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Linie 58
Die Zeit läuft mir davon, dachte Ben, verdammter Zug, komm endlich!
Er war immer noch schweißnass und Seitenstiche nahmen ihm die Luft.
Sein Blick ging immer wieder nervös zur Treppe, die in den Bahnhof führte. Für ihn war sie das Tor zum Verhängnis.
In der Ferne waren nun die Scheinwerfer des Zuges zu erkennen, sie krochen bedrückend langsam in Richtung Bahnsteig.
Schneller!
Die Reisetasche in seinen schwitzigen Händen fühlte sich an, als handle es sich dabei um eine Bombe. Er wollte sie so schnell wie möglich loswerden. Die Anzeige schlug und die Durchsage kündigte den nächsten Zug an, Linie 58 Richtung Berlin.
Mit quietschenden Bremsen kam die Maschinerie zum Stillstand. Ben kamen die Sekunden bis zum erlösenden Zischen der Doppeltüren wie Stunden vor.
Komm schon!
Mit flauem Magen trat er ein.
Alles wird gut, Ben, nur nicht ausrasten…
Er versuchte einen desinteressierten Gesichtsausdruck beizubehalten, obwohl sein Inneres einem wirbelnden Sturm glich. Er hätte eine Welt für eine Zigarette gegeben, obwohl er bereits seit zwei Jahren nicht mehr rauchte. Ben zwang sich zur Ruhe.
Cool bleiben…
Die Abteile waren zum größten Teil leer, dennoch wählte Ben das Hinterste. Seine Finger umklammerten die Taschengriffe, als könnten sie sich jede Sekunde losreißen. Nervös schielte er aus dem Fenster. Keine Polizei, das war ein gutes Zeichen. Entweder er hatte sie abgehängt oder sie suchten woanders.
Das Verlangen nach einer Zigarette schwand wieder. Sein Griff um die Tasche lockerte sich nicht. Motoren setzten sich in Bewegung und der Bahnsteig zog vorbei.
Baum… Baum…
Entspann dich, Ben, du hast einen harten Tag hinter dir, würde seine Großtante jetzt sagen. Seine Eltern waren schon früh gestorben.
Baum… Baum…
Ben unterdrückte ein Gähnen. Schließlich nickte er ein.
Lust auf ein Wettrennen, Ben?, flüsterte eine Stimme, Ben kannte sie nicht. Bevor er näher darüber nachdenken konnte, überlagerte ein entsetzliches Kreischen die Stimmen in seinem Kopf.
Keuchend erwachte er.
„ … Linie 58 endet hier“, ertönte die Stimme der Ansage.
Scheiße! Ich hätte nicht einschlafen dürfen, dachte Ben.
Er zitterte, es war merklich kälter geworden. Wahrscheinlich hatten sie die Heizung abgestellt. Er verließ das Abteil und sah sich um, die Tasche immer noch in der Hand. Hatten sie ihn letztendlich doch gefasst? Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Er musste hier raus.
Zischend entwich die Luft nach draußen, als die Türen sich öffneten. Unentschlossen blieb Ben stehen und inspizierte den Bahnhof. Keine Polizei und auch sonst niemand.
Er zuckte zusammen, als sein Telefon klingelte.
Sie haben eine neue Nachricht.
Ben starrte auf das Display.
Lust auf ein Wettrennen, Ben?
Er drückte die Rückruftaste, doch nichts als Rauschen drang an sein Ohr.
„Ist da irgendwer?“. Die Maschinerie des Zuges setzte sich wieder in Gang und Ben sprang hastig heraus. Sein Echo verklang in der Ferne. Auf der Anzeigetafel war kein weiterer Zug angeschlagen und einen Fahrplan fand Ben auch nirgendwo. Vor ihm befand sich ein Stadtplan. Ben wählte eine Nummer im Speicher und wartete.
„Ja?“, fragte jemand.
„Chris? Ah gut, sehr gut! Der Coup ist glatt verlaufen. Die Bullen hab ich abgehängt und war schon auf dem Weg nach Berlin. Allerdings habe ich meinen Ausstieg verpasst und bin in irgend so einem gottverdammten Kaff gelandet! Könnt ihr mich abholen in…“
Der Stadtplan verschwamm vor seinen Augen. Farben und Schrift verliefen in einem Strom aus Dunkelheit, der wie ein schwarzes Loch auf dem Fahrplan wütete.
„Das ist doch nicht möglich“, murmelte er. Seine Hand berührte die rotierende Fläche und glitt hindurch. Es wurde kalt, eiskalt. Ihm entfuhr ein erstickter Schrei. Mit aller Kraft zog Ben seinen Arm zurück und der Schmerz hörte auf.
Seine Hand war rot und zitterte.
„Verdammte Scheiße!“. Als er wieder aufblickte war der Stadtplan verschwunden, vor ihm war nur eine kahle weiße Wand.
„Ben, du Trottel, bist du noch d-…“
Das Display wurde schwarz.
„Scheiß Teil!“
Ben betrachtete die Treppe und den dunklen Schlund, in den sie hinabführte. Immer noch fröstelnd nahm er eine Stableuchte hervor und stieg, die Lampe in der Einen, die Reisetasche in der Anderen die Treppe hinunter.
Kein Fahrgast, kein Angestellter, nicht mal ein Obdachloser.
Ein Geräusch ließ Ben herumfahren. Nichts. Es roch modrig.
Erleichtert atmete er aus. Wohl nur eine Taube. Dann hörte er schlurfende Schritte und ein Stöhnen.
„Ist da wer?“. Das Geräusch kam näher und klang bedrohlich. Es hörte sich an, als würde die Person, die Kreatur, etwas hinter sich herschleifen. Etwas Metallenes. Nichts Gutes. Furcht packte ihn und er begann zu rennen.
Bloß nicht umdrehen, ich will es nicht sehen, ich will es nicht sehen!
Die Reisetasche schlug ihm in die Kniekehlen, doch Ben ignorierte es. Er wollte weg, einfach weg. Immer wieder tauchte ein leuchtend grünes „Exit“ Schild vor ihm auf. Er folgte den Pfeilen, doch der Gang wollte nicht enden.
Dort! Endlich eine Tür. Das Stöhnen war nur noch in der Ferne zu hören. Er hatte Boden gut gemacht. Hinter Schaufensterscheiben ruhten die vergilbten Überreste von Zeitschriften. Ben würdigte sie keines Blickes. Er trat gegen die Tür, sie schwang ohne Widerstand auf. Ben ging hinein und schloss die Tür hinter sich.
Sie schlug mit einem befriedigenden Knall zu.
Du bist dem Boogieman entkommen, Ben, dachte er und lachte unwillkürlich. Die Lampe ging aus.
„Scheiße!“. Er schlug auf das Gehäuse. Plötzlich ging das Licht an. Der Raum war nun hell erleuchtet und auch die Taschenlampe funktionierte wieder.
Er stand in einem Kiosk, neben ihm rotierte mit dem Summen eines Elektromotors ein Zeitschriftenständer.
An der Ladentheke befanden sich Süß- und Tabakwaren und ein Fernseher war über dem Regal befestigt. Das Verlangen nach einer Zigarette stieg wieder in ihm auf. Es war wie ein Kobold in seinem Inneren, der ihn solange kitzelte bis er bekam was er wollte. Vor einem Jahr hätte er noch widerstehen können, doch nun … die Zustände waren zu paradox. Der Verkäufer war abwesend, also schnappte Ben sich eine Packung.
Wieder hörte er die anklagende Stimme seiner Großtante: Die sind nicht gut für dich, Junge, davon kriegt man Krebs, sonst nichts.
"Das ist das letzte Mal!", versprach er sich und seiner Großtante. Im Fernsehen sprach gerade eine attraktive Frau von einem Banküberfall. Gut, sie hatten sie nicht erkannt. Es war alles glatt gelaufen. Sie waren verschwunden, ehe die Bullen kamen. Wäre die verdammte Streife nicht gewesen, würden sie jetzt zusammen in Berlin mit einem Bier auf den Erfolg anstoßen. Stattdessen irrte er in diesem verlassenen Bahnhof herum. Es war verrückt.
„Kann ich Ihnen helfen?“. Ben zuckte zusammen. Hinter ihm stand der Verkäufer. Er hatte ein beinahe noch jugendliches Gesicht.
„Sie haben mich zu Tode erschreckt!“
„Wirklich? Wenn ich das schon tue, stellen Sie sich auf einen kurzen Aufenthalt ein.“
„Wie bitte?“
„Sie spielen ein Spiel, Ben. Entscheiden Sie weise, was Sie tun.“
„Was redest du da für eine Scheiße, Mann!“. Er holte eine Pistole hervor. „Sag mir sofort wo ich hier bin und was das Alles soll!“
„Sonst was?“
„Sonst…“
„Sie sind schwach, Ben. Sie sind alle schwach. Sie haben Fehler begangen aus Schwäche.“
„Ich hatte keine Wahl. Die Mafia hätte mich getötet, wenn ich ihr das Geld nicht besorgt hätte.“
„Immer haben sie keine Wahl. Es gibt immer eine Wahl.“
„Verschon mich mit dem Scheiß, sonst…“
„Erschießen Sie mich, Ben?“. Er lachte, es klang tief und unwirklich.
Seine Hand zitterte und krachend löste sich ein Schuss. Die Wunde schwelte, aber es trat kein Blut aus. Er stand nur da mit verschränkten Armen und grinste. Scheiße, er darf nicht grinsen, er muss tot sein.
„Der Tod bedeutet hier unten nichts, Ben.“
Da war eine Stimme, sie war lauter als zuvor. Ben brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass er die Nachrichtensprecherin hörte. Ben stand da, wie gelähmt und starrte auf den Bildschirm. Die Pistole fiel ihm aus den kraftlosen Händen und er sank auf die Knie.
„Nein … Nein.“
„…Heute, um 23:50 Uhr ist die Linie 58 entgleist. Das Feuer wütete mehrere Stunden und erschwerte die Arbeit der Rettungskräfte. Die Suche nach Überlebenden dauert noch an, doch laut Pressesprecher Rengard besteht kaum Hoffnung. Unter anderem wurde in den Trümmern bereits eine zerfetzte Reisetasche mit den Überresten von mehreren hunderttausend Euro gefunden, die man mit dem kürzlichen Überfall in Verbindung brachte…“
Ben riss die Tasche auf. Ascheflocken und beißender Rauch schlugen ihm entgegen.
„Nein… Das kann nicht… Das kann nicht real sein.“
„Sie kommen, Ben.“
Von draußen waren nun Stimmen und Gestöhne zu hören.
Ben drehte sich um und verließ den Kiosk. Die Realität war für ihn nur noch ein trüber Schleier.
„Nein…Nein“, murmelte er immerzu.
Die Stimmen und Geräusche drangen näher. Bens Telefon klingelte. Neue Nachricht.
Lust auf ein Wettrennen, Ben?
Er begann zu rennen und folgte immer den grün leuchtenden Schildern auf denen Exit stand. Doch es kam keiner. Die Stimmen und Geräusche holten immer mehr auf. Sein Atem ging stoßweise. Lange würde er diese Hetzjagd nicht mehr durchhalten.
Da eine Tür!
Die Aufschrift war nur noch schwach zu erkennen: „Lagerraum“
Ein Lagerraum, Sackgasse. Immer noch besser, als draußen zu sein, dachte Ben und betrat den Raum.
Es war dunkel und roch eigenartig. Die Stimmen und Geräusche wurden leiser und seine Aufregung verblasste ein wenig. Was hätte er nur für eine Zigarette gegeben. Dann fiel es ihm wieder ein, er hatte im Kiosk eine Packung mitgehen lassen. Er suchte in seiner Jackentasche und nahm die rote Schachtel hervor. Ben hielt sie mit beiden Händen. Er zitterte so stark, dass er befürchtete sie fallen so lassen.
Der Kobold zwickte und biss ihn. Tu es!
Seine Augen gewöhnten sich langsam an das dämmerige Licht, das durch ein kleines Fenster in den Raum schien. Zu klein für eine Flucht. Dennoch war Ben erleichtert. Er schob sich immer noch zitternd eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie roch angenehm nach Tabak. Während er versuchte das Feuerzeug zu entzünden, fiel sein Blick auf die Zigarettenschachtel. Dort wo sonst immer die abschreckenden Warnungen gedruckt waren, stand:
Es gibt immer eine Wahl, Ben
„Scheiße!“, entfuhr es ihm. Sein Daumen zuckte über das Feuerzeug. Es schlug Funken und entzündete das Gas…
Ende