Todes. Sonne, Wärme, Licht bringen Leben, aber der Tod ist gewiss.

Tolle Geschichte, San, bin beeindruckt.

Alles Liebe,
Sylvia

 

Die Geschichte gibt mir was!

Herausgelesen habe ich hier eine Distanz der Protagonistin zu dem, was sie tut. Weshalb, ist mir nicht klar, vielleicht, weil das ihre Aufgabe ist oder weil sie sich moralisch dazu verpflichtet fühlt. Vielleicht wird sie aber auch durch das Urteil eines Jugendgerichtes dazu gezwungen... keine Ahnung.

Sie bringt sich jedenfalls nicht in ihre Arbeit ein, hält innerlichen Abstand. Ob sie ihre Tätigkeit als Qual empfindet, kann ich für mich nicht entscheiden. Dazu macht sie sich zu wenig Gedanken; eigentich denkt sie über die Gegenwart überhaupt nicht nach. Sie ist keinen Moment im Hier und Jetzt. Mir kommt sie eher gelangweilt vor, weil sie das, was ihr gesagt wird nicht bedenkt. Es ist, als wären ihre Ohren auf Durchzug geschaltet.

Das Wort "abkratzen" finde ich gut in seiner Härte, weil es deutlich macht, wie ungerührt die Protagonistin die Berührung mit Tod und Leiden des einen Individuums von sich abschütteln kann, ehe sie sich dem nächsten zuwendet. Mit ebenso wenig Herzlichkeit, nehme ich an.

Bedrückend. Eindringlich. Und leider oft nur allzu wahr.

[Beitrag editiert von: Pipilasovskaya am 10.04.2002 um 09:26]

 

Hi Sandra,
kann durchaus sein, dass ich mich mit Sylvias (Kitanas) Anmerkungen überschneide, aber um die jetzt noch genau zu lesen, fehlt mir die Zeit.
Atmosphäre und Stimmung sind gut eingefangen. Der Schlußsatz degradiert das einzelne Dasein zur beliebigen Nummer, denke ich. Bei den "erfundenen Theorien" hab ich mich gefragt, ob du allgemein was gegen Theorien hast, erinnere mich noch an Kapitalistische Intimität mit den vergänglichen, heulenden Theorien.
Aufgefallen ist mir:

Ich starre so oft ich kann auf den Boden und zähle die grünen und weißen Quadrate.
Hier ist die Verwendung von Kommata zwar optional, würd aber die Lesbarkeit ein wenig erleichtern.
...Ergebnis von vierzig Jahren schleifender Absätze.
Zwar nicht falsch, stieß mir jedoch ein wenig auf, da ich es dreimal lesen musste ( ungewohnte Formulierung ), läßt sich vielleicht stilistisch etwas glätten?
Dinge fühlen ist längst nicht alles, sagt sie.
Der Satz steht sehr isoliert da, die Bedeutung bleibt mehr oder weniger unklar. Außerdem wäre vielleicht besser: "Dinge zu fühlen"?

Erwähnenswert finde ich, das du eine der wenigen Autorinnen bist, die es geschafft hat, der ewigen Wiederholung von "sagte sie" Sinn zu geben. Normalerweise find ich sowas schrecklich.

Sie erzählt es mir während ich sie mit warmen Müsli füttere.
Auch hier könnte ein Komma die Lesbarkeit erhöhen.

Warum die Kommaanbindung bei dem dreimaligen "Ich sage,..."? Wäre nicht der Doppelpunkt weitaus geläufiger, besonders, da die Protagonistin in dem Sinne keine indirekte Rede wiedergibt?

die Krankenschwester teilt die Bedrückung, die dieser Ort in mich hineinbrennt.
Eigentlich muss man dir da nichts mehr zu sagen, oder :) ?
satzanfänge schreibt man groß :D
Die dreimalige Wiederholung von "die" in einem Satz sollte überdacht werden.

lasse die Wärme der realen Welt diese langsam tickenden Minuten von mir abkratzen.
:eek: s.o.

Ich gehe den Gang entlang, schneller und schneller bis ich hinaus in die Sonne springe und mich auf den Rasen fallen lasse.
Nach "schneller und schneller" würd ich ´n Komma setzen.

Dann gehe ich wieder rein.
Der bisherige stil ist zwar im bereich der Umgangssprache, aber das grobe "rein" wirkt für mich im vergleich zur sonstigen Wortwahl etwas zu platt.

So, das war´s. Teilweise sind die Vorschläge natürlich sehr subjektiv, teilweise jedoch, finde ich, durchaus berechtigt- dir scheint gegen Ende der KG ( wg. der Flüchtigkeitsfehler ) ein guter Capuchino gefehlt zu haben... :)
Viele Grüße,
paranova

 

Sylvia&Steffen,

hab euren Vorschlägen entsprechend korrigiert, danke nochmal. Hatte den Text seit 'nem halben Jahr nicht mahr angesehen, in der Zwischenzeit hat sich meine Rechtschreibung wohl verbessert ;)

Grüße,
San

 

Hallo San

Auch ich bin beeindruckt, wie dicht Dir diese Schilderung gelungen ist.
Die Schutzmauer des nicht- auf die Frau-einlassen- könnens/wollens ist absolut glaubhaft rübergekommen.
Auch der dadurch wohl im inneren der Protagonistin entstehende Konflikt, ob sie wohl zu kalt ist, oder ob das Maß der Zuwendung für eine junge, dem Leben näher,als dem Täglich erlebten Sterben stehende Frau genug ist,wird zwischen den Zeilen für mich gut erkennbar.

Ich habe es zweimal gelesen und bin berührt, und angesprochen.

Lord/Arvid

 

Moin San,
da ich die böde Eigenschaft habe deine Geschichten immer falsch zu verstehen, frage ich lieber erstmal nach ;)

Also:
Wer ist die erzählende Person ? Am Anfang dachte ich noch, es wäre die Tochter oder so. Dann kommt irgendwann die Textstelle: "Ich sage, ich weiß genau, was Sie meinen" (Ich gehe mal davon aus, dass das "sie" groß sein sollte)Die Erzählerin siezt also die alte Frau ?
Als sie dann wieder reingeht, allerdings in ein anderes Zimmer dachte ich dann, sie sei wohl ehr so eine Art geistiger Beistand oder so. Richtig ? Vielleicht ihre erste Sterbebegleitung ?

Also ganz allgemein gefällt mir die Geschichte schonmal ganz gut. Besser als "am späten Abend", aber vielleicht hab ich die auch nicht richtig verstanden... :( Die Themen der Geschichten sind auch recht interessant.

[ 17.04.2002, 17:30: Beitrag editiert von: hastdunmotto ]

 
Zuletzt bearbeitet:

Überarbeitete Version, würde mich über weitere Kritiken total freuen, weil ich den Text für ne Bewerbung verwenden will

Linoleum

Ich starre so oft ich kann auf den Boden und zähle die grünen und weißen Quadrate. Das Linoleum ist verschrammt und zerkratzt von unzähligen geschliffenen Absätzen. Ich starre auf den Boden, weil ich sonst sie ansehen müsste.
Gefühle sind längst nicht immer das Wichtigste, sagt sie.
Ich nicke und verfolge die Rillen im Boden mit den Augen. Denke an einen spanischen Gitarristen. Paco de Lucia.
Zu wissen wer du bist, sagt sie, ist auch nicht das Maß aller Dinge.
Ich nicke wieder und versuche, meine Wimpern zu zählen.
Psychologie ist eine Farce, sagt sie. Erfundenes Gerede für ausgedachte Leiden.
Ich nicke wieder.
Außer in meinen Träumen bin ich nie glücklich, sagt sie.
Sie erzählt mir all dies in der Stunde, die ich auf dem harten, orangenen Plastikstuhl neben ihrem Bett verbringe. Sie erzählt es mir, während ich sie mit warmen Müsli füttere. Der Doktor hat gesagt, ihre Geschmacksnerven registrieren nichts mehr, trotzdem weigert sie sich, etwas anderes zu essen als dieses Müsli, ihre Lieblingssorte. Weizenkleie und Rosinen.
Ihre leeren, blauen Augen starren an die Decke. Sie sind umrandet von Haut, die knittrig ist wie Zellophan. Ihre Haare hängen in schlaffen Strähnen um ihr Gesicht. Graue Reben.
Einst traf ich einen Mann, erzählt sie. Das ist Jahre her. Ich traf ihn auf der Landeskirmes, wo ich mit meiner Familie war.
Sie nuschelt.
Er zog mich zur Seite und küsste mich. Er küsste mich so lange! Und dann schubste er mich zurück in die Menge.
Ihre Miene erhellt sich und ich muss lächeln. Sie kann mein Lächeln nicht sehen.
Jeden weiteren Kuss, sagt sie, habe ich mit diesem einen Kuss verglichen. Sogar die von Johann. Johann hat nie so geküsst.
Ich sage, Das muss Liebe gewesen sein.
Ich sage, Ich weiß genau was Sie meinen.
Ich sage, Ja, das ist wahr.
Dann ist die Stunde vorüber, die Krankenschwester kommt herein und nickt mir zu.
Ich stelle die Müslischale zur Seite und tätschle ihre Hand. Bis morgen, sage ich.
Sei ein gutes Mädchen, erwidert sie.
Auch die Schwester spürt das, was dieser Ort in mich hineinbrennt. Ich gehe den Gang entlang, schneller und schneller, bis ich hinaus in die Sonne springe und mich auf den Rasen fallen lasse. Die Wärme meiner Welt taut die langsam tickenden Minuten von mir ab.
Dann gehe ich wieder hinein. Ins nächste Zimmer.

 

Hallo Rabenschwarz,

wenn ich es recht sehe, hast du in deiner neuen Version so arg viel nicht geändert.

Ganz grundsätzlich vorneweg möchte ich sagen, dass mir dein Text gefallen hat, weil er Dichte und Tiefe hat.
Ohne es auszusprechen, hast du diesen Generationsunterschied einer blutjungen Frau zu einer wohl im Sterben liegenden dargestellt.
Mir hat diese Vielschichtigkeit gefallen, die ich darin sehe, dass die eine ans Bett gefesselt ist, die andere an den Stuhl. Irgendwie sind sie beide Gefangene ihrer Situation.

Gut auch die verschiedenen Ebenen auf denen sich die beiden mündlich austauschen. Die Alte bringt ihre Lebensweisheiten, die Junge hört gar nicht hin.
Gute und gelungene Momentaufnahme unserer heutigen Zeit.

Wenn ich in den folgenden Punkten dasjenige aufzeige, was mir nicht so gefallen hat, dann nur deshalb, weil ich glaube, an einigen Stellen könntest du perfekter werden.

Zunächst hat mich der Ausdruck des spanischen Gitarristen gestört. Nein, eigentlich der gar nicht, denn damit kommt eindringliche Musik ins Ohr. El Mariachi jedoch paßt nicht! Ein Mariachi ist immer ein mexikanischer Musiker und mir klingen bei dem Begriff, die häufig etwas blechern schräge klingenden Mariachi-Trompeten im Ohr. Also ein Widerspruch, den du nicht erzielen wolltest, ein spanischer Gitarrist und ein mexikanischer Name.
Vielleicht läßt du einfach El Mariachi weg. Wenn du unbedingt einen guten spanischen Gitarristen in deinem Text aufführen willst, dann könntest du z.B. Paco de Lucia nehmen oder Pepe Romero.

Dann finde ich diesen Satz etwas unklar:
"Ihre leeren blauen Augen starren durch die Decke."

Ich bin da ein wenig hängengeblieben beim Lesen, weil ich mir überlegen mußte, welche Decke du meintest.

Sicherlich die Zimmerdecke, aber es gäbe auch noch die Bettdecke. So ideal formuliert finde ich das eh nicht, denn es soll wohl diese Leere und dennoch Fixierung eines speziellen Punktes darstellen. Ich meine zu ahnen, was du ausdrücken möchtest.

Aber wäre es so schlimm, wenn ihre leeren blauen Augen einfach nur an die Zimmerdecke starren? Damit ist doch genauso gut diese Hilflosigkeit einer Bettlägerigen ausgedrückt.
Nur so als Vorschlag natürlich.

Als nächsten Punkt hab ich die "grauen Reben". Da hat mir eindeutig die Formulierung in Version 1 besser gefallen.

Dann habe ich an dieser Stelle lange nachdenken müssen, ob ich sie dir als verbesserungswürdig vorhalte. Letztendlich es aber dann doch wieder verworfen, nur möchte ich es dich wenigstens wissen lassen:
"Ich sage, Das muss Liebe gewesen sein.
Ich sage, Ich weiß genau was Sie meinen.
Ich sage, Ja, das ist wahr."

Zunächst wollte ich nämlich kritisieren, dass diese drei Sätze etwas sehr unvermittelt kommen, die Protagonistin nickt doch nur die ganze Zeit, sperrt sich und weigert sich, ein Gespräch anzufangen und dann platzt sie gleich mit drei Sätzen auf einmal los.
Aber ich denke, genau das soll so sein.
Erst als die beiden einen wirklichen Berührungspunkt haben, nämlich die Liebe, da ist auch die Protagonistin in der Lage sich zu beteiligen, da wacht auch sie auf. Es ist also ok so.

An dieser Stelle empfinde ich es so, dass du wertest, ohne darzustellen:
"Auch die Schwester spürt das Bedrückende..."

Wie erkennt man das Bedrückende? Verbündet sich die Schwester mit der Protagonistin, indem sie sie angrinst während die Protagonistin lächelt, weil sie nun erlöst ist? Oder sagt die Schwester sogar: "So, nun erlös ich Sie mal, die Stunde ist um."? Runzelt sie die Stirn? Schaut sie skeptisch? Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.


Und zum Schluß fand ich " die Wärme meiner Welt" nicht so gelungen formuliert. Reicht nicht auch hier die Wärme der Sonne? Der Satz würde dann lauten: Die Wärme kratzt die langsam tickenden Minuten von mir ab.

Und dann ist Wärme nicht in der Lage zu kratzen. Sie ist in der Lage zu trocknen und dann kann etwas abplatzen. Aber mir fällt leider keine bessere Formulierung, die ich dir vorschlagen könnte ein.

So, jetzt hab ich genug rumgemäkelt und möchte nochmals wiederholen, dass ich die Geschichte schon so wie sie dasteht gut finde und meine Kritikpunkte nur noch kleine Verbesserungsanregungen sein sollen.

Lieben Gruß
lakita

 

hi San,

wenn es was zu bedeuten hat, dass beim Allegra-Wettbewerb letztes Jahr ein Text mit einem ganz ähnlichen Inhalt (allerdings weit umfangreicher) den ersten Preis gewann, dürfte Deine KG einen guten Eindruck hinterlassen, wofür Du Dich da auch immer bewirbst. Vermutlich kommt es bei den Prüfern auch noch gut an, wenn sich junge Menschen mit ernsten Themen auseinandersetzen und es sich dabei auch noch um Generationskonflikte handelt. Vielleicht hast Du ja mit denselben Gedanken gerade diesen Text hier ausgewählt.

Was bei mir bei Linoleum den größten Eindruck hinterließ war zum einen natürlich die Erinnerung an den letztlich für beide Frauen bevorstehenden Tod, lediglich um einige Jahrzehnte voneinander getrennt, aber nicht gelöst.

Zum anderen fällt besonders ins Auge, dass als einziges gemeinsames Gesprächsthema der beiden die Liebe bleibt (kein anderes). Hier können und wollen beide mitreden und nicht mehr (wie die junge Frau) in andere Gedanken abgleiten, wie noch eben zuvor. Sehr schön wird dieser erste und einzige Kontakt der beiden durch die Alliteration "Ich sagte..." hervorgehoben.

Vom technischen Standpunkt aus schreibst Du, wie nicht selten bei Deinen Texten, gewohnt dicht. Manche Sätze erinnern eher an Lyrik als an Prosa. Damit begibst Du Dich auf recht dünnes Eis, denn bei Deinem sparsamen Umgang mit Worten müssen wenige Begriffe die ganze Last der beabsichtigten Atmosphäre, der Bedeutungen und schließlich der Aussage tragen. Manchesmal erscheint mir bei Deinen Texten diese Last an manchen Stellen zu hoch - oder die entsprechenden Worte zu schwach.

Zu den Details:

Ergebnis unzähliger schleifender Absätze
Absätze schleifen nicht, sie werden geschliffen. Würde aber das Schleifen wie auch "Ergebnis" weglassen oder umformulieren. (bei letzterer Option vielleicht die schon viele Jahre währende Zeit des Verschleißes hervorheben - immerhin gibt das leidgeprüfte Linoleum der Geschichte ihren Titel!)
Erfundenes Gerede für ausgedachte Leiden.
Guter Satz.
Weizenkleie und Rosinen.
Fehlte in der alten Version - zurecht.
Ihre leeren blauen Augen...
Komma nach "leeren" da Aufzählung (von Adjektiven).
Ihre Haare hängen wie graube Reben...
Entweder die "Reben" oder die "Strähnen" raus. Beides zusammen wirkt überladen.
Ihre Worte sind nuschelig.
Ähnlich wie schon oben: Worte können gar nicht nuschelig sind. Sie werden nuschelig ausgesprochen.
Auch die Schwester spürt das Bedrückende,
Wie schon lakita meinte ist dieser Satz ein wenig problematisch, da Du diesem subjektiven Eindruck ein argumentativer Bezugspunkt fehlt. Er wirkt aus der Luft gegriffen (obgleich er natürlich in die beabsichtigte Atmosphäre passt).

Dann noch zum schon öfters hier angesprochenen Satz

Die Wärme meiner Welt kratzt die langsam tickenden Minuten von mir ab.
Es spielt keine Rolle, ob es nun die "Wärme", die "Kälte" oder sonstwas in ihrer "Welt" ist, dass "die Minuten" von ihr "abkratzt". So einfallsreich sich dieser Satz auch anhört: Sie selbst ist es nicht, die ihre Lebenszeit ablaufen lässt. Ein Satz wie dieser täuscht vor, dass sie vielleicht lediglich ihren Lebenstil oder ihre Mentalität zu ändern bräuchte - schon würden die "Minuten" nicht mehr verstreichen. Das ist natürlich Unfug.
Dennoch kommt diesem Satz jedoch eine Schlüsselrolle zu: Auch ihre Lebenszeit verstreicht (wie diejenige, der alten Frau). Aber auf diese Weise formuliert erscheint er mir angesichts seiner Aufgabe doch eher aus dem Ruder zu laufen.


Achja: Schon mal viel Glück bei der Bewerbung! :)

lieben gruß
philo

 

Vielen Dank euch beiden und dito zu so gut wie allen Punkten. Stimmt schon, so viel habe ich nicht geändert, trotzdem war allein dieser Text gestern nen halben Tag lang unterm Korrekturhammer. Und die Stellen, die ihr angesprochen habt, waren genau die, die ich noch angestrichen hatte, bei denen ich mir aber auch nicht so richtig sicher war. Jetzt bin ich's :) Außer bei dem Gitarristen, habe immer geglaubt, das wär ein spanischer, danke für die Vorschläge lakita, werde einfach einen von deinen nehmen.

Ja, der Text hat schon irgendwie etwas Lyrisches, soll er auch haben. Gerade deswegen sind die Korrekturen so verflixt schwierig, hier spielt sogar eine Art Metrum eine Rolle, zwar nicht als Gesamtheit, aber Satz für Satz. Werde das Baby trotzdem heute zu Ende biegen, denn es warten noch so fünf, sechs Texte...und ich hab mir vorgenommen, bis spätestens Mittwoch fertig zu werden...

Danke nochmal, war wirklich extrem hilfreich!
Sandra

 

Sorry, ich war's natürlich.

Hab den letzten Abschnitt mal folgendermaßen geändert:

Auch die Schwester spürt das, was dieser Ort in mich hineinbrennt. Ich gehe den Gang entlang, schneller und schneller, bis ich hinaus in die Sonne springe und mich auf den Rasen fallen lasse. Die Wärme meiner Welt taut die langsam tickenden Minuten an mir auf.

'Das' als Ersatz für 'das Bedrückende' ist sprachlich nicht gerade ein Highlight, aber ein einfacher Artikel ist im Prinzip doch das Wertneutralste, was es gibt? Und was haltet ihr von 'abtauen' statt 'abkratzen'?

 

Hi San,

ich denk nochmals darüber nach.
Der Satz mit der Schwester ist wesentlich besser geworden. Aber mich stört nun (irgendwas ist ja immer), dass du hineinbrennen nimmst (dass ist ok) jedoch im nächsten Satz auftauen. Das ist widersprüchlich wirkt dadurch unrund.
Ich habe schon gedacht, du läßt den Satz einfach weg. Jeder weiß, dass diese Frau auf dem Rasen in der Sonne nun etwas auftankt, wieder Kraft schöpft, damit sie die nächste Person durchhält, erträgt, aushält.

 

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